Do 12.12.2024
Dieser Artikel wurde zuerst am 9.12.2024 auf der Website des Projekts für eine revolutinäre marxistische Internationale veröffentlicht.
Die brutale, über ein halbes Jahrhundert währende Assad-Diktatur in Syrien ist gestürzt. Tausende politische Gefangene konnten endlich wieder mit ihren Familien vereint werden – viele von ihnen galten jahrelang als tot. Millionen weitere intern Vertriebene feiern die Wiedervereinigung mit ihren Angehörigen. Die Befreiung vom Würgegriff der Angst zeigt sich deutlich auf den Straßen Syriens und unter den Mitgliedern der Diaspora.
Doch während die Euphorie langsam abebbt, fragen sich viele mit vorsichtiger Hoffnung, was die Zukunft bringen wird. Kann das Kapitel der gescheiterten syrischen Revolution nun endlich als abgeschlossen betrachtet werden? Obwohl vieles noch unklar ist, zeigt die Geschichte, dass der Aufbau von echten und politisierten Arbeiter*innen-Organisationen entscheidend sein wird. Nur eine solche Massenbewegung, gestärkt durch die Lehren von 2011, könnte eine echte Alternative zu Hayat Tahrir al-Sham (HTS), allen reaktionären Kräften und den imperialistischen Mächten darstellen. Der Aufbau einer wirklich freien, demokratischen und gerechten Gesellschaft erfordert die Einheit der arbeitenden und armen Massen Syriens. Es gilt, gegen alle Formen von Sektierertum und Unterdrückung zu kämpfen und die Revolution so weit voranzutreiben, dass auch die wirtschaftliche Diktatur des Kapitalismus und seiner imperialistischen Vertreter überwunden wird.
Das verhasste Regime des Diktators Baschar al-Assad brach spektakulär zusammen, als die militärischen Kräfte einer von HTS angeführten Koalition in einer Blitzoffensive die Städte Aleppo, Hama und Homs eroberten und schließlich Damaskus erreichten – und das alles in nur elf Tagen. Auf ihrem Weg schienen sich die Truppen des Regimes einfach in Luft aufzulösen. In Damaskus skandierten Menschenmengen: „Assad ist weg, Homs ist frei.“ Doch trotz der Erleichterung und Freude gibt es unter Teilen der syrischen Bevölkerung auch Sorgen und Ängste, was die Zukunft bringen könnte. Bereits jetzt werden die autonomen Gebiete in Syrisch-Kurdistan von türkisch unterstützten Angriffen getroffen. Der Umgang der neuen Machthaber mit den Rechten von Frauen und Kurd*innen wird wegweisend dafür sein, was noch bevorsteht.
In vielen Orten scheinen die bewaffneten Oppositionskräfte von jubelnden Unterstützer*innen empfangen worden zu sein und stießen auf kaum zivilen oder militärischen Widerstand. Bei ihrem Einzug in Damaskus befreiten sie die Gefangenen des berüchtigten Sednaya-Militärgefängnisses, das für grausame Folterungen an Oppositionellen berüchtigt war. Die Botschaft des Iran, ein zentraler Unterstützer des Regimes, wurde geplündert, während HTS-Kämpfer den Präsidentenpalast betraten und sich dabei fotografieren ließen, wie sie hinter Assads Schreibtisch saßen.
Berichten zufolge kehren einige der Millionen Syrer*innen, die ins Ausland fliehen mussten, bereits zurück. Gleichzeitig nutzen rechtsgerichtete und rechtsextreme Kräfte den Moment zynisch, um ihre rassistischen Agenden voranzutreiben. Deutschland, Österreich, Griechenland und Zypern haben bereits die Bearbeitung von Asylanträgen aus Syrien ausgesetzt, und in Deutschland drohen Abschiebungen von bereits hier lebenden Geflüchteten. Dies muss entschieden abgelehnt werden. Syrer*innen und alle Geflüchteten müssen das freiwillige Recht haben, zurückzukehren oder in ihrem neuen Wohnort mit vollen Rechten und ohne Diskriminierung zu bleiben.
Die syrischen Botschaften in Istanbul, Athen und sogar Moskau zeigen bereits die Flagge der Opposition. Nachbarländer verstärken ihre Grenzsicherung. Die libanesische Armee hat militärische Einheiten entsandt, um ihre nördlichen und östlichen Grenzen zu „schützen“, während die israelische Armee Truppen und Panzer über die besetzte Pufferzone der Golanhöhen hinaus entsandt hat. Es ist das erste Mal seit 1973, dass Israel offiziell in syrisches Territorium eindringt. Laut der israelischen Zeitung „Maariv“ beschießt die israelische Armee das Dorf Barika in der Pufferzone, um Kämpfer von der Grenze fernzuhalten.
Assad verließ Damaskus an Bord eines russischen Iljuschin-Flugzeugs, das später in niedriger Höhe flog, bevor es vom Radar verschwand – offenbar ein Manöver, um die Flucht zu verschleiern. Russische Quellen bestätigten inzwischen, dass Assad und seine Familie in Moskau politisches Asyl erhalten haben.
Die Macht wurde laut einer Erklärung des HTS-Kommandeurs al-Julani vorübergehend an den amtierenden Premierminister al-Jalali übergeben, der alle staatlichen Institutionen bis zur offiziellen Übergabe beaufsichtigen soll. In den ersten Sendungen des syrischen Fernsehens verkündete die Opposition triumphierend: „Wir haben gewonnen und das kriminelle Assad-Regime gestürzt.“ Doch trotz aller Rhetorik über die Befreiung des Landes scheint HTS bereit zu sein, mit einem von Assad ernannten Premierminister zusammenzuarbeiten, um einen „geordneten“ Übergang von oben sicherzustellen. Dies sollte als Warnung dienen: HTS möchte verhindern, dass das syrische Volk seine Zukunft selbst gestaltet.
Al-Julani bemüht sich offensichtlich, sich als ziviler, im Westen akzeptabler Staatsmann zu präsentieren – er signalisiert, dass er eine verlässliche Hand für die Schaffung einer neuen Ordnung sein könnte, eingebettet in die Spannungen zwischen den imperialistischen Mächten. Seine Predigten von Toleranz gegenüber allen ethnischen und religiösen Gruppen sowie der Verzicht auf Rache könnten, wenn sie in die Tat umgesetzt werden, eine ersehnte Atempause bedeuten. Doch die inneren Widersprüche, die aus der Notwendigkeit resultieren, sich zwischen imperialistischen und regionalen Mächten zu arrangieren, zeigen sich bereits in den türkischen Angriffen auf die autonomen Gebiete in Syrisch-Kurdistan. Und die bisherige Herrschaft von HTS in der Provinz Idlib lässt auf die Gefahr eines repressiven, rechtsgerichteten und fundamentalistischen Regimes schließen – es sei denn, Arbeiter*innen und Arme organisieren sich, um dies zu verhindern.
Wer war Assad?
Die Baath-Partei („Arabische ‚Sozialistische‘ Baath-Partei“) kam 1963 im Zuge der sogenannten „Revolution vom 8. März“ an die Macht, die jedoch eher einem Militärputsch glich, auch wenn sie gewisse populäre Unterstützung genoss. In dieser Zeit strebten Massen in vielen Ländern, deren Volkswirtschaften durch jahrzehntelange imperialistische Ausbeutung geschwächt worden waren, nach revolutionären Veränderungen. In Ermangelung echter revolutionärer Massenbewegungen der Linken nutzten Teile des Militärs diese Lage und stützten sich auf die Unterstützung der Sowjetunion, um die Macht zu ergreifen. Das daraus resultierende Einparteien- und Polizeiregime übernahm autoritäre Methoden der sowjetischen Bürokratie, erlangte jedoch durch die Verstaatlichung der Wirtschaft und die Verbesserung der Lebensstandards eine gewisse Legitimität.
Hafez al-Assad, der Vater von Baschar al-Assad, war ein aktiver Teilnehmer am Putsch von 1963 und spielte 1966 eine Schlüsselrolle bei einem weiteren Putsch innerhalb der herrschenden Elite. 1970 führte er einen dritten Putsch an, der ihn schließlich zum Präsidenten machte. Obwohl er sich weiterhin auf die Sowjetunion stützte, zeigte er sich „pragmatischer“ im Umgang mit Privateigentum, was die Vorteile der staatlichen Planung untergrub. Zudem führte er religiös motivierte sektiererische Spaltungen in die staatlichen Strukturen ein. Nach seinem Tod im Jahr 2000 folgte ihm sein Sohn Baschar al-Assad an die Macht.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 führte dazu, dass Hafez Syrien zunehmend dem globalen Kapitalismus öffnete – ein Prozess, der unter Baschar al-Assad noch verstärkt wurde. Die Privatisierung von Staatsbetrieben, Sparmaßnahmen, Massenarbeitslosigkeit und eine erschreckende Ungleichheit, gekoppelt mit der raschen Anhäufung von Reichtum in den Händen der herrschenden Familie und einer kleinen Elite, trugen maßgeblich zu den Massenprotesten bei, die 2011 in Syrien ausbrachen. Diese Proteste waren Teil der revolutionären Welle, die sich über Nordafrika und den Nahen Osten erstreckte.
Obwohl Baschar al-Assad nicht die persönliche Autorität seines Vaters genoss, behielt er 2011 die Loyalität der zentralen Institutionen des Regimes. Diese spielten eine entscheidende Rolle bei der brutalen Niederschlagung des Aufstands, die zunehmend eine sektiererische Komponente annahm, da alawitisch dominierte Kräfte gegen mehrheitlich sunnitische Oppositionsgebiete eingesetzt wurden.
Der Revolution von 2011 mangelte es weder an heroischem Einsatz noch an Massenunterstützung. Doch die jahrzehntelange Ausnutzung sektiererischer Spaltungen durch das Regime – basierend auf Angst und Patronagenetzwerken – führte dazu, dass die Unterstützung in den verschiedenen Communities nicht einheitlich war. Eine erfolgreiche Revolution hätte jedoch den Sturz des Assad-Regimes, die Auflösung aller repressiven Institutionen, die Vertreibung aller imperialistischen Kräfte aus Syrien und die Ersetzung kapitalistischer Ausbeutung durch sozialistische Planung erfordert. Diese hätte durch demokratisch gewählte Strukturen erfolgen müssen, die die arbeitende Klasse und die Armen aller ethnischen Gruppen, Geschlechter und Glaubensrichtungen vereinen.
Doch keine politische Kraft – auch keine kleinere – artikulierte ein solches Programm. Die Gewerkschaften spielten ebenfalls keine bedeutende Rolle in der Opposition, da sie über Jahrzehnte entweder zerschlagen oder in den Staatsapparat integriert worden waren. Die Syrische Generalföderation der Gewerkschaften (SGFTU), der wichtigste „Gewerkschaftsverband“ des Landes, fungierte als verlängerter Arm des Regimes und erstickte das Potenzial der Arbeiter*innenbewegung, eine unabhängige Rolle im Aufstand zu spielen.
Stattdessen blieb die Macht in den Händen von Assads korrupter Elite. Das Land versank im Bürger*innenkrieg, in dem verschiedene imperialistische (türkische, US-amerikanische, russische, iranische und andere) und religiöse Kräfte intervenierten. Das Regime setzte brutale Gewalt gegen die Bevölkerung ein, einschließlich chemischer Waffen. Der Krieg forderte über eine halbe Million Todesopfer und führte zur größten Vertreibungskrise in der Geschichte: Über 13 Millionen Syrer*innen – mehr als die Hälfte der Vorkriegsbevölkerung – wurden entweder innerhalb des Landes oder ins Ausland vertrieben.
Anfangs bildete sich die „Freie Syrische Armee“ (FSA) aus desertierten Armeeoffizieren, die mit der Opposition sympathisierten. Von Beginn an fehlte ihr jedoch eine einheitliche Kommandostruktur, und sie war eher ein loses Bündnis verschiedener bewaffneter Gruppen als eine zentralisierte Armee. Sie rief zum Sturz Assads und zum Übergang zu einem pluralistischen demokratischen Staat auf. Ihre Strategie hatte jedoch nichts mit einer echten sozialen Revolution gemein; sie setzte auf Guerillataktiken, um das Regime zu untergraben, und war dabei auf die Unterstützung westlicher und regionaler Mächte angewiesen. Doch der Westen verfolgte eigene Interessen.
Die Intervention des Iran, der das Regime durch Milizen stärkte, sowie die finanzielle und militärische Unterstützung islamistischer Gruppen durch sunnitische Regime wie Saudi-Arabien, Katar und die Türkei, verschärften die sektiererischen Spaltungen im Land. Die Position der Freien Syrischen Armee wurde zunehmend geschwächt. Der Bürger*innenkrieg entwickelte sich zu einem multivektoriellen Konflikt zwischen verschiedenen Milizen, die die Interessen konkurrierender imperialistischer Mächte vertraten oder unter der Kontrolle religiöser Fundamentalisten standen.
Die militärische Intervention Russlands ab September 2015, offiziell zur Bekämpfung des „Islamischen Staates“ (Daesh), richtete sich hauptsächlich gegen die vom US-Imperialismus unterstützten Kräfte der FSA und spielte eine entscheidende Rolle bei der Stabilisierung des Assad-Regimes. Ohne die Unterstützung Russlands und Irans wäre das Baath-Regime längst zusammengebrochen.
Laut einer Analyse der Publikation Syria Direct befindet sich die syrische Wirtschaft seit 2011 im freien Fall. Das syrische Pfund hat 99,64 % seines Wertes gegenüber dem Dollar verloren, wobei der Niedergang in den letzten Jahren eskaliert ist. Es kostet inzwischen mehr, einen Geldschein zu drucken, als er tatsächlich wert ist. Bis zu 90 % der Bevölkerung leben in Armut und sind meist auf Überweisungen von Verwandten im Ausland angewiesen. Die unmenschliche Politik westlicher Regierungen gegenüber syrischen Geflüchteten hat der Bevölkerung nicht geholfen, während die westlichen Sanktionen lediglich dazu beigetragen haben, dass Assad ein enges Netzwerk korrupter Gefolgsleute um sich scharen konnte.
Was erklärt den schnellen Sieg von HTS?
Der rasche Sieg von HTS lässt sich nicht allein durch innere Faktoren erklären. Während die Aufmerksamkeit der Welt auf Gaza und die Ukraine gerichtet war, blieben die Auswirkungen dieser Konflikte, die Assads Position dramatisch schwächten, weitgehend unbeachtet.
Die Hisbollah, die sowohl im Eigeninteresse als auch im Auftrag des iranischen Regimes Assad unterstützte, spielte eine Schlüsselrolle in dessen Konflikt mit Daesh. Nach schweren militärischen Schlägen durch die israelischen Streitkräfte, die die Führung der Hisbollah auslöschten und große Teile ihrer Ausrüstung zerstörten, war sie jedoch nicht mehr in der Lage, Assad im gleichen Maße wie zu unterstützen.
Gleichzeitig zog der Kreml seine Streitkräfte aus Syrien ab, um sie in den Osten der Ukraine und nach Kursk zu verlegen, da er dort Schwierigkeiten hat. Assad verlor dadurch zwei entscheidende Stützen seiner militärischen Macht, ohne die er bereits vor Jahren gestürzt worden wäre. Die wiederholten israelischen Luftangriffe auf iranische Stellungen in Syrien trugen ebenfalls dazu bei, Irans Fähigkeit, Assads Truppen zu stärken, weiter zu untergraben.
Während die USA offenbar vom schnellen Erfolg überrascht wurden, nutzte das türkische Regime die Gelegenheit, die Schwächen der Hisbollah und Russlands auszuspielen, um HTS zu weiteren Vorstößen zu drängen. Ziel war unter anderem, das syrische Regime nach dem Scheitern der Normalisierungsgespräche zu schwächen und Druck aufzubauen. Zudem wurde die erzwungene Rückführung von Millionen syrischen Geflüchteten nach Syrien vorangetrieben. Der wohl wichtigste Grund war jedoch, die autonomen Regionen in Syrisch-Kurdistan im Norden weiter anzugreifen.
Zum Zeitpunkt des Berichts finden schwere Kämpfe zwischen der türkisch unterstützten SNA („Syrische nationale Armee“) und lokalen kurdischen Milizen in Manbidsch statt. Laut dem Independent Communications Network Bianet wird die SNA durch intensiven Artilleriebeschuss der türkischen Streitkräfte unterstützt. Die erneute und tragische Verwundbarkeit der Kurd*innen, die Millionen Menschen mit Besorgnis verfolgen – viele befürchten, dass Kobane das nächste Ziel sein wird – verdeutlicht erneut, wie gefährlich es ist, auf die Rivalität imperialistischer Mächte zu setzen.
Das Assad-Regime entpuppte sich derweil als leere Hülle. Berichten zufolge legten viele Soldat*innen ihre Waffen nieder, als HTS vorrückte. Als HTS Damaskus erreichte, leistete die militärische Führung keinerlei Widerstand. Die syrische Armee ließ ihre Ausrüstung einfach zurück – HTS-Kämpfer*innen fotografierten sich in den Cockpits von verlassenen Kampfflugzeugen. Anderswo liefen Soldat*innen in Zivilkleidung auf den Straßen, ihre Uniformen lagen in Haufen am Boden.
Assad fand in seinen letzten Tagen kaum Unterstützung – weder in der Bevölkerung noch bei Verbündeten oder Gegnern. Er bat Russland um Hilfe, doch der Kreml hatte keine Ressourcen dafür. Trotz öffentlicher Bekenntnisse des iranischen Regimes zur Unterstützung Assads begann dieses, bis Freitag seine Streitkräfte aus Syrien abzuziehen, einschließlich hochrangiger Quds-Einheit-Kommandanten, und überließ Assad seinem Schicksal. Berichten zufolge suchte Assad indirekt Hilfe bei Trump, der abwinkte. Selbst Verhandlungen mit HTS bot Assad an, doch diese sahen dafür keinen Anlass. Sogar in der alawitischen Stadt Qardaha, der Heimatstadt der Familie Assad, rissen Menschen Statuen seines Vaters nieder.
Wer ist Hayat Tahrir al-Sham?
Hayat Tahrir al-Sham (HTS) – die „Organisation zur Befreiung der Levante“ – ist eher ein Dachverband bewaffneter Milizen. Ihr Anführer Abu Mohammed al-Julani war nach 2011 Unterstützer von Daesh und hatte den Auftrag, Jabhat al-Nusra zu gründen, um für die Errichtung eines islamischen Staates in Syrien zu kämpfen. Laut Al-Jazeera spaltete sich al-Julani später von Daesh ab, schwor Al-Qaida die Treue, um diese wiederum 2017 über Bord zu werfen und HTS zu gründen. Dies ging mit einem Strategiewechsel einher: Statt für die Errichtung eines Kalifats zu kämpfen, erklärte HTS nun das Ziel, Syrien von der Herrschaft Assads zu „befreien“ und eine nationale islamische Republik zu etablieren.
HTS wurde nach der Rückeroberung Aleppos durch Assads Truppen 2016 zu einer der stärksten Milizen in Syrien. Viele Oppositionskämpfer*innen, die aus Aleppo flohen, fanden Zuflucht in Idlib, das ab 2017 faktisch unter der Kontrolle von HTS stand, mit angeblich rund 30.000 Kämpfer*innen. Diese Kontrolle verschaffte HTS eine wirtschaftliche Basis, da ein Großteil des syrischen Öls durch die Region nach Latakia transportiert wird, und ein hier wichtiger Grenzübergang zur Türkei unter HTS-Kontrolle liegt.
HTS übernahm die Verwaltung in der Region durch die sogenannte „Syrische Rettungsregierung“. Sie stellte Dienstleistungen wie Schulen, Gesundheitsversorgung und Hilfsgüterverteilung bereit, während das Assad-Regime seine grausamen Bombenangriffe fortsetzte. Hunderttausende Syrer*innen flohen in die Region in der Hoffnung, die türkische Grenze zu erreichen, doch diese blieb geschlossen. Viele leben in Flüchtlingslagern unter verzweifelten Bedingungen, meist ohne Strom. Ein Bewohner kommentierte ironisch: „Hier sind alle gleich – alle teilen Armut, Hunger und Arbeitslosigkeit.“
HTS regiert die Region jedoch als autoritärer islamischer Staat. Oppositionelle Journalist*innen werden verhaftet, und immer wieder „verschwinden“ Personen. Frauen sind verpflichtet, den Hijab zu tragen, ihnen ist der Zugang zu wichtigen Studiengängen an der Universität verwehrt, und Schulen sind nach Geschlechtern getrennt. Doch die Erinnerung an den Aufstand von 2011 bleibt lebendig und inspiriert Widerstand. Wie eine Frau erklärte: „Die syrische Revolution hat Tabus gebrochen.“ Noch im September organisierten Frauen in Idlib Demonstrationen gegen die Sicherheitsmaßnahmen und Repressionen von HTS und forderten die Absetzung ihres Anführers al-Julani.
Die imperialistischen Geier kreisen
Trotz der Überraschung über den schnellen Vormarsch von HTS, die von den USA, Großbritannien, der EU, Russland, der Türkei und anderen als „Terrororganisation“ bezeichnet wird, überdenken Regierungen weltweit nun ihre Haltung zu Syrien – jedoch nicht, um den Massen zu helfen, sondern um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Heuchlerisch beeilen sich beispielsweise Regierungen wie die britische, das „Terrorismus“-Label abzuziehen.
Der Iran hat einen wichtigen strategischen Partner verloren. Ein Großteil seiner Unterstützung für die Hisbollah verlief über Syrien, einen zentralen Bestandteil der iranischen „Achse des Widerstands“, die dem westlichen Imperialismus in der Region entgegentreten sollte. Russland hat ebenfalls einen wichtigen Verbündeten im Nahen Osten verloren – eine Regierung, die es in den vergangenen Jahren vor dem Zusammenbruch bewahrt hatte. Tartus im Norden Syriens ist Russlands wichtigste Übersee-Marinebasis, die nicht nur für die Unterstützung von Assads Luftangriffen auf die Opposition genutzt wurde, sondern auch, um den Einfluss der NATO im Mittelmeerraum herauszufordern. Auch der russische Luftwaffenstützpunkt in Hmeymin war von entscheidender Bedeutung als Drehkreuz für die Unterstützung russischer (einschließlich Wagner-) Operationen in der Sahelzone und anderen Teilen Afrikas. Seit Tagen zieht der Kreml Schiffe und Flugzeuge ab, und selbst wenn er eine Einigung mit der neuen Regierung erzielt, hat Russlands Prestige erheblichen Schaden genommen.
Während die Welt auf die Eroberung von Damaskus blickte, kalkulierten die USA, wie sie das von Biden als „Moment des Risikos“ und „historische Chance“ bezeichnete Ereignis ausnutzen können. Am Wochenende schickten sie eine Flotte von Bombern, um 75 Daesh-Ziele anzugreifen. Trump hingegen twitterte schnell in Großbuchstaben: „Das ist nicht unser Kampf. Lasst es sich entwickeln. Nicht einmischen.“ Dennoch ist klar, dass die USA ihre Strategie überdenken müssen. Laut dem Atlantic Council „ist die bisherige US-Politik gegenüber Syrien – das Tolerieren Assads und seiner iranischen Unterstützer, die Fokussierung auf den Islamischen Staat, humanitäre Hilfe ohne politische und militärische Unterstützung für die Opposition sowie die offene Unterstützung der YPG/PKK – gescheitert. Washington und Jerusalem müssen nun einen kohärenten und konstruktiven Ansatz für den Umgang mit der neuen Führung in Damaskus entwickeln.“
Israel, das sich die Zerstörung der Hisbollah-Kapazitäten als Beitrag zum Sturz Assads zuschreibt, hat die Gelegenheit bereits genutzt, um seine Präsenz in Syrien auszubauen. Netanyahu hat der IDF befohlen, weiter in die besetzten Golanhöhen vorzudringen. Israelische Medien berichten von Bombardierungen von Waffendepots in Nord-Syrien und sogar in Damaskus. Laut Verteidigungsminister Katz sollen diese Angriffe verstärkt werden, um „schwere strategische Waffen in ganz Syrien zu zerstören“.
Dass Israel versuchen würde, die aktuelle Lage in Syrien auszunutzen, überrascht nicht. Die Ansicht einiger Linker jedoch, dass der Sturz Assads durch die Schwächung der sogenannten „Achse des Widerstands“ einen Rückschlag für den palästinensischen Befreiungskampf bedeute, verkennt die Realität völlig. Die Assad-Diktatur hat sich nie um das Schicksal der Palästinenser*innen gekümmert. Stattdessen hat sie – wie viele andere Staaten in der Region – ihr Leiden zynisch instrumentalisiert, um die eigene despotische Herrschaft zu festigen. Während das Regime sich als antiimperialistischer Verteidiger palästinensischer Rechte inszenierte, unterdrückte es palästinensische Organisationen, belagerte und bombardierte während des Krieges das Flüchtlingslager Yarmouk und stand angesichts des andauernden Genozids in Gaza tatenlos daneben. Die Jahrzehnte währende De-facto-Waffenruhe mit Israel zur Sicherung der Ruhe auf den besetzten Golanhöhen brachte Assad 2018 sogar Lob von Netanyahu ein, der sagte: „Wir hatten seit 40 Jahren keine Probleme mit dem Assad-Regime.“
Die Türkei hat ihre Position ebenfalls gestärkt – auch gegenüber den Interessen der USA und ihrer NATO-Partner. Obwohl die Türkei HTS offiziell als Terrororganisation bezeichnet, hat sie offenbar deren Bewaffnung unterstützt und den Vormarsch gefördert. Nun nutzt sie die Gelegenheit, ihre Präsenz im Norden Syriens auszubauen.
Dies ist eine deutliche Warnung. HTS und die mit ihr verbündeten Milizen mögen Assad besiegt und Damaskus eingenommen haben, doch sie haben keine uneingeschränkte Kontrolle über ganz Syrien. Derzeit scheint HTS nicht aktiv die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) anzugreifen, die überwiegend aus kurdischen Kämpfer*innen bestehen. HTS versucht, eine „respektable“ Haltung gegenüber internationalen, auch westlichen, Regierungen zu projizieren.
Die „Syrische nationale Armee“ (SNA) hingegen ist enger mit der türkischen Agenda verbunden, was entweder zu einer „Arbeitsteilung“ zwischen den beiden bewaffneten Gruppen oder zu Konflikten über ihre jeweiligen Strategien führen könnte. Angesichts der kompletten Ablehnung kurdischer Autonomie durch die Türkei besteht jedoch eine reale Gefahr, dass es zu einer neuen Kriegsphase im Nordosten kommt, um die YPG/YPJ zu bekämpfen – die bislang von den USA als Hauptverbündete im Kampf gegen Daesh unterstützt wurden.
In dieser gefährlichen Situation sind die arbeitenden und armen Massen in ganz Syrien und der Region die einzigen verlässlichen Verbündeten zur Verteidigung der hart erkämpften Errungenschaften der Kurd*innen – Autonomie, demokratische, feministische und säkulare Rechte. Ein Aufruf zu einer echten sozialistischen Revolution, die sich gegen alle elitären Herrscher*innen, imperialistische Marionetten oder Besatzer*innen – einschließlich des rassistischen, völkermörderischen israelischen Staates – richtet, hätte das Potenzial, Arbeiter*innenaufstände zu entfachen.
Gibt es einen Weg nach vorn?
Mit dem Ende der Feiern über den Sturz des Diktators wird die Realität des neuen Regimes spürbar werden. Jeglicher Versuch, eine Herrschaft nach dem Vorbild eines autoritären islamischen Staates zu etablieren, wie HTS es in Idlib getan hat – mit erheblichen Einschränkungen der Rechte von Frauen und LGBTQIA+-Personen – wird vermutlich auf Widerstand stoßen. Die Menschen in Syrien, die nach 54 Jahren Assad-Diktatur nach einer neuen Zukunft dürsten, werden solche Entwicklungen kaum widerstandslos hinnehmen.
Der Sturz Assads, der die Interessen und das Prestige des iranischen Regimes massiv getroffen hat, könnte zudem das Selbstvertrauen der arbeitenden und unterdrückten Bevölkerung im Iran selbst neu entfachen. Die jüngsten Proteste von Lehrer*innen, Studierenden und Pensionist*innen am vergangenen Wochenende könnten ein erstes Zeichen in diese Richtung sein.
Darüber hinaus könnte der Sturz der brutalen Diktatur – der für viele noch vor wenigen Tagen unvorstellbar schien – revolutionäre Bestrebungen unter den arbeitenden und unterdrückten Massen in anderen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas wiederbeleben. Dies könnte den Widerstandsgeist gegen Kolonialismus und Imperialismus stärken, wie er sich in der starken Solidaritätsbewegung mit Palästina in der Region zeigt.
Oraib al-Rantani, Direktor des Al-Quds Centre for Political Studies in Amman, betont in einem Artikel für Bloomberg: „Der zweite Arabische Frühling kommt, ohne Zweifel. Alle Triebkräfte sind weiterhin vorhanden: Armut, Korruption, Arbeitslosigkeit, politische Blockaden und Tyrannei.“
Gleichzeitig könnte der militärische Charakter von Assads Sturz – durch eine bewaffnete Gruppe ohne demokratische Kontrolle von unten, statt durch den Massenkampf der arbeitenden Klasse und der Unterdrückten – zu einem Klima der Angst und Einschüchterung beitragen. Dies bedeutet, dass jede Bewegung von unten sich möglicherweise schnell mit der militärischen Macht dieser Gruppe auseinandersetzen müsste, die auch bereit sein wird, diese einzusetzen. HTS selbst, ein Bündnis verschiedener Kräfte, wird künftig mit internen Konflikten konfrontiert sein, da unterschiedliche Interessen entstehen. Andere reaktionäre bewaffnete Fraktionen werden um Kontrolle und Einfluss kämpfen, während das neue Regime vermutlich versuchen wird, andere Kräfte wie die Kurd*innen zu besiegen. Hinzu kommt das gierige Eingreifen imperialistischer Mächte, die ihre eigenen Interessen gegen die der syrischen Massen durchsetzen wollen.
Es braucht einen neuen Ansatz, um eine wirklich demokratische Gesellschaft aufzubauen – basierend auf der Organisation der arbeitenden Klasse, der einzigen Kraft, die in der Lage ist, die Bevölkerung über nationale und ethnische Grenzen hinweg zu vereinen. Diese Kraft kann Autoritarismus, Unterdrückung sowie Angriffe auf nationale Rechte, Frauenrechte und die Rechte von LGBTQIA+-Personen bekämpfen. Gleichzeitig könnte sie die katastrophale wirtschaftlichen Lage in Syrien beenden, indem sie die natürlichen Ressourcen des Landes in öffentliches Eigentum überführt. Dazu gehört auch, alle imperialistischen Mächte aus dem Land zu vertreiben und ihre Kontrolle sowie ihre Interessen – wie die US-amerikanische Kontrolle über große Teile der Ölfelder – zurückzuweisen. Mit dem Reichtum des Landes unter demokratischer öffentlicher Kontrolle ist es möglich, eine demokratisch kontrollierte Planwirtschaft aufzubauen und auf eine demokratische sozialistische Föderation des Nahen Ostens hinzuarbeiten.
Auch wenn dies heute noch weit entfernt scheint – der Sturz Assads war vor wenigen Wochen ebenso unvorstellbar. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, die massenhaften Versammlungen auf den Straßen und Plätzen fortzusetzen und sie zu anhaltenden Demonstrationen für den Wiederaufbau eines Syrien frei von jeglicher Unterdrückung zu machen.