Lateinamerika auf dem Weg zum Sozialismus?

Bericht vom 9. Weltkongress des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI), Januar 2007
Sascha Stanicic, CWI-Deutschland

Linke, fortschrittliche und anti-imperialistische Kräfte auf der ganzen Welt schauen voller Spannung und Hoffnung auf die Entwicklungen der Massenkämpfe und der neuen linken Regierungen in Lateinamerika. Zweifellos ist der Kontinent die Speerspitze einer weltweiten Gegenbewegung gegen Neoliberalismus und gegen die Auswirkungen der kapitalistischen Herrschaft.

Die Delegierten der 28 Sektionen des Komitees für eine ArbeiterInneninternationale diskutierten die Entwicklungen in Lateinamerika in einem speziellen Teil ihres Weltkongresses im Januar. Insbesondere die TeilnehmerInnen aus Brasilien, Chile und Venezuela sorgten dafür, dass es eine der lebendigsten und inspirierendsten Debatten des Kongresses war.

Andre Ferrari von der Gruppe Socialismo Revolucionario und Mitglied im Vorstand der Partei für Sozialismus und Freiheit (P-SOL) aus Brasilien eröffnete die Diskussion mit einem Referat, das die wichtigsten Entwicklungen auf dem Kontinent zusammen fasste.

Er betonte, dass Lateinamerika in den 90er Jahren einen Prozess der Re-Kolonialisierung durch machte, in dem in den meisten Ländern relativ starke und stabile neoliberale Regierungen an der Macht waren. Die tiefe soziale Krise, die Folge des Neoliberalismus und der allgemeinen Krise des Kapitalismus war, führte aber zum Ende des Jahrzehnts zu einer allgemeinen Desillusionierung mit dem Neoliberalismus und zu einer Kette von Massenbewegungen, die ein Land nach dem anderen erfassten. Die Zahl der in diesem Prozess zu Fall gebrachten Präsidenten ist hoch. Als Folge kamen in einer Reihe von Ländern linke Präsidenten und Regierungen an die Macht. Dies gilt zwar nicht für alle Länder, denn insbesondere in Mittelamerika regieren in wichtigen Ländern wie Mexiko und Kolumbien weiterhin Vasallen des US-Imperialismus.

Die neuen linken Regierungen lassen sich grob in zwei Trends einteilen: in den Andenrepubliken Venezuela, Bolivien und Ecuador sind mit Hugo Cávez, Evo Morales und Rafael Correa anti-neoliberale Präsidenten ins Amt gekommen, die sich auf Massenbewegungen der ArbeiterInnenklasse, indigenen Bevölkerung und armen Bauernschaft stützen und einen Weg sozialer Reformen im Interesse der Bevölkerungsmehrheit eingeschlagen haben. In Argentinien, Brasilien und Chile sind mit Nestor Kirchner, Ignacio "Lula" da Silva und Michelle Bachelet PräsidentInnen gewählt worden, deren Wahl ebenfalls die massenhafte Stimmung gegen Neoliberalismus und imperialistische Dominanz zum Ausdruck bringen, die aber einen anderen Kurs eingeschlagen haben und sich grundlegend dem neoliberalen Modell gebeugt haben (wenn Kirchner in Argentinien auch einige Maßnahmen zum Schutz der argentinischen Wirtschaft ergriffen hat). Mit der Schülerbewegung in Chile, der Gründung der neuen sozialistischen Partei P-SOL in Brasilien und der als Piqueteros bekannten Erwerbslosenbewegung in Argentinien, gibt es jedoch auch in diesen drei Ländern wichtige Protestbewegungen gegen die Politik dieser vermeintlich linken Regierungen.

Revolution und Sozialismus?

Es ist viel die Rede von Sozialismus und Revolution, vor allem in Venezuela. Die Errungenschaften der Regierungen Chávez und Morales sind wichtig. Sie erscheinen aber so groß, weil der Ausgangspunkt die ideologische Defensive der Linken und der ArbeiterInnenbewegung und die Erfahrungen des Neoliberalismus, der nur Verschlechterungen für die Masse der Bevölkerung kannte, war. In einem Teich voller Kaulquappen erscheint der Goldfisch groß. Im Vergleich zu den Sozialreformen und zum Grad von Verstaatlichung, die es in der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende der 70er bzw. Anfang der 80er Jahre in einer ganzen Reihe ex-kolonialer Länder gegeben hatte, sind die bisherigen Maßnahmen in Lateinamerika und Bolivien relativ bescheiden. Vor dem Hintergrund der ideologischen Offensive des Neoliberalismus und der Politik von Privatisierung und Deregulierung, sind sie aber mehr als nur ein Lichtblick. Sie stellen einen qualitativen Wendepunkt in der gesellschaftlichen Entwicklung dar. Das gilt sowohl für das Kräfteverhätltnis zwischen den Klassen in diesen Ländern, aber auch international. Und es gilt für das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse, dass mehr und mehr von einer grundlegend sozialistischen Idee erfasst wird. Sozialismus gibt es deshalb aber noch lange nicht und sind diese Länder auch in jeder Hinsicht weiter vom Sozialismus entfernt, als es zum Beispiel Chile vor dem Pinochet-Putsch 1973 war. Aber: die Entwicklungsrichtung hat sich nach zwei Jahrzehnten der gnadenlosen neoliberalen und imperialistischen Dominanz geändert!

Kann man von Revolutionen in Venezuela und Bolivien sprechen? Der Begriff der Revolution wird sowohl als tatsächliche grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Macht- und Eigentumsverhältnisse verstanden, als auch als ein Zustand der Massenmobilisierung, die eine solche Veränderung anstrebt. Ebenso kann man zwischen sozialen und politischen Revolutionen unterscheiden. Erstere verändern die Eigentumsverhältnisse und führen zu einer Veränderung in der Klassenherrschaft, letztere verändern das politische System bzw. politische Machtkonstellationen auf der Basis der bestehenden ökonomischen Verhältnisse. Der Eintritt der Massen auf die Bühne der Geschichte - in Ländern wie Bolivien und Ecuador gibt es eine geradezu ununterbrochene Serie von Massenbewegungen mit zum Teil aufstandsähnlichem Charakter - in vielen lateinamerikanischen Ländern rechtfertigt zweifellos die Benutzung des Begriffs "revolutionärer Prozess" oder "revolutionäre Ereignisse". Auch haben die Veränderungen in Venezuela und Bolivien Elemente einer politischen Revolution, mit dem Versuch einige der ungelösten Aufgaben der bürgerlichen Revolution (Landverteilung, nationale Unabhängigkeit, Demokratie) zu erfüllen. Von einer "revolutionären Situation" oder gar einer Revolution im sozialistischen Sinne zu sprechen, wäre jedoch genauso zweifelsfrei verfrüht und falsch - denn die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, die kapitalistische Wirtschaft und der kapitalistische Staat existieren weiterhin.

Venezuela

Im Mittelpunkt der Diskussion auf dem CWI-Weltkongress standen die jüngsten Entwicklungen in Venezuela. Hier hat der seit neun Jahren regierende Präsident Hugo Chávez nach seiner Wiederwahl im Dezember 2006 eine deutliche Linksverschiebung seiner Politik angekündigt. Die Wahlen waren eine beeindruckende Bestätigung der Unterstützung, die Chávez in der Bevölkerung genießt. In diesem Zusammenhang wurde in den Diskussionen betont, dass auch Chávez seine Position nur halten konnte aufgrund der aktiven Beteiligung der Massen, insbesondere in den Kämpfen gegen den reaktionären Putschversuch 2002, beim Abwahl-Referendum und bei dem Kampf gegen den sogenannten Unternehmerstreik. Chávez erreichte zwar die anvisierten zehn Millionen Stimmen nicht, aber er konnte sein Ergebnis bei einer gestiegenen Wahlbeteiligung noch einmal steigern . Bemerkenswerterweise war es die Tatsache, dass die bürgerliche Opposition in der Lage war einen einheitlichen Kandidaten ins Rennen zu schicken und eine größere Demonstration zu organisieren, die zu einer Re-Aktivierung des Chávez-Lagers führte. Davor war eine Entwicklung hin zur Passivität und wachsende Kritik an der zunehmenden Staatsbürokratie unter den Massen zu beobachten. Letztere besteht weiterhin und viele ArbeiterInnen und Jugendlichen machen einen Unterschied zwischen Chávez und den ihn umgebenden Parteien und Regierungsmitgliedern. Für Chávez zu sein bedeutet nicht automatisch, die Regierung kritiklos zu unterstützen.

Auf der anderen Seite musste die Opposition, die mit 37 Prozent, einen Achtungserfolg erzielte und ihre Kräfte sammeln konnte, sich ein soziales Image geben und öffentlich die Sozialreformen der Regierung unterstützen. Dass diese breite Unterstützung genießen, zeigen auch Meinungsumfragen, nach denen sogar 75 Prozent derjenigen, die Chávez nicht unterstützen für die Verstaatlichung von Fabriken, die nicht produzieren, sind und sogar 80 Prozent für die Verstaatlichung von brach liegendem Land.

Chávez hat in seiner Regierungserklärung eine neue Phase in der Revolution angekündigt und erklärt, den Sozialismus des 21.Jahrhunderts aufbauen zu wollen. Zum ersten Mal hat er ein Mitglied der Kommunistischen Partei Venezuelas in sein Kabinett aufgenommen. Als ein Gewerkschaftsfunktionär, den er ebenfalls in sein Kabinett berief, daraufhin zu ihm sagte, dass er Trotzkist sei, erwiderte Chávez: "Das macht nichts. Ich bin auch Trotzkist." Tatsächlich hat er sich auch in seiner Erklärung aus Anlass seiner Vereidigung auf Marx, Engels, Lenin und Trotzki berufen und sich als Verfechter der Theorie der Permanenten Revolution präsentiert.

Die Delegierten des CWI-Weltkongresses waren sich einig, dass die fortschrittlichen Maßnahmen der Chávez-Regierung unterstützt werden müssen, Venezuela aber kein sozialistisches Modell ist. Chávez" Interpretation der Permanenten Revolution entspricht ihrem Gegenteil - einer schrittweisen Veränderung der Gesellschaft in Richtung Sozialismus anstatt dem Konzept der Machteroberung durch die ArbeiterInnenklasse und des Sturzes des kapitalistischen Ordnung.

Chávez" Maßnahmen zur Verstärkung des revolutionären Prozesses wurden von den CWI-Delegierten begrüßt und gleichzeitig kritisch hinterfragt. Die Verstaatlichungen im Telekommunikationsbereich sind zweifelsfrei Schritte in die richtige Richtung, jedoch betreffen sie nur Bereiche, die erst in den 90er Jahren privatisiert wurden. Im Bereich der Verstaatlichungen liegt Venezuela weit hinter dem Chile Salvador Allendes zu Beginn der 70er Jahre zurück, als vierzig Prozent der Industrie in Staatshand waren.

Großen Raum nahm auch die Ankündigung der Bildung einer "Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas" ein. Grundsätzlich wurde die Notwendigkeit, eine revolutionäre und sozialistische ArbeiterInnenpartei zu gründen betont und vor diesem Hintergrund die Initiative von Chávez auch begrüßt. Die entscheidende Frage wird sein, ob Chávez seine Ankündigungen wahr macht, dass die Partei eine demokratische Massenpartei wird, die von unten nach oben aufgebaut sein wird und nicht durch die Führungsbürokratien der alten Parteien dominiert wird. Dies ist aber alles andere als sicher und die Aussichten für die neue Partei sind unklar, wobei nicht auszuschließen ist, dass sie eine Anziehungskraft auf ArbeiterInnen und Jugendliche ausübt, die den Kampf für Sozialismus beschleunigen wollen. CWI-Mitglieder in Venezuela treten für eine von Regierung und Staat unabhängige sozialistische ArbeiterInnenpartei mit demokratischen Strukturen und einem revolutionären Programm ein.

Auch die Vollmachten, die Chávez erhalten hat, können nicht abstrakt bewertet werden, sondern müssen nach ihrem sozialen Inhalt beurteilt werden. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Verstaatlichungen per Dekret beschlossen werden, sagte zum Beispiel Peter Taaffe vom Internationalen Sekretariat des CWI. Gleichzeitig wurde betont, dass die entscheidende Aufgabe für Venezuela der Aufbau einer revolutionären Partei und von ArbeiterInnenkomitees auf allen Ebenen ist, die in Betrieben und Gesellschaft Kontrolle und Verwaltung ausüben können. Dabei betonte Peter Taaffe ebenfalls, dass MarxistInnen aus organisatorischen Formen keinen Fetisch machen dürfen. Es sei nicht zwangsläufig nötig, dass die klassische Form des auf Fabrikdelegierten basierenden Rätesystems in einer lateinamerikanischen sozialistischen Revolution wiederholt werden müsse. Komitees mit Delegiertenstrukturen auf Nachbarschaftsebene, ergänzt durch BetriebsvertreterInnen, sind ebenso denkbar.

Ohne eine solche Weiterentwicklung des revolutionären Prozesses zu einer tatsächlichen sozialistischen Revolution, also der Machtergreifung durch demokratische Organe der ArbeiterInnen und Bauern und der Verstaatlichung der entscheidenden Bereiche der Wirtschaft, ist die Zukunft Venezuela ungewiss und besteht weiter die Gefahr einer erfolgreichen Konterrevolution. Angesichts der Massenunterstützung, der aufgrund des Ölreichtums vorteilhaften ökonomischen Lage und der günstigen Verschiebungen des internationalen Kräfteverhältnisses, erscheint aber zur Zeit eine weitere Radikalisierung des Prozesses in Venezuela als wahrscheinlicher. Dieser könne, so Peter Taaffe, weiter gehen, als es bisher für denkbar gehalten wurde und eine Situation vergleichbar mit der Pariser Kommune von 1871 könne auch ohne die Existent einer revolutionären Massenpartei entstehen.

Bolivien

Während die Lage in Venezuela auch davon gekennzeichnet ist, dass die ArbeiterInnenbewegung über relativ schwache unabhängige Traditionen verfügt und es deshalb auch ein vergleichsweises niedriges Selbstbewusstsein der organisierten ArbeiterInnenbewegung gibt, ist Bolivien ein Land mit starker Tradition marxistischer und trotzkistischer Kräfte und kämpferischer Gewerkschaften.

Hier ist die Situation zur Zeit weitaus zugespitzter und polarisierter. Selbst ein Bürgerkrieg ist nicht ausgeschlossen. Der neue Präsident Morales wurde durch eine Reihe von Massenkämpfen an die Macht gespült und stand von Beginn seiner Amtszeit unter dem direkten und bewussten Druck der Massenbewegungen. Auch er hat einige Sozialreformen durchgesetzt und begrenzte Maßnahmen gegen die Kapitalisten ergriffen. Dazu gehören Lohnerhöhungen, die Einstellung neuer Lehrer und Ärzte und Sonder-Stromtarife für die arme Bevölkerung. Die größte Aufmerksamkeit haben aber die sogenannten Verstaatlichungen der Erdgasindustrie erlangt. Diese sind in der Realität zwar nur Neuverhandlungen der Verträge mit den multinationalen Konzernen und eine deutlich höhere Besteuerung derselben. Aber die staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft in Bolivien und Venezuela haben große internationale Ausstrahlungskraft. Wie Andre Ferrari in seinem Einleitungsreferat sagte, ist der Begriff „Verstaatlichung“ in Lateinamerika kein Schimpfwort mehr.

Während des CWI-Weltkongresses spitzten sich im bolivianischen Cochabamba die Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und den reaktionären Kräften in Straßenkämpfen zu. Der Kongress diskutierte Berichte des CWI-Mitglied Adam Ziemkowski, der in Cochabamba in die Bewegung eingegriffen hat.

Hier spitzte sich die Lage um die Frage der Autonomie für die reiche südöstliche Region Santa Cruz zu. Die hier vor allem lebende reiche Elite droht mit Autonomie als erstem Schritt zu einer Abspaltung der Region aus Bolivien. Damit wollen sie vor allem erreichen, dass die Verfassunggebende Versammlung nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit Entscheidungen treffen kann. Die Massen fordern, dass die Verfassung mit einfacher Mehrheit beschlossen werden kann. In Cochabamba forderten die Massenproteste den Rücktritt des reaktionären Gouverneurs Manfred Reyes Villa und es kam zu heftigen Auseinandersetzungen. Morales unterstützte die Forderung der Massen nicht und verlangte von ihnen, sich an die Gesetze zu halten. Trotzdem ist es möglich, dass auch Morales unter dem Druck der Massen zu weiteren radikalen Maßnahmen gezwungen wird.

Brasilien

Die Wahl von Lula in Brasilien, wie auch von Kirchner in Argentinien und Bachelet in Chile, war auch Ausdruck des wachsenden anti-neoliberalen Bewusstseins der Massen. Aber in allen drei Fällen haben die „linken“ Regierungen keine linke Politik umgesetzt, sondern an der neoliberalen Agenda festgehalten. So hat Lula staatliche Banken privatisiert und private public partnership eingeführt Auch außenpolitisch hat er durch die Entsendung brasilianischer Truppen nach Haiti die regional-imperialistischen Ambitionen der brasilianischen Kapitalistenklasse unterstützt.

Lulas Wiederwahl im letzten Jahr fand mit deutlich weniger Illusionen in ihn statt als vier Jahre zuvor. In den Gewerkschaften und Landlosenbewegungen gibt es wachsende Unzufriedenheit mit seiner Politik. Dies drückte sich nicht zuletzt in der Gründung der neuen Partei für Freiheit und Sozialismus (P-SOL) aus, deren Präsidentschaftskandidatin Heloisa Helena 6,85 Prozent erreichte. Die brasilianische Sektion des CWI, Socialismo Revolucionario, gehört zu den Gründungsmitgliedern de P-SOL und baut die Partei aktiv mit auf. Sie ist im Rahmen der Wahlkampagne dafür eingetreten, dass die Partei keine reine Konzentration auf den Wahlkampf betreibt, sondern aktiv an den Kämpfen und Mobilisierungen der ArbeiterInnenklasse, Jugend und Landlosen teilnimmt und daraus die Parteistrukturen aufbaut und stärkt. Leider hat es eine gewisse Rechtsverschiebung innerhalb der P-SOL gegeben. Der sozialistische Aspekt des Programms wurde in den Hintergrund gestellt in der Hoffnung dadurch mehr Stimmen erzielen zu können. Helena präsentierte sich im Wahlkampf vor allem als unbestechliche und moralisch integere Person. Sie führte einen moralisierenden Wahlkampf und sprach sich sogar – gegen das P-SOL-Programm – gegen Abtreibungen aus. Diese Personalisierung und Entpolitisierung führte aber nicht zu mehr, sondern zu weniger Stimmen. So konnte die P-SOL ihr Potenzial, was bei Umfragen bei 12 Prozent lag, nicht ausschöpfen. Die 6,85 Prozent sind aber trotzdem ein beachtlicher Erfolg, auf dem die Partei aufbauen kann, wenn sie einen kämpferischen und sozialistischen Kurs einschlägt.

Massenbewegungen in vielen Ländern

Karl Debbaut vom Internationalen Büro des CWI berichtete von den Massenbewegungen in Mexiko – den Großdemonstrationen gegen die Wahlfälschung in Mexiko-Stadt und der aufstandsähnlichen Bewegung im Bundesstaat Oaxaca. In Mexiko ist die ArbeiterInnenklasse stärker und und es gab unter vielen Demonstranten eine kritische Haltung gegenüber dem linksdemokratischen Präsidentschaftskandidaten Lopez Obrador, dessen Wahlsieg nicht anerkannt wurde. Eine der Forderungen, die in Mexiko aufkam, war für eine Regierung der ArbeiterInnen und der Armen. Dies drückt aus, dass nicht nur sozialistische Ideen, sondern auch die Machtfrage in das Bewusstsein wichtiger Schichten der ArbeiterInnenklasse zurück gekehrt ist. Karl Debbaut berichtete auch, wie die Demonstranten instinktiv versuchten den bürgerlichen Staatsapparat zu neutralisieren, indem sie sich freundlich an die einfachen Polizisten auf den Demonstrationen wendeten. Ein Slogan, der an die Polizisten gerichtet wurde, war: „Reiht Euch ein – Eure Mütter sind schon hier.“ Ein anderer war: „Konntet Ihr Euren Kindern ein Frühstück zubereiten, bevor Ihr sie heute morgen zu Schule geschickt habt ?“

Die Bewegung in Mexiko ist in den letzten Wochen schwächer geworden. Es ist aber davon auszugehen, dass sie einen umso stärkeren Aufschwung nehmen wird, wenn die Regierung erste Maßnahmen gegen die ArbeiterInnenklasse beschließen wird.

Celso Calfullan, Delegierter aus Chile, berichtete von der Massenbewegung der Schülerinnen und Schüler. Diese wurde als ein Wendepunkt für Chile gesehen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren erreichte eine Bewegung den Rücktritt eines Ministers und des Polizeichefs. Die SchülerInnen, die aufgrund ihrer Schuluniformen „Pinguine“ genannt werden, hatten breite Unterstützung in der Bevölkerung. Von besonderer Bedeutung war, dass sie nicht nur für konkrete bildungspolitische Forderungen eintraten, sondern die ganze Gesellschaft in Frage gestellt haben. Das hat große Auswirkungen und ist ein Vorzeichen für die Kämpfe und Bewegungen der Zukunft, vor allem wenn diese junge Generation als Arbeiterinnen und Arbeiter in die Betriebe eintreten wird.

Kuba

Während des Kongresses gingen Nachrichten über die Verschlechterung von Fidel Castros Gesundheitszustands um die Welt. Mittlerweile gibt es entgegengesetzte Informationen. Aber die Frage steht im Raum: was wird aus Kuba nach Fidels Tod?

Während Kuba nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in eine tiefe wirtschaftliche Krise geraten war, hat es sich aufgrund der Vorteile der Planwirtschaft und der Unterstützung durch Venezuela mittlerweile wieder wirtschaftlich erholt un strahlt neue Autorität aufgrund des guten Bildungs- und Gesundheitswesens aus. Gleichzeitig ist das Land voller Widersprüche und gibt es einen wachsenden Wunsch in der Bevölkerung und vor allem der Jugend nach demokratischen Rechten, Reisefreiheit etc.

Die hohe persönliche Autorität Fidel Castros und die Konfrontation mit dem US-Imperialismus haben die Regierung und das System einer bürokratisch kontrollierten Planwirtschaft bisher gestützt. Im Falle von Fidels Tod kann sich das ändern, auch weil mittlerweile ein großer Teil der Bevölkerung die Erfahrungen der Batista Diktatur vor der Revolution von 1959 nicht persönlich gemacht hat. Die Existenz einer radikalen, konterrevolutionären kubanischen Exil-Bevölkerung in den USA – die Nachkommen der enteigneten Kapitalisten und Großgrundbesitzer – macht aber einen schrittweisen und kontrollierten Übergang zum Kapitalismus schwieriger. Diese Erben der Diktatur wollen ihr Eigentum zurück und sind kaum zu Kompromissen bereit. Dies und die Verschiebung des kontinentalen Kräfteverhältnisses nach links macht eine schnelle kapitalistische Restauration nach Castros Tod unwahrscheinlich. Es werden vielmehr polarisierte Auseinandersetzungen stattfinden und letztlich wird entscheidend sein, wie sich die kubanische Jugend orientieren wird. Die Autorität von Chávez und die Entwicklungen in Venezuela können für die zukünftige Entwicklung Kubas dabei von größerer Bedeutung sein, als innere Veränderungen.

Es wurde auch diskutiert, dass Castros Tod international zu Demonstrationen und Großveranstaltungen in Gedenken an den Revolutionsführer führen werden, an denen sich die Sektionen des CWI beteiligen werden, um eine authentisch marxistische Sichtweise auf die Geschichte und die Perspektiven Kubas zu verbreiten.

Fazit

In Lateinamerika haben die Massenkämpfe der letzten Jahre nicht nur einige linke Regierungen an die Macht gebracht, sondern den Sozialismus wieder auf die Tagesordnung gesetzt und ins Massenbewusstsein gerückt. Das hat Auswirkungen weit über die Grenzen des Kontinents hinaus. Nicht zuletzt auch für die USA, in denen es eine wachsende lateinamerikanische Bevölkerung gibt. Aber auch in Europa verfolgen die bewusstesten Teile der ArbeiterInnenklasse die Geschehnisse in Venezuela, Bolivien und anderen Ländern mit großem Interesse und sehen die dortigen Kämpfe als große Inspiration.

Von entscheidender Bedeutung wird sein, ob es der ArbeiterInnenklasse gelingt eigenständige und unabhängige Massenorganisationen – ArbeiterInnenparteien, ArbeiterInnenkomitees in Betrieben und Stadtteilen – zu schaffen und ob es gelingt starke revolutionär-marxistische Organisationen aufzubauen, die den Kämpfen und Bewegungen eine sozialistische Perspektive, Strategie und Taktik aufzeigen können.

Um dies zu erreichen hat der Weltkongress des CWI auch praktische Maßnahmen beschlossen. So soll das Eingreifen des CWI in Venezuela und Bolivien verstärkt unterstützt werden, eine spanisch-sprachige Webseite eingerichtet werden und ein Sonderfonds zur Unterstützung der Arbeit in Lateinamerika eingerichtet werden.

Sascha Stanicic ist Bundessprecher der SAV und Mitglied im Internationalen Vorstand des CWI

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