Marx aktuell

Seufzer der bedrängten Kreatur, Geist geistloser Zustände
Sebastian Kugler

Ihren Ursprung haben Religionen in den Urgesellschaften, die versuchten, sich Naturphänomene zu erklären. Für Fragen wie „Warum geht die Sonne auf und unter?“ wurden Antworten gesucht. Auch heute werden hinter Phänomenen, für die wissenschaftliche Erklärungen noch fehlen, oft noch „höhere Mächte“ vermutet. Mit der Entwicklung der ersten Klassengesellschaften „treten neben den Naturmächten auch gesellschaftliche Mächte in Wirksamkeit. Die Phantasiegestalten […] erhalten damit gesellschaftliche Attribute, werden Repräsentanten gesellschaftlicher Mächte.“ (F. Engels, Anti-Dühring, 1876-78)

Die Religion wurde schon in frühen Klassengesellschaften als Rechtfertigung für Herrschaft herangezogen. Die ägyptischen PharaonInnen waren vom Sonnengott Re eingesetzt, römische Kaiser leiteten ihre Legitimation von göttlichen Patronen ab.

Nach und nach bekamen monotheistische Religionen die Oberhand. Das Christentum zeigt viele Facetten der Religion. Es begann als Ausdruck sozialen Protests in den Provinzen des röm. Reichs. Es war „der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend“ (K. Marx). Das Gottes- und Gesellschaftsbild der modernen Religionen Christentum & Islam erwies sich als guter Träger der ökonomischen Entwicklungen. Die Feudalgesellschaft verwandelte freie Bauern in Leibeigene, die Religionen dienten als Kitt zwischen ihnen und dem Adel. Einmal an der Macht, dienten sie als Rechtfertigung für Beutezüge der Herrschenden. Die Paradiesvorstellungen der monotheistischen Religionen erwiesen sich als doppelt nützlich: Denjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion Demut und Langmut hienieden und vertröstet ihn mit der Hoffnung auf himmlischen Lohn. Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion Wohltätigkeit hienieden, womit sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung ihres ganzen Ausbeuterdaseins anbietet.“ (W.I. Lenin, Sozialismus und Religion, 1905)

Für MarxistInnen ist Religion keine individuelle Dummheit, wie bürgerlich-atheistische KritikerInnen wie Dawkins oder Onfray meinen. Sie entspringt gesellschaftlichen Missständen, der Entfremdung des Menschen von sich selbst. Marx folgert daraus: „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. “ (K.Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1843)

MarxistInnen kämpfen deshalb gegen Auswüchse der Religion (Homophobie, Sexismus etc.), verteidigen aber gleichzeitig die Religionsfreiheit. Damit die Religion aufhört, ein Spaltungsmittel der Herrschenden zu sein, muss sie vom Staat getrennt sein und sämtliche Privilegien verlieren. Überwunden werden kann sie nur durch die Überwindung der Klassengesellschaft. Durch keine Propaganda kann man das Proletariat aufklären, wenn es nicht durch seinen eigenen Kampf gegen die finsteren Mächte des Kapitalismus aufgeklärt wird. Die Einheit dieses wirklich revolutionären Kampfes der unterdrückten Klasse für ein Paradies auf Erden ist uns wichtiger als die Einheit der Meinungen der Proletarier über das Paradies im Himmel. (W.I. Lenin, ebd.)

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