Frankreich, Mai 1968 – Ein Monat, der die Welt erschütterte

Entgegen dem Mythos einer bloßen Studierendenrevolte stand tatsächlich die Frage einer durch die ArbeiterInnen erkämpften sozialistischen Revolution auf der Tagesordnung.
Jan Rybak

Im Mai 1968 streikten in Frankreich zehn Millionen ArbeiterInnen. Die StudentInnen hatten die Universitäten besetzt, ArbeiterInnen die Fabriken. Auch große Teile nicht proletarischer Schichten radikalisierten sich nach links. Und selbst Teile von Armee und Polizei solidarisierten sich mit den kämpfenden ArbeiterInnen und StudentInnen. Frankreich stand nur wenig vor dem Sturz des Kapitalismus und dem Aufbau einer neuen Gesellschaft.

Internationale Bewegungen

Die Ereignisse im Mai 1968 in Frankreich fanden vor dem Hintergrund einer Welle von Kämpfen in der ganzen Welt statt. In Nordirland organisierte sich eine neue Unabhängigkeitsbewegung von katholischen ArbeiterInnen und Jugendlichen. In vielen Ländern Afrikas kämpften die Massen gegen die koloniale Unterdrückung. Von den USA ausgehend demonstrierten Millionen Menschen für das Ende der blutigen amerikanischen Intervention in Vietnam. In der stalinistischen Tschechoslowakei kämpfte die Bevölkerung für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. (Siehe auch “1968-Chronologie”)

Vermögenswachstum – aber auf Kosten der Massen

Auf Grund des langen Nachkriegsaufschwungs boomte die französische Wirtschaft noch im Jahr 1968. Für die ArbeiterInnenklasse und die Jugend, die den Aufschwung möglich gemacht hatte, fielen Brosamen vom Tisch der Reichen ab. Die durchschnittliche jährliche Einkommenssteigerung von 5% und dass sich der Privatbesitz von Pkws von 1958 bis 1968 verdoppelt hatte, zeugen von einer Hebung der sozialen Situation der qualifiziertesten Schichten der ArbeiterInnenklasse. Aber diese Verbesserung entstand vor dem Hintergrund einer verschärften Ausbeutung der Mehrheit der ArbeiterInnen und der Jugend. In den gigantischen Fabrikhallen, die im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs überall wie Pilze in die Höhe geschossen waren, wurden hunderttausende ArbeiterInnen wie Vieh gehalten. Eine eigene Werkspolizei achtete rigide darauf, dass die Beschäftigten sich nicht gegen das Management auflehnten. Bei Citroen in Paris war beinahe die Hälfte der Belegschaft ImmigrantInnen, deren Löhne bedeutend niedriger waren als die ihrer französischen KollegInnen und die außerdem keinerlei politische, soziale und gewerkschaftliche Rechte besaßen.
Die Universitäten waren regelrechte Bildungskasernen, deren Ziel weniger die Vermittlung von Wissen als die Disziplinierung der StudentInnen war. In völlig überfüllten Hörsälen wurde den StudentInnen der staatlich kontrollierte Lernstoff vorgesetzt, ohne Möglichkeiten zur Kritik und Selbständigkeit zuzulassen. In überteuerten, heruntergekommenen Wohnheimen wurden sie zusammengepfercht.

StudentInnenrevolte

Am 1. Mai 1968 demonstrierte die Pariser Bevölkerung unter dem Slogan “10 Jahre sind genug”. Gemeint waren die zehn Jahre seit dem Machtantritt des reaktionären Generals Charles De Gaulle. Am 6. Mai demonstrierten StudentInnen für die Aufhebung der Geschlechtertrennung in den Wohnheimen. Das Thema war nur Ausdruck einer breiteren Unzufriedenheit. Die Proteste wurden von der Polizei brutal unterdrückt, woraufhin sich StudentInnen stundenlange Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften lieferten. Nach Umfragen unterstützten 80% der  Pariser Bevölkerung die StudentInnen. Die Regierung war gezwungen Zugeständnisse zu machen. Diese waren jedoch so gering, dass sie einerseits die Menschen nicht von den Kämpfen abhalten konnten und andererseits vielen die Möglichkeit aufzeigte, durch Kämpfe die eigene Situation zu verbessern.

Der Kampf beginnt

Eine große Zahl junger ArbeiterInnen sah in den Protesten der StudentInnen Perspektiven für die Lösung ihrer eigenen bedrückenden sozialen Situation. Die ArbeiterInnenjugend riss ihre älteren KollegInnen mit. Bald traten auch sie in den Streik; bei Sud Aviation gegen Kündigungen und bei der Post für höhere Löhne. Der Druck auf die Spitze der Massenorganisationen der ArbeiterInneklasse erhöhte sich deutlich. Die Gewerkschaftsmitglieder drängten die Führungen von CFDT (ehemals katholischer Gewerkschaftsbund) und CGT (größter Gewerkschaftsbund; kommunistisch dominiert) zu einem harten Konfrontationskurs mit der Regierung und den KapitalistInnen. StudentInnen der Pariser Sorbonne und anderer Universitäten, die ihre Institute besetzt hatten, schickten Delegationen zu den Fabriken, um die ArbeiterInnen zum gemeinsamen Kampf aufzufordern. Die “kommunistische” Gewerkschaftsführung versuchte – da sie den Verlust ihres Einflusses befürchtete – zu spalten und denunzierte die kämpfenden StudentInnen und ArbeiterInnen als “AnarchistInnen”, die die “Ordnung” stören würden. Doch als Folge des Drucks von unten mussten die Gewerkschaften für den 13. Mai einen eintägigen Generalstreik ausrufen. Der Streik war ein gewaltiges Zeichen der Stärke der ArbeiterInnenklasse. In Paris demonstrierten eine Million Menschen. Zu Massendemonstrationen kam es auch in anderen Städten, wie etwa Marseille (50.000), Bordeaux (50.000) oder Lyon (60.000). Doch entgegen ihrer eigenen Planung war es der Gewerkschaftsführung unmöglich den Streik nach einem Tag abzubrechen.

Die schweren Bataillone

Am 19. Mai streikten zwei Millionen, am 21. Mai bereits zehn Millionen ArbeiterInnen. In immer mehr Fabriken traten die Belegschaften in den Ausstand. Und nicht nur das. Die 60.000 Renault-ArbeiterInnen besetzten alle ihre sechs Fabriken. Die Gechäftsleitung wurde in ihren Büros eingesperrt. In der Renault-Getriebefabrik bei Rouen, bei Citroen in Paris und in vielen weiteren Betrieben im ganzen Land hissten ArbeiterInnen rote Fahnen auf den Dächern. Jeden Tag weiteten sich die Streiks und Proteste aus. LehrerInnen, SchülerInnen, Krankenhauspersonal, BergarbeiterInnen, FluglotsInnen, AnwältInnen, Beamte, WerftarbeiterInnen, SchauspielerInnen und viele mehr traten in den Streik. Selbst Priesterseminaristen solidarisierten sich mit der kämpfenden französischen ArbeiterInnenklasse. In der Armee und der Polizei gärte es. In weiten Teilen des Landes entstanden ArbeiterInnen-, Bauern- und StudentInnenräte. In manchen Gebieten, wie z.B. dem Departement Loire-Atlantique oder den Städten Nantes und Caen, übernahmen diese als direkte Selbstvertretungsorgane der Bevölkerung die faktische Macht. Landarbeitergewerkschaften versorgten die Streikenden mit Essen.
Die Bewegung war auf ihrem Höhepunkt. Entscheidend dafür war, dass die engen Grenzen, die den StudentInnen und ihren Aktionen gesteckt waren, durchbrochen worden waren. Die ArbeiterInnenklasse hatte sich mit ihrer gesamten Macht in den Kampf begeben. Die “leichte Kavallerie”, wie Trotzki die StudentInnen und Intellektuellen bezeichnete, hatten die “ersten Manöver” durchgeführt. Ein Sieg ist aber nur mit Hilfe der “schweren Bataillone des Proletariats” – sprich der ArbeiterInnenklasse möglich. In kürzester Zeit hatte sich Frankreich von einem Land “das sich langweilt”, wie die Zeitung Le Monde noch im März festgestellt hatte, zu einem Land in einer vorrevolutionären Situation entwickelt. Die ArbeiterInnenklasse hatte mit Unterstützung durch StudentInnen und Bauern dem Kapitalismus einen entscheidenden Schlag versetzt. Der endgültige Sturz des Kapitalismus und der Aufbau eines demokratischen Sozialismus stand auf der Tagesordnung. Ende Mai lag die Macht auf der Straße – doch die Führung der ArbeiterInnenorganisationen weigerte sich, sie aufzunehmen.

Der Wendepunkt

Präsident Charles De Gaulle kehrte am 19. Mai von einem Staatsbesuch in Rumänien zurück und reiste, da er den Pariser Ellyseepalast für nicht sicher genug hielt, kurz darauf zu den französischen Streitkräften nach Deutschland.
Die Führung der beiden Gewerkschaften versuchte mit allen Mitteln die revolutionäre Bewegung zu bremsen und sie “in parlamentarische Bahnen” zu lenken, wie es der “kommunistische” Gewerkschaftsführer Georges Seguy ausdrückte. Auf dem Höhepunkt der Streikbewegung wollten CGT- und CFDT-Führer mit der Regierung verhandeln! Mit einer Regierung also, die es de facto nicht mehr gab, die keinerlei Macht mehr besaß und teilweise geflohen war. Die KP bestand darauf, dass der Kampf streng auf Löhne und Arbeitsbedingungen beschränkt sei, auf die “unmittelbaren Forderungen” der 40-Stunden-Woche, eines höheren Mindestlohns und größerer sozialer Sicherheit. Als Seguy am 27. Mai in den Renault-Werken in Billancourt auftrat, um stolz zu verkünden, dass er in Verhandlungen Erhöhungen der KV-Löhne von bis zu 80 % und die besten Sozialleistungen seit Kriegsende herausgeholt hätte, wurde er ausgepfiffen und seine Rede von einer aus 30.000 Kehlen gebrüllten Parole unterbrochen: “Gouvernement populaire!” (Volksregierung). Trotzdem ließen sich die GewerkschaftsführerInnen auf die faulen Kompromisse mit der Regierung ein. Der Sturz des Kapitalismus und der Aufbau einer neuen, demokratisch-sozialistischen Gesellschaft wurde geopfert. Am 30. Mai kehrte Charles De Gaulle mit einer Panzerarmee nach Paris zurück. Die letzten Streiks endeten im Herbst.

Die Lehren des Mai 1968

Das Bewusstsein von Millionen Menschen hatte sich im Mai 1968 innerhalb weniger Wochen von Kämpfen für soziale Verbesserungen hin zum Aufbau einer neuen Gesellschaft verändert. Doch die Bewegung wurde von ihrer Führung verraten. Die Führung der KPF und der Gewerkschaften, die alles andere als Interesse am Sturz des Kapitalismus zeigten, hatten die Bewegungen auf Tagesforderungen reduziert, gebremst und sie damit ausgeliefert. Das Problem war der Mangel an einer “alternativen” revolutionären Massenorganisation, die nach dem Versagen der “kommunistischen” Führung die Bewegung zum Sieg hätte führen können. Trotz alledem strahlte die Bewegung auf viele Länder Europas und der ganzen Welt aus. In Spanien, Griechenland, Großbritannien, Deutschland und im Besonderen in Italien radikalisierten sich StudentInnen und weite Teile der ArbeiterInnenklasse und traten den Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse an. Wäre die Revolution in Frankreich erfolgreich gewesen und nicht von ihrer “Führung” verraten worden – es wäre wohl der Beginn einer neuen Zeit für Europa und die Welt geworden.
Auch heute stellt sich in Frankreich und International die Frage des Aufbaus neuer kämpferischer Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Jugend. In Frankreich, Deutschland, Griechenland und viele anderen Ländern ist es in den letzten Jahren wieder vermehrt zu Streiks und Kämpfen gegen Regierung und Kapital gekommen. Viele weitere werden folgen. Entscheidend für den Erfolg dieser Bewegungen ist, ob die ArbeiterInneklasse und die Jugend dann mit ihren eigenen kämpferischen Parteien und Gewerkschaften auftreten kann.
La lutte continue – der Kampf geht weiter!

Mehr zum Thema: 
Erscheint in Zeitungsausgabe: