Wie Sexismus und Gewalt an Frauen bekämpfen?

Sarah Moayeri

Sozialistische Antworten auf sexistische Spaltung, Identitätspolitik und Fragen nach dem Umgang mit Sexismus innerhalb der Linken und Arbeiter*innenbewegung

Der Kampf gegen Frauenunterdrückung war schon immer und ist auch heute untrennbar mit dem Kampf um eine sozialistische Umwälzung der Gesellschaft verbunden. Sexismus und Frauenunterdrückung ziehen sich durch alle unsere Lebensbereiche und drücken sich sehr unterschiedlich aus: Ungleiche Bezahlung, prekäre Arbeitsbedingungen in sogenannten “frauendominierten” Berufen, massive Doppelbelastung durch unbezahlte Kindererziehung, Hausarbeit und Pflege von Familienangehörigen, Sexismus am Arbeitsplatz, in der Familie und in Partnerschaften, sexistische Rollenbilder in Medien, Bildung und Erziehung, Diskriminierung, sexistische Übergriffe und Gewalt: Das alles gehört zum Alltag für Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft. Trotz einiger Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte zur (rechtlichen) Gleichstellung von Frauen ist Sexismus und Unterdrückung weiterhin allgegenwärtig. Die Corona-Krise hat aktuell weltweit zu einem, in einigen Ländern dramatischen Anstieg an Gewalt an Frauen und Femiziden (Morde an Frauen aufgrund ihres Geschlechts) geführt. Wie in jeder ökonomischen Krise leiden Frauen mitunter am meisten unter Arbeitslosigkeit, Armut, Perspektivlosigkeit und Austeritätspolitik. Der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen und anderer medizinischer Versorgung wird zunehmend eingeschränkt. Zusätzlich dazu hat die Corona-Krise durch ihre spezifischen Charakteristika zu einer Isolation und zu einer Situation geführt, in der viele Frauen noch stärker als bisher in traditionelle Familienstrukturen geraten sind und in den eigenen vier Wänden gefangen und damit auch der Gewalt durch den Partner oder durch andere Familienmitglieder schutzlos ausgeliefert waren. Auf besonders bedrückende Art hat die Corona-Krise gezeigt, wie abhängig der Kapitalismus vor allem in Krisenzeiten von der bürgerlichen Familie und konservativen Rollenbildern ist - mit allen negativen Auswirkungen.

Doch dieser Anstieg an Gewalt an Frauen passiert auch in einer Zeit, in der durch verschiedene Frauenbewegungen in diversen Ländern in den letzten Jahren eine Veränderung des Bewusstseins und einer Radikalisierung von insbesondere jungen Frauen anhand der Fragen von eigenen Diskriminierungserfahrungen, Sexismus und ganz besonders (sexualisierter) Gewalt stattgefunden hat. Sehr viele (junge) Frauen wollen traditionelle Rollenbilder, grenzüberschreitendes Verhalten, Sexismus und Gewalt nicht länger dulden. Das Stichwort heißt: Nulltoleranz gegenüber sexistischem Verhalten. Auch Sexismus innerhalb der eigenen Reihen - also der feministischen Bewegung und der breiten Linken, innerhalb von linken Organisationen und der Arbeiter*innenbewegung wird zunehmend nicht mehr akzeptiert und offensiver als in der Vergangenheit angeprangert. Das ist eine sehr wichtige Entwicklung für eine erfolgreiche Emanzipation von Frauen und drückt eine wesentliche Politisierung gegen spezifische Unterdrückung aus. Gleichzeitig zeigen die jüngsten feministischen Kämpfe und Bewegungen - von #metoo bis hin zu den Kämpfen um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch - dass es das notwendige politische Programm, Klarheit, Führung und Strategie braucht, wie Sexismus nachhaltig und langfristig zurückgedrängt werden kann. Oft blieb und bleibt es bei individualisierten Antworten auf gesellschaftliche Probleme. 

Sozialistische Antworten auf Frauenunterdrückung, Programm und Kampfvorschläge müssen auf einer marxistischen Analyse von der Funktion und von Auswirkungen von Sexismus und Gewalt an Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft basieren. Der Kampf für ein Ende von Frauenunterdrückung kann nicht ohne eine Perspektive für eine grundlegende Überwindung des Kapitalismus zugunsten einer sozialistischen Demokratie gewonnen werden. Veränderung kann nur erreicht werden, wenn wir das Übel an der Wurzel packen. Gleichzeitig braucht es eine gezielte Anstrengung von Sozialist*innen, die doppelte Unterdrückung von Frauen (als Arbeiterinnen und Frauen) in ihrer Tiefe und Ausprägung zu begreifen, gegen sexistisches Verhalten in den eigenen Reihen und in der gesamten Arbeiter*innenbewegung vorzugehen und Forderungen für konkrete Verbesserungen aufzustellen und den Kampf um diese zu führen.

Ursachen von Frauenunterdrückung und Sexismus

Es gibt eine Reihe von marxistischer Literatur über die Ursachen der Entstehung von Frauenunterdrückung in der Gesellschaft - nicht alles kann in diesem Artikel ausgeführt werden. Die wegweisenden Analysen von Friedrich Engels, Clara Zetkin, Alexandra Kollontai und anderen zeichnen sich in erster Linie darin aus, dass sie die dialektische Verbindung von der Entwicklung der Klassengesellschaft und der Unterdrückung der Frau beschreiben und analysieren. Engels skizziert in seinem Werk “Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates”, wie die Entstehung von Privateigentum und damit der Klassengesellschaft die Funktion der “traditionellen” Familie in der Gesellschaft prägte: „Die Führung des Haushalts verlor ihren öffentlichen Charakter. Sie ging die Gesellschaft nichts mehr an. Sie wurde ein Privatdienst; die Frau wurde erste Dienstbotin, aus der Teilnahme an der gesellschaftlichen Produktion verdrängt.“ Engels ging auch davon aus, dass sich in dieser Zeit ein erster Produktionsüberschuss - durch die zum Teil bereits existierende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung - letztlich in erster Linie in den Händen der Männer ansammelte. Die Sicherstellung der Vererbung dieses Besitzes an die eigenen Kinder machte es nötig, sich die Treue der eigenen Frau zu sichern - so entstanden in einem langen und keineswegs gradlinigem Prozess erstmals Strukturen der monogamen Familie und damit die ersten Formen der Unterdrückung von Frauen.

Die sich später entwickelten Klassengesellschaften und letztlich die kapitalistische Gesellschaft profitierten von dieser vorkapitalistischen strukturellen Ungleichstellung von Frauen - und damit der Spaltung der Arbeiter*innenklasse in Männer und Frauen - und der Kapitalismus tut das heute noch. Obwohl der familiäre Haushalt als grundlegende Produktionseinheit durch das kapitalistische Produktionssystem weitestgehend zerstört worden war, blieb die Familie weiterhin bestehen, als Mittel, durch welches die neue Klasse des Proletariats sich selbst und ihre Arbeitskraft reproduzierte und disziplinierte. Clara Zetkin schrieb dazu außerdem: “Die Frau des Proletariats hat ihre wirtschaftliche Selbständigkeit erlangt, aber weder als Mensch noch als Frau, noch als Gattin hat sie die Möglichkeit, ihre Individualität voll ausleben zu können. Für ihre Aufgabe als Gattin, als Mutter bleiben ihr nur die Brosamen, die die kapitalistische Produktion ihr vom Tische fallen lässt.”

Auch wenn sich selbstverständlich im letzten Jahrhundert vieles an der “traditionellen” Familie und an der Rolle der Frau in der Gesellschaft geändert hat, sind die grundlegenden Strukturen und ist die ökonomische Basis für die Ungleichstellung von Frauen im Kapitalismus gleich geblieben. Auch wenn sich seit dem 19. und 20. Jahrhundert die bürgerliche Ideologie in Bezug auf die Stellung von Frauen in der Gesellschaft verändert und weiterentwickelt hat und die Frauen- und Arbeiter*innenbewegung Veränderungen erkämpfen konnte, basieren die Wert- und Rollenvorstellungen der Geschlechter im kapitalistischen System, das auf Macht, Ausbeutung und der ungleichen Verteilung von Reichtum basiert, immer noch auf Vorstellungen von männlicher Überlegenheit.

Die Ersparnis für die Herrschenden durch unbezahlte Hausarbeit, Kindererziehung und Pflege sind heutzutage massiv. Oxfam hat Anfang 2020 eine Studie veröffentlicht, laut welcher Frauen und Mädchen weltweit jeden Tag zwölf Millionen Stunden der Pflege von Angehörigen, der Kindererziehung und dem Haushalt widmen. Wenn diese Arbeit mit dem Mindestlohn des jeweiligen Landes bezahlt würde, entspräche das einer Summe von 11 Billionen US-Dollar im Jahr. Das kapitalistische System wird offensichtlich durch diese zusätzliche Ausbeutung stabilisiert.

Das Abwälzen dieser Aufgaben auf Frauen und in private Sphären führt einerseits zu Mehrfachbelastungen und verfestigt andererseits Abhängigkeiten und das ideologische Bild der Frau, die dem Mann (als dem Herr im Haus) unterstellt ist und die als sanftere, fürsorgliche Person dargestellt wird, die aus biologischen Gründen für alle Bereiche der Care-Arbeit zuständig und “einfach besser geeignet” sei. Lohnunterschiede, prekäre Arbeitsbedingungen und die Tatsache, dass die Arbeitskraft von Frauen schlecht(er) bezahlt wird, vertieft die Spaltung zwischen Männern und Frauen aus der Arbeiter*innenklasse. Weltweit dienen Frauen immer noch als besonders billige Arbeitskräfte. Das ist die grundlegende gesellschaftliche Basis, auf der Sexismus und Gewalt an Frauen wächst. Wenn Frauen eine ungleiche Stellung in der Gesellschaft haben, werden sie auch ungleich und als minderwertig behandelt, diskriminiert, unterdrückt. Gleichzeitig haben sich frauenfeindliche und sexistische Ideologien über Jahrhunderte hinweg entwickelt und fortgeschrieben, wodurch sie tief verankert sind in der bürgerlichen Gesellschaft, in unseren Köpfen und daher auch innerhalb der Arbeiter*innenklasse. Die Veränderungen und Fortschritte im Bewusstsein, insbesondere von jungen Frauen, haben daran bisher nichts Grundlegendes verändert, da die Strukturen noch dieselben sind.

Sexismus (im Sinne von sexistischem Verhalten) ist also eine Form der Diskriminierung (aufgrund des Geschlechts), die auf dieser strukturellen Ungleichstellung von Frauen im Kapitalismus basiert. Formen von Sexismus wie abwertende Sprüche, Vorurteile, rückschrittliche Rollenbilder etc. entwickeln sich aufgrund von gesellschaftlichen Verhältnissen, die Männer und Frauen ungleich behandeln. Diese materielle Basis zu verstehen ist auch die Grundlage für ein wirksames Übergangsprogramm zur Bekämpfung von Sexismus.

Gewalt an Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft

Die beschriebene systematische Unterdrückung von Frauen findet ihren dramatischsten Ausdruck in der Vermarktung, Objektifizierung, Kontrolle von Frauenkörpern und daraus folgend systematischer Gewalt bis hin zu Femiziden. Jede dritte Frau weltweit wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt. Allein in Österreich gab es im ersten Halbjahr 2020 16 Frauenmorde. Der systemimmanente Frauenhass basiert darauf, dass Männer immer noch als das "stärkere", "klügere" und "bessere" Geschlecht gelten, Frauen als minderwertig und unterwürfig. Gewalt an Frauen, Frauenmorde dienen auch dazu, Frauen passiv zu halten, einzuschüchtern und das daraus folgende Signal an alle Frauen lautet: Dein Körper gehört nicht dir - wir können mit dir tun, was wir wollen. Eingeschränkter und kriminalisierter Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen (bzw. in anderen Fällen erzwungene Geburtenkontrolle) ist auch ein Ausdruck dieser Kontrolle über weibliche Körper, weibliche Sexualität und Reproduktion.

Das kapitalistische System und der bürgerliche Staat reproduzieren diese Gewalt auf vielfache Art und Weise: Sei es durch sog. “rape culture”, also die kulturelle Akzeptanz von Gewalt an Frauen und Vergewaltigungen durch Medien, Musik, Filme etc. bis hin zum Justizsystem, das von patriarchalen Strukturen durchdrungen ist. 

Es ist kein Zufall, dass auch die neuen Frauenbewegungen Gewalt an Frauen offensiv thematisieren und meistens zum zentralen Thema haben. Die unmittelbare Gefahr, welcher Frauen Zuhause, in Partnerschaften, am Arbeitsplatz und auf offener Straße ausgesetzt sind, hat offensichtlich direkte Auswirkungen auf das Leben und den Alltag als Frau. Der gefährlichste Ort für Frauen ist weiterhin das eigene Zuhause.

Zusätzlich dazu hat Gewalt an Frauen noch weitergehende, subtilere Facetten, die persönliche Beziehungen und die Auswirkungen von Sexismus in diesen betreffen: Insbesondere in zwischenmenschlichen / partnerschaftlichen Beziehungen spielt psychische Gewalt eine große Rolle für die Einschüchterung und Abwertung von Frauen. Die daraus folgende Bedrohung, Angst und Abhängigkeit kann zu massiven psychischen Folgen führen. Männliche Dominanz geht oft einher mit psychischer Manipulation, systematischer Abwertung und emotionalem Druck. 

(Sexualisierte) Gewalt gegen Frauen ist ein Produkt der kapitalistischen Gesellschaft,

in der Menschen - insbesondere Männer - in allen Sphären ihrer Sozialisierung darauf konditioniert werden, Frauen als minderwertig oder als Objekte anzusehen. Im Kapitalismus wird mit der Marginalisierung und Objektifizierung von Frauen und ihren Körpern Profit gemacht, sei es durch sexistische Werbung, unterschiedlichste Produkte zur Optimierung von Frauenkörpern oder durch die milliardenschwere Sexindustrie. Diese Objektivierung des Menschen zur Ware betrifft letztlich alle aus der Arbeiter*innenklasse, aber Frauen in besonders extremer und dominanter Art und Weise. Die Degradierung von Frauenkörpern zur Ware rechtfertigt es in dieser Gesellschaft, Gewalt gegen sie auszuüben. Gleichzeitig dient diese systematische Gewalt dazu, Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren.

Bei sogenannter sexualisierter Gewalt geht es keineswegs um Sex - es geht darum, Macht zu demonstrieren und auszuüben. In jedem Krieg und jeder Konterrevolution werden Vergewaltigungen und Gewalt an Frauen genutzt, um die Bewegung zu zerschlagen und die Arbeiter*innenklasse - und Frauen als häufige Vorkämpferinnen revolutionärer Erhebungen - zu demoralisieren und zu bekämpfen. Im vergangenen Jahr haben sudanesische Milizen im Auftrag des Übergangsrates sexualisierte Gewalt als Strategie der Konterrevolution gegen die sudanesische Revolution, in der Frauen eine zentrale Rolle eingenommen haben, eingesetzt, in Ägypten und anderen Ländern war das ein wichtiges, brutales Mittel gegen den sog. Arabischen Frühling. 

Vergewaltigungen wurden und werden immer mit dem Argument verharmlost, sie seien eine Folge männlicher "Triebe" und damit “natürlicher” angeblich agressiverer männlicher Sexualität. Doch sie sind vielmehr die Folge vom gesellschaftlichen Frauenbild und der Ideologie von der Machtausübung auf Frauen, ihre Körper und ihr Leben. Das kapitalistische System entfremdet Menschen von ihrer Sexualität, von anderen Menschen und von sich selbst. Das Prinzip des Konsens - also der Einvernehmlichkeit - ist auf dieser Basis in seiner Absolutheit kaum in der Breite zu verwirklichen. Doch auch wenn durch und durch befreite und auf Augenhöhe basierende sexuelle und romantische Beziehungen erst in einer vollkommen befreiten, sozialistischen Gesellschaft erfüllt werden können, bleibt das Prinzip des Konsens auch heute schon die Grundlage, nach der Männer ihr Verhalten gegenüber Frauen ausrichten sollten. Dank feministischer Debatten um “Nein heißt Nein” und “Ja heißt ja” gibt es zum Teil heute ein höheres Bewusstsein dafür, was konsensualer Sex bedeuten muss. Diesen Debatten ist es auch zu verdanken, dass es erlernbare Strategien für Konsens gibt. Während die allermeisten sexualisierten Grenzüberschreitungen und Übergriffe sehr bewusst passieren, gibt es durchaus auch andere Situationen in unseren sexuellen Beziehungen, die es genauso in diesem Sinne zu hinterfragen gilt. Ein bewusster Umgang mit den Grenzen von Partner*innen und anderen, Sensibilität und Kommunikation - all das sind Dinge, die in der kapitalistischen Gesellschaft weitestgehend ignoriert werden, während häufig Grenzüberschreitungen sogar als etwas “Männliches” und damit Positives dargestellt werden. 

Den Kampf gegen Gewalt an Frauen bewusst aufnehmen!

Diese gesellschaftliche Kontrolle über Frauen und ihre Körper drückt sich also in der "privaten" Sphäre, aber genauso öffentlich und strukturell aus. Das Private ist gerade deshalb politisch, weil geschlechtsspezifische Gewalt und Sexismus besonders innerhalb von Partnerschaften, Ehen und Familien stattfindet. Öffentlich über Gewalt an Frauen und Vergewaltigungen zu sprechen kann unfassbar viel Kraft kosten, weil es in der bürgerlichen Gesellschaft immer noch einen Tabubruch darstellt. Immer noch werden in erster Linie betroffene Frauen und nicht die Täter stigmatisiert. Deswegen ist die öffentliche Thematisierung von Gewalt an Frauen - durch Demonstrationen, Kampagnen, Proteste etc. - ein wichtiges politisches Mittel, um dieser Stigmatisierung entgegenzuwirken. Während einzelne Frauen nicht gegen die sexistische Maschinerie ankommen, können kollektive Kämpfe dazu beitragen (und haben es schon in der Vergangenheit getan), Tabus zu brechen und das Anprangern von Vergewaltigungen und Gewalt - ein zunehmendes Klima der “Nulltoleranz” zu normalisieren. Im spanischen Staat haben Massenbewegungen in den letzten Jahren im skandalösen “Wolfpack”-Fall nicht nur den Staat und die Justiz derart unter Druck gesetzt, dass das Urteil gegen die fünf Vergewaltiger im letzten Jahr verschärft und von “sexuellem Missbrauch” zur Verurteilung wegen Vergewaltigung verändert wurde, sondern auch eine weitgehende Veränderung im Bewusstsein herbeigeführt: 65% der Frauen unter 30 Jahren im spanischen Staat bezeichnen sich selbst als Feministinnen, doppelt so viele wie noch vor 5 Jahren. Dieses kollektive, massenhafte Element, der gemeinsame Kampf unabhängig vom Geschlecht, ist von zentraler Bedeutung, wenn es um die Frage geht, wie Sexismus erfolgreich bekämpft werden kann.

Ein effektiver Kampf gegen Gewalt an Frauen darf beispielsweise nicht dabei stehen bleiben, härtere Sanktionen oder Strafen gegen Täter*innen zu fordern oder dazu aufzurufen, individuell das eigene Verhalten zu reflektieren, sondern muss viel weiter gehen. Bewegungen wie #IBelieveHer, begonnen mit dem Protest 2018 gegen den Freispruch von Rugbyspielern in Nordirland in einem Vergewaltigungsfall, haben Wichtiges angestoßen und sexistische Strukturen des Justizsystems hinterfragt und angeprangert. Es muss aber darum gehen, die Empörung über einzelne Fälle zu einem allgemeinen Kampf für grundlegende Veränderungen zu machen. Die beschriebenen frauenfeindlichen Strukturen sprechen für sich und zeigen, dass ohne grundlegende Umwälzungen auch individuelles Verhalten nicht nachhaltig verändert werden kann. Das bedeutet: Politische Kämpfe gegen rape culture, sexistische Werbung, für Aufklärungs- und Sexualkundeunterricht an Schulen, für eine Ächtung von Sexisten und Vergewaltigern etc. müssen damit einhergehen, den bürgerlichen Staat und damit das herrschende Justizsystem an sich abzulehnen. Soziale Verbesserungen wie der Ausbau von Frauenhäusern und anderer Schutzeinrichtungen, bezahlbarer Wohnraum für alle, kostenlose und flächendeckende Kinderbetreuung, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, höhere Löhne, eine Ausfinanzierung des Gesundheits- und Sozialbereichs usw. sind zentral im Kampf gegen Gewalt an Frauen, einerseits, um Möglichkeiten zu schaffen, auszubrechen, andererseits um ökonomische Not als verstärkenden Faktor für Gewalt an Frauen in einer sexistischen Gesellschaft zu beenden und auch, weil der gemeinsame Kampf für diese und andere Ziele hilft, Vorurteile abzubauen und sich der eigenen bzw. auch kollektiven Stärke bewusst zu werden. Gewalt an Frauen ist also auch eine Klassenfrage: Während alle Frauen in der Gesellschaft unabhängig vom Einkommen und der sozialen Stellung von (mehr oder weniger) Gewalt betroffen sind, haben Frauen aus ärmeren Schichten und der Arbeiter*innenklasse weniger Ausweichmöglichkeiten.

Falsche, verkürzte und fehlende Antworten identitätspolitischer Ansätze

Viele “neueren” Ansätze unterschiedlicher feministischer Strömungen weisen trotz ihrer Unterschiede einige ähnliche Schwächen und Unzulänglichkeiten auf. Viele dieser Ideen können unter dem Begriff der Identitätspolitik zusammengefasst werden (andere sind schlicht klassische bürgerlich-feministische Ideen) - denn auch wenn es durchaus unterschiedliche identitätspolitische Ausrichtungen und Theorien gibt und es falsch wäre, alles in einen Topf zu werfen, lassen sich doch bestimmte Konzepte, Analysen und Methoden immer wieder erkennen, wenn es um neuere Formen der feministischen Praxis in frauenpolitischen Bewegungen geht.

Die gewisse Attraktivität, die von identitätspolitischen Ideen - also beispielsweise dem Ansatz, in erster Linie anhand der eigenen Diskriminierungserfahrung/Identität eine politische Praxis zu entwickeln - ausgeht, ist naheliegend: Das Bewusstsein über die eigene Unterdrückung ist oft der erste Schritt, politisch aktiv zu werden und Veränderung erkämpfen zu wollen. Natürlich ist es wichtig, unterschiedliche Diskrimminierungserfahrungen, z.B. aufgrund des Geschlechts sichtbar, zu machen, aber die entscheidende Frage ist: Welcher Weg, welche Kampfstrategie ist tatsächlich effektiv, um spezifische Unterdrückung, wie die von Frauen, zu bekämpfen?

Viele identitätspolitische Konzepte unterscheiden sich in ihren konkreten Schlussfolgerungen nicht groß von “klassisch” (klein)bürgerlich feministischen Ideen. Die angepasstesten Formen bleiben dabei stehen, stärkere Repräsentation von Frauen in Politik und Wirtschaft zu fordern, andere nehmen eine diffus antikapitalistische Haltung ohne ausgereifte Theorie und Praxis ein. Weit verbreitet ist in jedem Fall die Vorstellung davon, dass unterschiedliche Unterdrückungsformen sich zwar gegenseitig beeinflussen und bestärken, aber mehr oder weniger “nebeneinander” existieren würden: Rassismus, Sexismus, Kapitalismus etc. Wenn man kapitalistische Ausbeutung nur als eine von vielen Unterdrückungsformen statt als grundlegende ökonomische gesellschaftliche Basis analysiert, liegt es nahe, feministische Kämpfe nicht zwangsläufig als antikapitalistische zu begreifen und Frauen aus der herrschenden Klasse eher als Bündnispartnerinnen zu sehen als Männer der eigenen Klasse.

Die Schwäche vieler identitätspolitischer Ansätze liegt, gerade weil sie auf einer individuellen Ebene bei Analyse und Lösungen stehen bleiben, in allererster Linie darin, keine wirksamen Lösungen für das Ende von Frauenunterdrückung und Sexismus anbieten zu können. In einem Artikel der taz vom 31.07.2020 “Identitätspolitik versus Klassenkampf” wird beispielsweise zwar richtigerweise indirekt dafür plädiert, den Kampf gegen Sexismus und Rassismus mit sozialen Kämpfen zu verbinden, doch das folgende Zitat zeigt, wie in einer solchen Debatte um Identitätspolitik, die schon seit einigen Jahren geführt wird, Kritik von links, von Marxist*innen, an identitätspolitischen Konzepten verzerrt dargestellt wird:

“Hier „echte linke Politik“ mit Drecksarbeit und Besitzverhältnissen und da Identitätspolitik mit ihren Quoten und Schreibweisen sowie ihrer Repräsentation in den Medien – auch in Deutschland, wo besonders in den letzten Jahren wiederholt Verteilungspolitik und Anerkennungspolitik als gegensätzlich behauptet worden sind oder die Belange von Frauen, queeren Menschen oder nichtweißen Gruppen als Widerspruch zu den Bedürfnissen des „kleinen Mannes“, also ungefähr des weißen Nichtakademikers auf dem Land”

“Quoten, Schreibweisen und Repräsentation in den Medien” sind aber nun einmal nicht die grundsätzlichen “Belange von Frauen oder Migrant*innen”. Darin besteht das grundsätzliche Problem: Dem Kampf gegen spezifische Unterdrückung und Diskriminierung wird seine materielle Basis entzogen, sie wird ignoriert. Es wird suggeriert, Sexismus könne durch “Anerkennungspolitik” in irgendeiner Form verdrängt werden. “Anerkennungspolitik” beendet keine Frauenunterdrückung: Im besten Fall schafft sie die Illusion einer Gleichstellung, von der wiederum das bürgerliche System profitieren kann, indem es diese Form von “Feminismus” vermarktet. Sie bleibt auf der idealistischen Ebene stecken und ignoriert die materialistische Basis, aber auch die dialektische Veränderung und Widersprüchlichkeit von Prozessen.

Solche unzureichenden Antworten auf sexistische Unterdrückung sind symptomatisch für feministische Ansätze, die individuelle Lösungen für große gesellschaftliche Probleme - wie Frauenunterdrückung - suchen. Das eigene Verhalten soll reflektiert, hinterfragt und verändert, "Safe spaces" geschaffen und symbolisch Diskriminierungen "sichtbar" gemacht werden. Ähnlich individualistische Argumente finden sich beispielsweise auch in der “alten” Debatte um unbezahlte Hausarbeit und in dem Ruf danach, dass Haushalt, Kindererziehung etc. “gerecht” zwischen den Geschlechtern aufgeteilt werden sollte - anstatt für eine völlige Vergesellschaftung von Hausarbeit, Kindererziehung und Pflege zu kämpfen. Vielfach in der feministischen Bewegung diskutierte Konzepte wie die des “Hausfrauenstreiks” drücken genau das aus.

Die Vorstellung, dass individuelle - und sich zum Teil massiv unterscheidende - Diskriminierungserfahrungen die einzige Basis sind, auf der politisch gehandelt werden soll, birgt zusätzlich zu den unzureichenden Lösungsvorschlägen die Gefahr, Gemeinsamkeiten herunterzuspielen und in erster Linie Unterschiede zu betonen. Marxist*innen haben das Gegenteil zum Ziel: Ja, eine migrantische Frau aus der Arbeiter*innenklasse hat selbstverständlich andere Lebensrealitäten und mit Diskriminierungsformen zu kämpfen, die ein österreichischer Arbeiter nicht kennt. Aber entscheidend ist: Was ist nun die Schlussfolgerung daraus? Wie können wir Verbesserungen für alle erkämpfen?  Spaltungen, die der Kapitalismus produziert, sei es entlang der Hautfarbe, Religion oder des Geschlechts, können nur in kollektiven Kämpfen der Arbeiter*innenklasse (politische wie ökonomische) überwunden werden. Das bedeutet nicht, Sexismus als “Nebenwiderspruch” zu betrachten oder “klassisch” ökonomische Kämpfe als einziges Allheilmittel gegen Sexismus und Rassismus zu sehen, ganz im Gegenteil: Denn auch frauenspezifische Kämpfe können nur im Schulterschluss mit Männern gewonnen werden. Ein gutes Beispiel dafür ist der Kampf um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch durch das Referendum zur Abschaffung des Abtreibungsverbotes 2018 in Irland: Die fortgeschrittenen Teile der Bewegung wussten genau, dass das Referendum nur durch kollektive Anstrengung gewonnen werden konnte und nur dadurch, dass auch Männer für diese Abschaffung stimmten. Die Versuche feministischer Bewegungen, Kampfmethoden der Arbeiter*innenklasse - wie die des Streiks - zur Durchsetzung feministischer Forderungen, gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz etc. anzuwenden, sind ein wichtiges Beispiel dafür, welche Schlagkraft solche kollektiven Kämpfe haben.

Jede politische Analyse und Methode, die keinen Klassenstandpunkt einnimmt - also nicht zu dem Ergebnis kommt, dass Gemeinsamkeiten zwischen Arbeiter*innen größer sind als Unterschiede und die Arbeiter*innenklasse die Kraft ist, die grundlegende gesellschaftliche Veränderungen durch massenhafte Bewegungen erkämpfen kann - landet auf die eine oder andere Weise dabei, individuelle Verhaltensänderungen zu ihrem wesentlichen Kampffeld zu machen. Es ist gut, wenn Männer ihr eigenes, sexistisches Verhalten hinterfragen und verändern - an den grundlegenden gesellschaftlichen Strukturen ändert das aber nichts. Letztlich geht es auch um die Frage: Wer ist der Feind? Während einige Teile der sogenannten zweiten Welle der Frauenbewegung sich darauf beschränkten, Männer grundsätzlich als den Hauptfeind zu betrachten, haben wiederum neuere, identitätspolitische Ansätze zwar häufig nicht eine derart falsche, jedoch meistens eine überhaupt fehlende Analyse davon, wer der politische Feind ist und wen oder was es zu bekämpfen gilt. Aufgrund der starken Individualisierung von Theorie und Praxis geraten “große” gesellschaftliche Dimensionen aus dem Blick - wir sehen hier die Anwendung der Postmoderne auf die Frauenbewegung. Die herrschende Klasse und ihre Politiker*innen, die verantwortlich sind für gesellschaftliche, ökonomische, politische Missstände und damit auch für sexistische Unterdrückungsstrukturen, für frauenfeindliche und sexistische Politik, brauchen sich nicht mehr bedroht zu fühlen, wenn feministische Kämpfe sich darauf beschränken, Diskriminierung ausschließlich “sichtbar” zu machen, zur Reflexion der “eigenen Privilegien” aufzurufen oder unendliche Debatten über die richtigen, diskriminierungsfreien Begriffe zu führen. 

Sexismus in der Gesellschaft und innerhalb der eigenen Reihen bekämpfen

Sexistische Unterdrückung umfasst viel, viel mehr als das Verhalten von Individuen - sie ist systematisch. Der Kampf gegen Sexismus und Frauenunterdrückung ist deshalb in erster Linie ein politischer Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse. Wenn wir davon ausgehen, dass Frauenunterdrückung und damit auch Sexismus untrennbar mit dem kapitalistischen System und der Klassengesellschaft verbunden sind, muss die Abschaffung von beidem gemeinsam das Ziel sein. Eine Abschaffung von Sexismus und Frauenunterdrückung im Rahmen des Kapitalismus, der von dieser Unterdrückung profitiert, ist eine Illusion. 

Das bedeutet nicht, dass Individuen aus der Verantwortung gezogen werden sollen. Sexistisches Verhalten zu erkennen, zu konfrontieren und nicht zu akzeptieren ist notwendig, um eine geeinte Arbeiter*innenbewegung und Organisationen der Arbeiter*innenklasse aufzubauen. Männer, die Frauen bewusst nicht als gleichwertige Kolleginnen, Genossinnen und Mitstreiterinnen betrachten, sie abwerten und in ihrer politischen Entfaltung und Emanzipation damit behindern, stellen eine Gefahr, auch für die Bewegung / die Organisation dar. Spaltung schwächt und zersplittert uns. Gerade deshalb ist es notwendig, dass die Gewerkschaften als größte Organisationen der Arbeiter*innenklasse (in vielen Ländern sehen wir eine Tendenz von zunehmend weiblicher Mitgliedschaft in den Gewerkschaften) bewusste politische Kampagnen gegen Gewalt an Frauen und Sexismus organisieren und entschlossen gegen sexistisches Verhalten in den eigenen Reihen vorgehen.

Gleichzeitig sind linke Organisationen und ist die Arbeiter*innenbewegung nicht isoliert von der Gesamtgesellschaft. Die Idee, dass es möglich sei, innerhalb eines sexistischen, rassistischen Systems wie dem Kapitalismus vollumfängliche “safe spaces” zu schaffen ist illusorisch. Es ist eine Realität, dass die Linke und linke Organisationen nicht frei von reaktionären Ideen und Einflüssen sind. Solange es Sexismus in der Gesellschaft gibt, solange wird es auch Seximus in linken Organisationen und in der Arbeiter*innenbewegung geben. Es ist daher auch eine falsche Herangehensweise, sexistisches Verhalten oder Übergriffe in den eigenen Reihen vertuschen oder verheimlichen zu wollen. Vielmehr muss es darum gehen, einen bewussten und selbstsicheren Umgang mit solchem Verhalten zu etablieren, der einerseits auf der Basis der Nulltoleranz steht und andererseits zum Ziel hat, durch Bewusstseinsarbeit (insbesondere männliche) Mitglieder zu sensibilisieren, zu schulen und Fehlverhalten zu reflektieren. 

Die SLP agiert bei sexistischen Vorfällen durch Mitglieder auf der Überzeugung, dass jeder Vorwurf ernst genommen und durch die demokratisch gewählten Gremien der Organisation behandelt werden muss. Konsequentes, ernsthaftes und entschlossenes Agieren ist notwendig, um Mitglieder und damit die Organisation zu schützen. Je nach Vorfall in diesem breiten Spektrum von sexistischen Verhaltensweisen (bis hin zu Gewalt und Übergriffen) muss die Partei einerseits den notwendigen Opferschutz sicherstellen und andererseits abwägen, welche Form von Maßnahmen/Sanktionen sinnvoll und angemessen sind, um eine Verhaltensänderung zu erreichen und Wiederholungen zu verhindern. Das kann von Formen der intensiven Diskussion bis hin zu Suspendierungen oder Ausschlüsse reichen. Dieser bewusste Umgang ist auch ein Mittel der Schulung für alle Mitglieder, um eigenes, möglicherweise unbewusstes sexistisches Verhalten zu erkennen und zu verändern.

Kämpfe gegen Diskriminierung, Sexismus und Kapitalismus können nicht erfolgreich geführt und schon gar nicht gewonnen werden, wenn die Arbeiter*innenklasse entlang unterschiedlicher Unterdrückungslinien (Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Herkunft, Religion etc) gespalten ist. Diese Spaltung zu überwinden ist daher eine zentrale Aufgabe. „Bewusstseinsarbeit“ ist dafür notwendig, aber unzureichend. Die Erfahrung zeigt, dass insbesondere im gemeinsamen Kampf, in Streiks, Protesten und Kampagnen, nicht nur aber auch in jenen gegen Sexismus, Vorurteile abgebaut werden. 

Der gemeinsame Kampf von Männern und Frauen als wirksamstes Mittel gegen sexistische Spaltung gilt - neben der Frage des Umgangs mit konkreten Übergriffen - genauso für die "eigenen Reihen". Eine marxistische Organisation kann dann effektiv präventiv gegen sexistisches Verhalten gegenüber Genossinnen vorgehen, wenn sie Mitglieder politisch generell aber auch in diesen Fragen schult, welche Auswirkungen Sexismus und Frauenunterdrückung haben, indem sie sexistisches Verhalten nicht toleriert, männliche Genossen zu einer Reflexion des eigenen Verhaltens bewegt, insbesondere aber indem sie eine Kultur schafft, in der Männer und Frauen gleichermaßen Schulter und Schulter sich am Aufbau der Organisation beteiligen, zentrale Rollen einnehmen und Führung übernehmen.

In einem Interview aus dem Jahr 1969 beschrieben Frauen der Black Panther Party den bewussten Umgang mit männlichem Chauvinismus innerhalb der Partei so: “Wir sind uns bewusst, dass wir eine Rolle zu spielen haben, und wir sind es leid, zu Hause zu sitzen und missbraucht zu werden, und wenn wir nicht aufstehen, wird sich der männliche Chauvinismus immer noch zeigen und etwas sein, das einfach übergangen wird. Wenn wir uns nicht dagegen aussprechen und unseren Brüdern beibringen, was richtig ist, und aufzeigen, was falsch ist, dann wird er immer noch da sein.”

Definitionsmacht vs. kollektives Handeln

Es ist eine Tatsache, dass Frauen in der sexistischen, kapitalistischen Gesellschaft selbst dafür stigmatisiert werden, dass sie die ihnen angetane Gewalt anprangern und anzeigen. Immer wieder wird Frauen abgesprochen, sexistische Erfahrungen gemacht zu haben, Übergriffe werden verharmlost, im schlimmsten Fall verteidigt. Rechte Antifeminist*innen empören sich darüber, dass nach #metoo Frauen systematisch Männer falsch beschuldigen und sich Übergriffe mutwillig ausdenken würden. Vergewaltiger werden vor Gerichten geschützt, beziehungsweise viel zu selten zur Rechenschaft gezogen, Frauen als hysterische Männerhasserinnen diffamiert. Das ist ein großes Problem, gegen welches sich antisexistische Praxis richten muss, denn so bleiben die meisten Übergriffe unerkannt, Frauen trauen sich nicht, über ihre Erfahrungen zu sprechen, weil sie nicht ernst genommen werden. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft dient auch dazu, Frauen klein zu halten. Wenn es nun darum geht, in den eigenen Reihen gegen Sexismus vorzugehen, vertreten viele Feminist*innen und Linke als Gegenkonzept zu diesen herrschenden Strukturen verschiedene Ausformungen des Konzepts der sog. “Definitionsmacht”. 

Definitionsmacht als grundsätzliches Recht von Betroffenen von geschlechtsspezifischer Gewalt bzw. Grenzüberschreitungen zu definieren, was geschlechtsspezifische Gewalt ist, aber auch (in weitergehenden Konzepten der Definitionsmacht) welche Konsequenzen gezogen werden müssen, drückt eine zutiefst individualistische Herangehensweise an sexistische Vorfälle aus. Selbstverständlich obliegt es Betroffenen von sexistischen Handlungen und Übergriffen zu definieren, ab wann eine Grenzüberschreitung aus ihrer Sicht stattgefunden hat. Wahrnehmungen müssen gerade in der Frage von Sexismus sehr ernst genommen werden. Für den Umgang der Organisation, in welcher derartige Vorwürfe erhoben werden, stellt sich jedoch in erster Linie die Frage, was zu tun ist. Ebenso wenig wie es in einer sexistischen Gesellschaft in linken Organisationen, die sich als feministische verstehen, darum gehen darf platt “im Zweifel für den Angeklagten zu agieren” (denn viele sexistische Übergriffe und Grenzüberschreitungen können nicht objektiv "bewiesen" werden), darf es darum gehen, die Definitionsmacht darüber, was passiert und zu tun ist, allein Betroffenen zu überlassen.

Sexistische Vorfälle und notwendige Sanktionen/Maßnahmen können nicht rein individualisiert betrachtet werden. Der Grund, warum Marxist*innen sich organisieren ist die Überzeugung, dass kollektives Wissen, kollektive Entscheidungen und kollektive Kämpfe wirksamer sind, als individualisierte. In der Frage von Sexismus bedeutet das, dass sowohl bei der Bewertung dessen, was vorgefallen ist, als auch bei der Entscheidung über Sanktionen und Maßnahmen, kollektive Diskussionen geführt werden müssen. Der Grund, warum verschiedene Konzepte der Definitionsmacht abzulehnen sind ist nicht, weil in erster Linie davon ausgegangen werden muss, dass möglicherweise falsche Anschuldigungen gegen Männer erhoben werden könnten - auch wenn derartige, falsche Vorwürfe als potentielles Mittel auch gegen Marxist*innen natürlich trotz allem nicht ausgeschlossen werden können. Es geht dennoch vielmehr darum, dass individuelle Lösungen unzureichend sind für den Kampf gegen Sexismus. 

Aus der rein individuellen Diskriminierungserfahrung heraus Taten zu definieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, kann zu Willkür führen. Aus dem verständlichen Wunsch nach Vergeltung, danach, Machtlosigkeit überwinden zu wollen und dem Verlangen heraus, darüber entscheiden zu wollen, “was mit dem Täter passiert”, können auch willkürliche und nicht zielführende Entscheidungen resultieren. Das Wissen darüber, dass Menschen in den meisten Fällen lern- und reflexionsfähig, Verhaltensweisen veränderbar sind, legt dagegen nahe, dass Rache, Strafe o.Ä. keine geeigneten Mittel sind, um solches Verhalten zurückzudrängen. Vielmehr muss es darum gehen, Antisexismus zur Praxis zu machen, also kollektiv auf Fehlverhalten zu reagieren und in demokratischen Entscheidungen, auf der Basis eines marxistischen Feminismus, angemessene Schlüsse zu ziehen.

Die Grundlage unseres Umgangs mit Sexismus innerhalb der Organisation als SLP ist das Bewusstsein darüber, wie Frauenunterdrückung/Sexismus auf Individuen wirkt, welche unterschiedlichen Facetten das annehmen kann und dass die Stigmatisierung von betroffenen Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft grundsätzlich eher dazu führt, dass viele Fälle unerkannt bleiben. Zu den Aufgaben der Partei gehört es aber auch, die Rechte der einzelnen Mitglieder auf eine Untersuchung, die alle Seiten hört und versucht alle Aspekte zu berücksichtigen, zu schützen. Um die Breite der Facetten deutlich zu machen: Wir müssen unterscheiden zwischen notorischen Sexisten und Frauenhassern und Mitgliedern einer Organisation, die allgemein auf dem Boden der Prinzipien und des Programms stehen, sich aber dennoch aus unterschiedlichen Gründen falsch verhalten. Wir versuchen uns unvoreingenommen ein eigenes Bild zu machen, was vorgefallen ist, welchen Umfang das Vorgefallene hat und in welchem Kontext das steht. Es kann aber auch geschehen, dass wir Vorfälle anders einschätzen als die betroffenen Personen oder auch, dass wir andere Maßnahmen vorschlagen. Das widerspricht Konzepten der "Definitionsmacht", ist aber notwendig, um nicht in Willkür zu verfallen.

Kein Sozialismus ohne Befreiung der Frau, keine Befreiung der Frau ohne Sozialismus

Die Marxistin Alexandra Kollontai schrieb 1920, nach der Oktoberrevolution in Russland über die Veränderungen in der Familie und zwischen den Geschlechtern durch die Umwälzungen der gesellschaftlichen Verhältnisse: “Es gibt keinen Grund, die Wahrheit vor uns selbst zu verbergen: die normale Familie früherer Tage, in der der Mann alles und die Frau nichts war - da sie keinen eigenen Willen, kein eigenes Geld und keine eigene Zeit hatte - diese Familie wird von Tag zu Tag verändert; sie gehört fast der Vergangenheit an. Aber wir sollten uns vor diesem Zustand nicht fürchten. Entweder aus Irrtum oder aus Unwissenheit sind wir durchaus bereit zu glauben, dass alles an uns unveränderlich bleiben kann, während sich alles verändert. ‘Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben.’ - Es gibt nichts Irrtümlicheres als dieses Sprichwort! Wir brauchen nur zu lesen, wie die Menschen in der Vergangenheit gelebt haben, und wir werden sofort erfahren, dass alles einem Wandel unterworfen ist und dass es keine Sitten, keine politischen Organisationen und keine Moral gibt, die unveränderlich und unantastbar bleiben.”

Es gibt keine unüberwindbaren Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Die Arbeiter*innenklasse ist in der Lage, Spaltungen entlang des Geschlechts, der Hautfarbe, der Religion etc. zu überwinden und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, in der nicht der Profit der herrschenden Klasse Dreh- und Angelpunkt der menschlichen Verhältnisse und der gesellschaftlichen Strukturen ist, sondern die Bedürfnisse und Fähigkeiten aller. 

Die Massenbewegungen 2019 in nahezu allen Teilen der Welt, die sich heute zum Teil fortsetzen, waren zu einem großen Teil geprägt von einem weiblichen, jugendlichen und proletarischen Charakter. Frauen sind - aufgrund ihrer spezifischen Unterdrückung - oft die entschlossensten Kämpferinnen revolutionärer Bewegungen. Der Kampf gegen Sexismus und Frauenunterdrückung ist daher so eng wie noch nie damit verbunden, eine schlagkräftige Arbeiter*innenbewegung aufzubauen, die in der Lage ist, das verrottete kapitalistische System mit all seinen verkrusteten Strukturen und Ideologien abzuschaffen und damit auf die Basis für die Unterdrückung der Frau endlich zu überwinden.