Argentinien: Umbau von oben oder Umsturz von unten?

von Severin Berger

Repressive neue Gesetzgebung beim Demonstrationsrecht mit bis zu sechs Jahren Haft für Organisator*innen und dem Streichen aller sozialen Gelder für Teilnehmende, großflächige Deregulierungen und Kürzungen im Gesundheitsbereich, Verringerung des Mutterschutzes, Aufhebung des aktuellen Mietgesetzes und die Vorbereitung der Privatisierung staatlicher Unternehmen - diese Maßnahmen sind nur ein kleiner Teil der mehr als 300 angekündigten Gesetzesänderungen des neuen argentinischen Präsidenten Javier Milei. Unschwer zu erkennen ist die politische Richtung, in die diese Beispiele schlagen: feuchte Träume für “Ultraliberale” und Rechtspopulist*innen. Und genau als das wird Milei auch von vielen Medien beschrieben. 

Seit seiner Angelobung Anfang Dezember letzten Jahres hat Milei bereits 30 Dekrete erlassen, um einige der oben genannten Punkte schnellstmöglich anzugehen. Laut ihm, um durch enorme Deregulierung des Marktes gegen die andauernde Wirtschaftskrise und enorme Inflation vorzugehen. In der Realität hat sich die Situation allerdings verschlimmert: Bei einer Inflationsrate von mehr als 200% Anfang Jänner werden die Proteste gegen Milei immer größer und Teile seiner Pläne wurden bereits vom Obersten Gerichtshof vorerst auf Eis gelegt. Als Reaktion darauf verschärfte sich vor allem das Vorgehen der Polizei gegen Demonstrant*innen und Milei versucht seine präsidentielle Machtposition durch weitere Eingriffe zu stärken. Mit sozialen Kürzungen und Entlassungen, die mit Demokratieabbau und Repression einhergehen, ist Milei nicht allein. Diese Art von autokratischem Verhalten, also den Versuch der Machtkonzentration auf eine oder wenige Personen, sehen wir mittlerweile immer öfter. Zum Beispiel bei Figuren wie Orban in Ungarn oder Netanjahu in Israel. Glaubt man den Zahlen des "Economist", leben nun so wenig Menschen unter (bürgerlich) demokratischen Strukturen wie seit zumindest 1989 nicht mehr, Tendenz sinkend.

Wie finden wir den Weg nach vorne?

In welche Richtung sich Argentinien entwickeln wird, ist, trotz Mileis Bemühungen, vor allem von der gesamtgesellschaftlichen Reaktion abhängig. Wir sehen bereits seit Wochen andauernde Proteste, die teilweise bereits im Dezember von Streiks unterstützt wurden. Die Zuspitzung der Situation ist unausweichlich und inmitten der Aufstände und wachsenden Unzufriedenheit wird deutlich, dass der Weg nach vorne nicht allein von der Ablehnung Mileis abhängt, sondern von einer notwendigen tiefgreifenden sozialen Veränderung.

Die Verstärkung gesellschaftlicher Probleme und Krisen in der gesamten kapitalistischen Logik macht die Notwendigkeit eines sozialistischen Programms immer dringlicher. Dabei ist es unabdingbar, die Erfahrungen der Vergangenheit mit einzubeziehen, so zum Beispiel die der feministischen Bewegungen der letzten Jahre und der Massenbewegung 2001, durch die, vor einem ähnlichen Hintergrund sozialer Angriffe, die Regierung gestürzt wurde. Damals sahen wir einen Generalstreik, wie auch jetzt am 24. Jänner, sowie massenhafte Fabriksbesetzungen. Und ein Programm heute muss genau da ansetzten wo 2001 Schwächen zum Verlust zurück an das Establishment geführt haben: wirkliche demokratische Kontrolle der Proteste, mit Forderungen, die unbedingt den aktuellen Attacken die Stirn bieten, aber auch auf gesellschaftlicher Ebene weiter gehen als nur ein Zurückweisen der Gesetzesänderungen. Ohne ein solches Programm, dass allen Teilen der Arbeiter*innenklasse Stimme und Perspektive gibt, wird es schwierig, eine Bewegung gegen die populistischen Angriffe von Milei, aber auch gegen die Vereinnahmung durch das alte Lager des Peronismus zu wappnen. Denn dieses, das auch noch in den Gewerkschaften dominiert, hat den Boden für Milei erst bereitet. Deswegen muss aus der Bewegung eine neue sozialistische politische Kraft aufgebaut werden, die nicht nur Milei, sondern auch das System, das ihn hervorgebracht hat, besiegen kann.

Infobox: 

Ähnlich wie in anderen Ländern wird der neue Präsident in seinen Vorhaben vom argentinischen Kapital und teilweise auch von außerhalb, z.B. dem trumpschen politischen Umfeld, unterstützt - gleichzeitig geht er auch Teilen des Kapitals zu weit und stützt sich so auf vor allem auf, an die Mittelschichten gerichteten, Populismus. Dies deutet auf eine Art "bonapartistische" Entwicklung hin. Bonapartismus wird von Marx als Reaktion auf massive Krisen beschrieben, bei denen die Bourgeoisie ihre Macht an eine verselbständigte Exekutivgewalt abgibt, um die "bürgerliche Ordnung" aufrechtzuerhalten, also wenn der Staatsapparat, trotz Bindung an die herrschende Klasse, eine gewisse Unabhängigkeit von den Klassen annimmt. Marx entwickelte das Konzept anhand der Herrschaft von Napoleon III., seither haben wir viele Varianten davon gesehen. Gemeinsam ist ihnen die Kombination aus Populismus und Klassenkampf von oben und die Machtkonzentration auf immer weniger Individuen - und die damit einhergehende Instabilität. 

Foto: Mídia NINJA via La Mar de OnubaCC BY-NC 4.0 Deed

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