Nach dem 17.9.: Reinen Tisch machen statt Schönreden!

Die Gewerkschaft ist zunehmend in einer Krise - nur wer die Ursachen ehrlich bilanziert kann eine Lösung finden
Sonja Grusch

Am Samstag, den 17.9. nahmen rund 120.000 Menschen in Graz am "Aufsteirern" teil, einer Art ländliches Volksfest. Am selben Tag nahmen in ganz Österreich an Demonstrationen der Gewerkschaft gegen die Teuerung laut ÖGB-Angaben rund 30.000 teil (die reale Teilnehmer*innenzahl dürfte, laut einigen Zählungen, deutlich darunter liegen). Bei der kurzfristig einberufenen Demonstration gegen den 12-Stunden-Tag 2018 waren es über 100.000. Im März demonstrierten in Wien allein 8.000 Elementarpädagog*innen, bei der Demonstration am 17.9. zog ein trauriger Zug von je nach Zählung 5-7.000 die Prinz-Eugen-Straße hinunter. Ohne die Mobilisierung diverser linker Organisationen sowie des SPÖ-Pensionist*innenverbandes wäre die Bilanz überall noch düsterer gewesen. Der Vergleich macht sicher: die Gewerkschaft hat ein massives Mobilisierungsproblem. Wer das schönredet, wie das die Gewerkschaft zumindest extern tut (“Ein toller Auftakt” fantasiert die offizielle ÖGB-Aussendung) oder die Probleme ignoriert und verschweigt verschließt die Augen. Zumindest intern aber gibt es hitzige Debatten über Ursachen und Auswege.

Die unmittelbaren Ursachen

Die Gewerkschaftsführung redet es sich schön bzw. aufs (miese) Wetter aus. Auch zu hören ist die altbekannte Mitgliederbeschimpfung “die wollen halt einfach nicht” oder die Ausrede “bei KV-Verhandlungen wird das anders sein”. Beides geht am Problem vorbei. Denn dass das Thema “Teuerung” ein absolut brennendes Thema ist, ist klar. Klar ist aber leider auch, dass die Gewerkschaft bzw. ihre aktuelle Methode nicht als Instrument gesehen wird, daran etwas zu ändern!

Die unmittelbaren Ursachen für die schwache Teilnahme sind relativ leicht auszumachen.

Da ist einmal die politische Schwäche der Demo: Der Aufruf war schwammig, die Forderungen begrenzt und das Thema Preise wurde bewusst vom Thema Löhne getrennt. Vor allem aber gab es keinerlei Vorstellung davon, was die nächsten Schritte sein könnten, um die Forderungen durchzusetzen. 3 Monate nach der “Teuerungskonferenz” die schon mehr als zahnlos war - 3 Monate in denen die Inflation weiter angezogen hat - 3 Monate in denen die Maßnahmen der Regierung viel zu wenig waren: und die Gewerkschaft schafft nicht mehr als “Preise runter” zu sagen: das hat keine mobilisierende Wirkung.

Die Planlosigkeit war auch bei der Demonstration offensichtlich, als der Vorsitzende der Gewerkschaftsjugend sagte "Schritt 1 auf die Straße gehen und Schritt 2 merken für die nächste Wahl". Anstatt eine Kampfstrategie zu entwickeln, versucht die Führung der Gewerkschaft die Hoffnung auf eine Wahl der SPÖ umzumünzen. Einer SPÖ, die in Wien deutlich zeigt, dass sie genauso verantwortlich ist für die steigenden Lebenshaltungskosten (Stichwort: Wien Energie erhöht die Tarife um über 90%!) ist. Das Thema “Löhne rauf” wurde von der ÖGB-Führung weitgehend ausgespart. Und das obwohl gerade die Herbstlohnrunde beginnt. Zwar hat Katzian in seiner Rede auf die Forderung für einen Mindest-KV von 2.000 brutto hingewiesen, aber hat auch hier jede Idee WIE das zu erreichen sein soll vermissen lassen. 

Sichtbar war, dass manche Fachgewerkschaften diese einseitige Orientierung auf Preise nicht mitgetragen haben. So hat die Vida extra Buttons und Taferln für die Demonstration produziert, die Preise runter UND Löhne rauf forderten. Und 2 Tage danach hat die Gewerkschaft pro-ge die Forderungen für die Metallindustrie übergeben: + 10,6%. Am selben Tag hat auch der private Sozialbereich (SWÖ) die Verhandlungen eingeleitet, demnächst folgt der Handel. und die Vida führt “Sonderverhandlungen” angesichts der Teuerung, also ein Vorziehen der jährlichen KV-Verhandlungen und fordert ein Plus von 500.-. Was aber fehlt, ist eine einheitliche Strategie, ein Zusammenführen der Forderungen, der Mobilisierung, der Planung und der Durchführung nicht nur der Verhandlungen, sondern auch von Arbeitskämpfen bis hin zu Streiks. Warum also wurden die Demonstrationen nicht als Startpunkt für + 10% für alle und mindestens 2.000.- netto genommen? 

Ein weiteres Problem waren die fehlende Mobilisierungen: die bürgerlichen Medien haben die Demo weitgehend totgeschwiegen oder versucht durch Hetzartikel zu schwächen - aber damit muss man rechnen. Was dramatisch ist, ist, dass es kaum eine Mobilisierungskampagne der Gewerkschaft gab. Als ISA und ROSA haben wir wahrscheinlich öfter auf der Straße für die Demo mobilisiert als der ÖGB mit 1,2 Millionen Mitgliedern, die AK mit noch mehr und beide mit tausenden Hauptamtlichen. Aber es gab auch keine Plakatkampagne oder eine Hilfestellung wie Betriebsrät*innen ihre Kolleg*innen davon überzeugen können, sich an der Demo zu beteiligen. Die Mitglieder wurden nicht per Brief eingeladen, es gab keinen Versuch, direkt zu mobilisieren. Ganz zu schweigen von der Einbindung von Betriebsräten und Aktivist*innen. Eine Mobilisierungsstrategie mit Betriebsversammlungen wo Forderungen diskutiert werden, mit öffentlichen Betriebsrät*innenkonferenzen und betrieblichen Mobilisierungsaktionen hätte zu einer machtvollen Demonstration geführt, nicht diesem “Rohrkrepierer”. Das all das gefehlt hat ist Ausdruck eines bürokratischen Apparates für den die Mitglieder keine Mitstreiter*innen sondern abrufbare Zahler*innen sind. Diese Abrufbarkeit aber wird immer geringer - sie sinkt mit der Verankerung der Gewerkschaft in der Arbeiter*innenklasse. Und diese nimmt ab - nicht weil Gewerkschaften nicht mehr wichtig wären (im Gegenteil!) sondern weil sie nicht als hilfreich zur Umsetzung von Rechten gesehen werden. Vor allem die kämpferischten Schichten der letzten Jahre (Pflege, Elementarpädagogik, Sozialbereich) konnten nicht wirklich zur Demo mobilisiert werden. Und das obwohl ihre Proteste in den letzten 2 Jahren zu den größten gewerkschaftlichen/betrieblichen Mobilisierungen gehörten. Das der Pensionist*innenverband mehr mobilisierte als die Gewerkschaftsjugend spricht Bände! Tatsächlich sind die Kolleg*innen absolut bereit, für ihre Rechte auf die Straße zu gehen oder sogar zu streiken: Die Pflegedemonstration zum 12.5. (trotz großer Schwächen) bzw. die Proteste der Elementarpädagog*innen waren mit 10.000 bzw. 8.000 Teilnehmer*innen in Wien größer als die Gewerkschaftsdemonstration vom 17.9. und deutlich stärker geprägt von Beschäftigten während bei letzterer neben Pensionist*innen die Funktionär*innen und Angestellten der Gewerkschaft die stärksten vertretenen Gruppen waren. Die zehntausenden junger Menschen - von denen ja viele ebenfalls berufstätig sind, als Lehrlinge, aber auch “nebenbei” als Studierende und Schüler*innen - die in den letzten Jahren gegen Rassismus, Klimakrise, Sexismus und Ungleichheit demonstriert haben, konnten überhaupt nicht erreicht werden. Bei Klimastreiks, BLM-Protesten oder dem 8. März gehen mehr Menschen auf die Straße - viele davon sind Berufstätig und alle von Teuerung betroffen. Es mangelt also nicht an der Bereitschaft, auf die Straße zu gehen. Die Entfremdung v.a. junger Beschäftigter mit einer Gewerkschaft, die sie - zu Recht - nicht als Kampforganisation wahrnehmen ist ein massives Problem der Gewerkschaftsbewegung die durch “fancy” Kampagnen und “hippes” Auftreten nicht gelöst werden wird. Die politische Schwäche in Kombination mit der organisatorischen Schwäche hatte fatale Folgen, weil bei vielen das Gefühl war: “Wozu soll ich mir das antun, das bringt eh nix.”

Die tieferliegende Ursache

Aber die Ursache dieses Zustandes liegt im Selbstverständnis und der Orientierung der österreichischen Gewerkschaftsbewegung. Sie wurde 1945 im Hinterzimmer und nicht aus Klassenkämpfen geboren und hat sich vom ersten Tag an als sozialpartnerschaftliche und staatstragend agierende Struktur verstanden. Nie hat sie sich ausschließlich als Klassenorganisation der Arbeiter*innenklasse (egal ob Angestellte, Arbeiter*innen, ob männlich oder weiblich, ob jung oder alt, ob hier oder woanders geboren) gesehen sondern stets als Bindeglied zwischen eben dieser Arbeiter*innenklasse und den Interessen des Kapitals, ausgedrückt im “Staatsinteresse”. Das begann mit der Niederschlagung des “Oktoberstreiks” 1950 als sich die Arbeiter*innen zu hunderttausenden dagegen stellten, dass die Löhne eingefroren werden sollten, um so die Inflation in den Griff zu bekommen und sie so mit sinkendem Lebensstandard für die Krise bezahlen mussten (Ideen, die es auch heute wieder gibt). Seit damals hat die Gewerkschaftsführung stets bestenfalls einen “Anteil” am Kuchen verlangt, aber immer wieder auf echte Lohnerhöhungen verzichtet, wenn  “Standortpolitik” und “Sachzwänge” dagegen sprachen. Auch unter dem angeblich “linken” Kreisky wurden die Löhne niedrig gehalten, um die Exportwirtschaft zu stützen. Immer wieder hat die Führung der Gewerkschaft als verlängerter Arm der SPÖ und von Kapitalinteressen Kämpfe nicht nur nicht geführt, sondern sogar aktiv verhindert. Die Privatisierungen und “Sparpakete” seit den 1980er Jahren wurden eher zahnlos bekämpft und der Abbau des Sozialstaates und das Absinken der “Lohnquote” (also des Anteils der Löhne und Gehälter am Gesamteinkommen) de facto hingenommen. 

Dieses Selbstverständnis drückt sich auch in besonders undemokratischen Strukturen in den Gewerkschaften aus. Eine Streikfreigabe gibt es nur vom Bundesvorstand des ÖGB, nicht von den Fachgewerkschaften! Basisstrukturen, in denen normale Mitglieder mitreden und mitentscheiden können, gibt es kaum. Die Forderungen mit denen man in Verhandlungen geht werden selten von Betriebsrät*innen und schon gar nicht von den Beschäftigten selbst erarbeitet. Ob gekämpft wird oder nicht, wird von der Führung entschieden, nicht von jenen, die es angeht. Und welche Verhandlungsergebnisse angenommen werden entscheidet nicht die Belegschaft, die damit leben muss sondern Hauptamtliche und Funktionär*innen, die meist ein weit höheres Einkommen haben. All das zusammen führt zu einer Gewerkschaft, die an den dynamischsten Schichten vorbei arbeitet und immer weniger als Kampforganisation wahrgenommen wird.

Diese Probleme werden auch in den Gewerkschaften wahrgenommen. Während der Dachverband ÖGB seinen Fokus mehr auf der SPÖ, der Regierung und der Einbindung in staatliche Strukturen und “Sozialpartnerschaft” hat, stehen die Fachgewerkschaften stärker unter Druck aus den Betrieben. Sie brauchen unmittelbar die Mitglieder und auch sehr profan, deren Beiträge. Hier sind Konflikte bereits zu merken und mehr wird kommen. Die großen Proteste der Kindergartenbeschäftigten in privaten Kindergärten haben sich weitgehend außerhalb der Gewerkschaft organisiert. Im Sozialbereich sehen wir eine ähnliche Entwicklung. Die Fachgewerkschaften verlieren zunehmend die Kontrolle, ihnen schwimmen “die Felle” davon. Darum auch der Versuch, hier etwas kämpferischer aufzutreten.

Doch ein Problem ist hier auch das falsche Verständnis davon, wie Staat und Wirtschaft funktionieren: aktuell steuert der Kapitalismus auf eine nächste Wirtschaftskrise hin, die die Weiterführung und Vertiefung der letzten Krisen sein wird. Es fehlt auch eine Erklärung WAS Inflation ist und so wird diese als quasi unabwendbares “Naturereignisse” das “wir” halt stemmen müssen” hingenommen anstatt zu verstehen, dass der Kapitalismus Krisen produziert und das dessen Widersprüche u.a. Inflation erzeugen um die Kosten dieser Krisen auf die Arbeiter*innenklasse abzuwälzen. Hier auf “Fairness” zu pochen oder einzufordern “gerecht” behandelt zu werden ignoriert die kapitalistischen Mechanismen. Platt gesagt: wenn der Kuchen kleiner wird, wird der Kampf um die Verteilung der Stücke härter. D.h. die Gewerkschaft muss die Gangart verschärfen und kann sich nicht auf eine “bessere” Regierung verlassen, da jede Regierung im Rahmen der kapitalistischen Logik dafür sorgen muss, dass die Rahmenbedingungen für das nationale Kapital möglichst gut sind. Das bedeutet Subventionen für Unternehmen und - gerade in einem Exportland wie Österreich - eine Senkung der Produktionskosten. Solange die Gewerkschaft also in dieser Logik hängen bleibt, wird sie zwangsläufig zum Handlanger von Lohnkürzungen. Wahr ist, dass die Erwartungshaltungen aus Erfahrung ohnehin schon sehr niedrig sind, doch meist schafft es die Gewerkschaft sogar noch, diese zu unterbieten! Wenn nicht über den kapitalistischen Tellerrand hinaus geschaut wird, dann bedeutet das in “Zeiten wie diesen” zwangsläufig Verschlechterungen für die Beschäftigten. Leisten können wir uns das schon längst nicht mehr!

Was tun?

Die Krise der Gewerkschaft ist hausgemacht, aber kein Grund für Freude. Eine starke Organisation der Arbeiter*innenklasse ist gerade in Zeiten der aufkommenden Wirtschaftskrise und Rekordteuerung eigentlich dringend nötig. Lässt die Gewerkschaft hier aus oder hofft auf ein Wunder in Form der SPÖ (dass, wie das mit Wundern so ist, eben nicht kommen wird) dann füllen andere politische Kräfte das Vakuum. In diesem Fall versuchen FPÖ und andere am rechten Rand auf Teuerung mit rechtem Populismus zu antworten. In der tschechischen Republik und in Deutschland hat die extreme Rechte schon versucht, mit dem Teuerungsthema zu mobilisieren. Es ist nur eine Frage der Zeit bis sie das auch hierzulande versuchen werden - ohne echte Antworten natürlich, da sie ja genau die aggressivsten Kapitalinteressen, jene des ums Überleben kämpfenden Kleinbürgertums - vertreten.

Die zweite Gefahr ist, dass Regierung und Unternehmen klar ist: Vor so einer schwachen Gewerkschaft braucht man sich nicht zu fürchten. Sie werden daher mit vollem Selbstbewusstsein weiter Mieten und Preise erhöhen, den Arbeitsdruck erhöhen und sie fürchten sich bei den KV-Runden nicht vor diesem Papiertiger. Es kann aber gut sein, dass sie dabei auf unerwarteten Widerstand stossen durch verzweifelte Kolleg*innen, deren Angst und Wut explodiert und zu spontanen Kämpfen führt. Hier werden wir sehr unterschiedliches Agieren auf verschiedenen Ebenen der Gewerkschaft sehen (ÖGB vs Fachgewerkschaft, höhere vs niedrigere Strukturen). Teile sehen die Notwendigkeit, diese Kämpfe zu führen, andere werden versuchen, sie zu verhindern. 

Wir brauchen eine Schubumkehr mit Turbo und ein Ende der Symbolpolitik. All das beginnt in den Betrieben. Jahrelange Basisorganisierung im Sozialbereich hat eine große Aktivist*innenbasis aufgebaut, die bereit und in der Lage sind, Kämpfe vorzubereiten und durchzuführen. Kritische Kolleg*innen aus dem Babe sind nicht mehr bereit, miese Abschlüsse einfach hinzunehmen - auch das zeigt die aktive Mitgliedschaft, sogar wenn sie nicht von der Gewerkschaft dazu eingeladen wird. Führen wir diese kämpferischen Kolleg*innen zusammen und unterstützen wir den Aufbau von kämpferischen Strukturen in den Betrieben und Betriebsübergreifend. Demos sind gut um Öffentlichkeit zu erzeugen, Druck aber wird mit Betriebsrät*innen- und Aktivist*innenkonferenzen aufgebaut und mit Streiks umgesetzt. Verbinden wir die sozialen mit den gesellschaftlichen Themen, so muss z.B. der 8. März endlich ein Streiktag für Frauenrecht werden - hier hat ein Schulstreik von ROSA im letzten Jahr einen wichtigen Schritt gesetzt und auch schon Diskussionen über betriebliche Aktionen unter Beschäftigten gestartet! Hilf mit all das zu machen - und bleib dabei nicht stehen! Bauen wir eine betriebliche und gewerkschaftliche Opposition auf, organisieren wir Kolleg*innen und Kämpfe vor Ort, bauen wir eine Gewerkschaftsbewegung auf, die unabhängig von der SPÖ ist, um die Interessen der Beschäftigten wirklich zu vertreten und bleiben wir nicht bei der brutalen Logik des Kapitalismus stehen, sondern kämpfen wir für eine sozialistische Alternative.