Worum geht's beim Kampf "AKP-Regierung gegen "Militär"?

Michael Gehmacher

Mit der Gründung der türkischen Republik wurde der "Kemalismus" (benannt nach dem Staatsgründer Kemal Atatürk) türkische Staatsideologie. Die herrschende Klasse rund um Atatürk verknüpfte gesellschaftliche Reformen, wie die Trennung von Kirche und Staat, die (formale) Gleichberechtigung von Frauen und Männern, und ein allgemeines Schulwesen mit einem aggressiven türkischen Nationalismus und einer Sonderstellung des Militärs als Hüter der "kemalistischen Prinzipien". Dazu gehört ein regelmäßiges Eingreifen des Militärs in das politische Geschehen, ein Leugnen des armenischen Genozids im Ersten Weltkrieg und eine massive Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung. Durch die Enttäuschung vieler KurdInnen über die türkische Linke, fand die bewaffnete kurdische Befreiungsbewegung ab Mitte der 80er Jahre eine Massenunterstützung im kurdischen Teil der Türkei. Permanente militärische Auseinandersetzungen waren die Folge. Um in zugespitzten Situationen die soziale Lage der Bevölkerung verbessern zu können, gehörte zum Kemalismus immer auch ein staatliches Eingreifen in die Wirtschaft. Eine Folge davon war eine Vielzahl staatlicher Konzerne, die wichtige Bastionen der türkischen ArbeiterInnenbewegung darstellen und heute Zug um Zug privatisiert werden.
Nach dem Militärputsch 1980 geriet der Kemalismus in eine politische Krise. Die offiziell zugelassenen Parteien verließen sich auf die Sicherung von Staatsposten durch das Militär. Und sie vertrauten massiv auf die Unterstützung der NATO und der USA als deren Bündnispartner in der Region. Verstärkt durch die Wirtschaftskrise und die hohen Militärausgaben, waren die kemalistischen Parteien unfähig, die sozialen Probleme zu lösen. Dazu wucherte eine unglaubliche Korruption. Die Linke war duch den Militärputsch und die Krise des Stalinismus extrem zurückgeworfen. Es entstand ein Vakuum, das islamische Kräfte für sich nutzen konnten. In den großen Vorstädten entstanden islamische Wohlfahrtszentren und Schulen, die bei der verarmten Bevölkerung immer beliebter wurden. 2003 erreichte die islamisch populistische AKP eine überwältigende absolute Mehrheit. Die kemalistischen Parteien scheiterten an der 10% Hürde. 2007 erreichte sie noch einmal 47%. Die AKP ging aus der 2001 verboten islamischen Wohlfahrtspartei hervor. Mit viel Geld und einem starken sozialen Populismus war sie erfolgreich. Warum? Es wäre gänzlich falsch, die Wahlsiege der AKP auf eine Islamisierung der Gesellschaft zu reduzieren. Der Erfolg der AKP beruht stark auf der Ablehnung des alten kemalistischen Systems. Die AKP versprach, mit der Unterdrückung durch Polizei, der Allmacht des Millitärs, Repression gegen die KurdInnen, der Armut und der Korruption Schluss zu machen. Unter Druck der Bevölkerung und der EU-Anpassung geht sie immer wieder Schritte in diese Richtung. Sobald sich aber die türkische herrschende Klasse bedroht fühlt, pendelt die AKP wieder zurück.
Die AKP versucht nun Stück für Stück ihre Macht auszubauen, indem sie den Einfluss der alten kemalistischen Eliten in Militär, Verwaltung und Gerichtshöfen zurückdrängt. Zum Teil bedient sie sich dabei für die Türkei typischen polizeistaatlichen Methoden. In dieser Situation kommt es zu verwirrenden Interessenskoalitionen. So hoffen manche türkischen Frauen oder manche Vertreter religiöser Minderheiten, aus Angst vor einem zu großen islamischen Fundamentalismus, auf einen Militärputsch. Die AKP wiederum braucht die Stimmen der KurdInnen und ArbeiterInnen zum Machterhalt. Viele KurdInnen setzten daher pragmatisch auf die AKP, aus Angst vor dem Militär und in der Hoffnung auf mehr Rechte. Tatsächlich pendelt die AKP - um ihre Haut zu retten - immer zwischen verschiedenen Flügeln der herrschenden Klassen hin und her. Die Lockerung des kurdischen Sprachverbots und der Parteienregelung einerseits und das Verbot und die Repression gegen Anhänger der kurdischen DTP anderseits, sind ein typisches Beispiel für diesen politischen Seiltanz.  Auch in der Außenpolitik übt man sich manchmal in antiimperialistischen Sprüchen, hält gleichzeitig aber am Bündnis mit den USA/NATO fest.
Doch vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und dem wachsenden Unmut in der Bevölkerung werden diese Seiltänze zunehmend schwieriger. Jetzt hat der Tekelstreik den Verfall des AKP-Systems massiv beschleunigt. Der Tekelstreik hat aber auch deutlich gemacht, dass wenn es gegen die ArbeiterInnen geht, der islamische und der kemalistische Teil der herrschenden Klasse zusammenhalten.

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