Ukraine als Spielball der Großmächte

Wachsende Konflikte zwischen den russischen und den NATO-/EU-Kapitalisten
Steve Kühn, CWI-Deutschland

"Heute ist ein Feiertag – ich könnte weinen vor Freude.“ Eine 70-jährige Frau erklärt einem deutschen Kamerateam nach dem Referendum auf der Krim, dass sie sich seit dem Ende der Sowjetunion nichts sehnlicher gewünscht habe, als dass ihre Heimat wieder russisch werden solle. Wird sich der Freudentraum dieser Frau erfüllen? Wohl kaum.

Abgesehen davon, dass viele Tataren und ukrainisch sprechende Menschen auf der Halbinsel die Entscheidung mit Sorge betrachten, fand US-Präsident Barack Obama scharfe Worte für die Abstimmung. Sie verstoße gegen internationales und ukrainisches Recht. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verurteilte den Urnengang über den Beitritt der Schwarzmeer-Halbinsel zu Russland. Den Hilferuf der russischen Bevölkerungsmehrheit auf der Krim habe er nicht unbeachtet lassen können, „das wäre Verrat gewesen“, hielt Wladimir Putin diesen Stimmen entgegen.

Zankapfel Ukraine

„Zweifellos ist Russland im Jahre 2014 von ähnlichen Einkreisungsängsten geplagt wie Deutschland im Jahre 1914“, schreibt Herfried Münkler am 15. März auf „ZEIT ONLINE“. Es lässt sich nicht leugnen, dass es Teil der Strategie von NATO und Europäischer Union (EU) war, den „russischen Bären“ in die Schranken zu weisen. Um ihre Hegemonie in Europa zu sichern, knüpfte die NATO (übrigens entgegen früherer Versicherungen gegenüber der UdSSR) intensive Beziehungen zu Staaten wie Polen und der Ukraine. Im NATO-Russland-Rat schob Putin mehr als einmal die Beitrittszusagen für Georgien und die Ukraine vor, um künftigen militärischen Schritten eine Legitimation zu verschaffen. Als 2008 der damalige US-amerikanische Präsident George Bush plante, einen Raketenschirm in Europa aufzustellen und damit die seit Jahrzehnten zwischen den USA und Russland beziehungsweise der UdSSR zugesicherte Zweitschlagskapazität auszuhebeln drohte, fürchteten die Herrschenden in Russland erst Recht, den Kampf um Macht und Einfluss zu verlieren.

Janukowitschs Sturz

Ende 2013 brach sich die Wut in der Ukraine Bahn. Ob Julia Timoschenko oder Viktor Janukowitsch – sie alle hatten in die eigene Tasche gewirtschaftet, waren reich geworden, während im Land die Armut wuchs. Den äußerlichen Anlass zum Aufstand bildete Janukowitschs Entschluss, den Assoziierungsvertrag mit der EU nicht zu unterzeichnen.

Eine linke, sozialistische Alternative zum Janukowitsch-Regime war jedoch nirgends in Sicht – die traditionelle Kommunistische Partei (die diesen Namen nicht verdient) stand und steht zum alten Präsidenten. Pro-westliche Politiker und Parteien sowie die antisemitische Formation Swoboda und der faschistische „Rechte Sektor“ enterten die Bewegung.

Janukowitschs Sturz war Ende Februar nicht mehr aufzuhalten. Mit dem Präsidenten der Ukraine war ein Gewährsmann des Kremls vom Posten des Staatsoberhauptes verschwunden. Dass dieser ein Armenhaus hinterließ, war Putin egal. In den Gedankengängen der Moskauer Oligarchie zählte nur, dass unter Janukowitsch die Ukraine nicht direkten Kurs auf NATO und EU nahm beziehungsweise mit Druck davon abzubringen war. Dies sicherte auch die Häfen der Schwarzmeerflotte auf der Krim – seit jeher ein „vitales Interesse“ Russlands.

Auf der anderen Seite ist in den strategischen Spielen der Herrschenden in EU und NATO die Mitgliedschaft faschistischer Gruppen in der neuen Regierung in Kiew kaum mehr wert als ein Achselzucken.

Deutschland und die Ukraine

Während die meisten westlichen Staatschefs wegen des Krim-Referendums vor Wut schäumten, reagierten die Herrschenden in Großbritannien mit stärkerer Zurückhaltung. Sie sorgen sich um ihre millionenschweren russischen Kunden auf dem Londoner Finanzmarkt.

Einen anderen Ton als zum Beispiel Polen, aber auch die USA (die gerade Militärmanöver in Litauen, Polen und am Schwarzen Meer durchführten) schlägt Deutschland an. Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) ging natürlich viel weiter als andere und rief gar zur Empathie mit Russland auf. (Dass sein neuer Posten als Vorstandsmitglied der Firma „Gazprom“ beim Reifen dieser Überlegung geholfen hat, kann als sicher angesehen werden.)

Doch auch der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) kann mit besonders groben Tönen gegenüber Russland weniger anfangen. Gleich nach Beginn der Krise wurde die Frage aufgeworfen, ob Russland nicht aus den G8 ausgeschlossen werden sollte. Steinmeier bezog sofort Stellung gegen derartige Überlegungen.

Dass sich relevante Teile des deutschen Kapitalismus nach den Beteiligungen an allerlei militärischen Abenteuern (Horn von Afrika, Afghanistan …) besonnen geben, muss mehr als nachdenklich stimmen. Es ist wohl weniger die Angst vor Gewaltanwendung, als die Angst vor Putins erhobenem Zeigefinger, die dieses Verhalten begründet: „Das Drohen mit Sanktionen wird irgendwann Konsequenzen haben.“

Und diese „Konsequenzen“ fürchten vor allem die deutschen Kapitalisten. Immerhin sollen gut 2.000 Unternehmen aus der Bundesrepublik in der Ukraine engagiert sein. Wolfgang Treier, in der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) zuständig für die Außenwirtschaft, äußerte im Bayerischen Rundfunk seine Befürchtung, Russland könne die Energielieferungen an Europa einstellen.

Der einflussreiche Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft wird nicht müde, in der Presse immer wieder vor einer Sanktionsspirale zu waren. Deren Folge wären, so heißt es, das Abrutschen der deutschen Wirtschaft und zahllose Entlassungen. Immerhin liefert Deutschland Autos, Erzeugnisse der chemischen Industrie und Maschinen im Werte von 36 Milliarden Euro im Jahr nach Russland. Gut 350.000 Arbeitsplätze hängen an diesen Exporten.

„Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“, wussten Karl Marx und Friedrich Engels, und so versuchen Steinmeier und die deutsche Wirtschaft schön moderat zu bleiben. Während andere Staaten – ganz im Interesse ihrer wirtschaftlichen Eliten – eher auf Konfrontationskurs gehen.

Allerdings zeigt die Ukraine-Krise auch noch eine andere Seite. Nachdem der deutsche Imperialismus jahrzehntelang wirtschaftlicher Riese, aber militärischer Zwerg war und politisch zurückhaltender agieren musste, ist es kein Zufall, dass Steinmeier zusammen mit dem Außenminister Frankreichs, Laurent Fabius, (sowie ihrem polnischen Kollegen) bei der Eskalation auf dem Maidan in Kiew eingeritten kamen. Längst sind die Mächtigen in der Bundesrepublik bemüht, eine unabhängigere Rolle gegenüber Washington zu spielen und in Europa den Ton zu setzen.

Teile der Bürgerlichen in der Bundesrepublik – was sich auch in der antirussischen Hetze von SPIEGEL bis FAZ widerspiegelt – pochen auf eine global dominantere Stellung Deutschlands – auch durch eine aggressivere Haltung in der Ukraine-Frage.

Es gibt also offenkundig unterschiedliche Äußerungen seitens der deutschen Bourgeoisie – was unterschiedliche Interessen widerspiegelt. Einig ist sich die herrschende Klasse hierzulande indessen darin, für Deutschland im Weltgeschehen eine größere, eigenständigere Rolle zu beanspruchen.

Eskalation?

An einer wirklichen Zuspitzung der Krise sind auch die Herrschenden außerhalb Deutschlands und Großbritanniens wohl eher nicht interessiert. Obama verkündete am 20. März im Garten des Weißen Hauses, er habe den Weg frei gemacht für wirtschaftliche Sanktionen, falls Russland „weitere Annexionen vornimmt“, was auf dem diplomatischen Parkett einer Anerkennung des russischen Vorgehens mit knirschenden Zähnen gleichkam.

Trotzdem können die Spannungen mit dem größten Ölproduzenten der Welt den Protektionismus befördern. Auch auf die „Friedensprozesse“ in Syrien (dessen Krieg gerade den Golan erreicht hat) und gegenüber dem Iran können die Konflikte der G7 mit Russland als Verbündeter der Regime in Damaskus und Teheran Auswirkungen haben. Interessant ist, dass zum Beispiel der frühere US-Außenminister Henry Kissinger die Regierenden mahnt, es nicht zu weit zu treiben.

Wie weiter für die Krim?

Die imperialistische Welt sortiert sich neu. Die Sprache des Militärs und der Gewalt sind alle beteiligten Mächte schnell bereit zu sprechen. Ähnlich wie in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg treffen die globalen Interessen der regionalen Großmächte aufeinander.

Dauerhaft, wenn auch nicht unmittelbar, drohen verschärfte militärische Konflikte (auch wenn „die da oben“, nicht zuletzt angesichts der existierenden Nuklearbestände, nicht auf einen neuen Weltkrieg zusteuern). Der Kapitalismus produziert andauernd Gegensätze, die mitunter eben auch kriegerisch „gelöst“ werden.

Verhindert werden kann dies nur, wenn sich weltweit Menschen gegen Kapitalismus und Krieg zur Wehr setzen. Im März demonstrierten in Russland über 50.000 Menschen gegen Kriegsgefahr. Sie repräsentieren heute eine Minderheit, Putin konnte durch das Säbelrasseln seine Unterstützung wieder ausbauen. Aber das wird früher oder später kippen. Umso wichtiger, dass es heute in Russland Kräfte gibt, die gegen den Strom schwimmen. Die gleiche Aufgabe stellt sich anderswo, denn überall führen Privateigentum und Profitinteressen zu Konkurrenz und Konflikten – was es nötig macht, den Kampf gegen Kriegspolitik mit dem Kampf gegen das ganze kapitalistische System zu verbinden.

Dieser Artikel wurde Ende März geschrieben und erschien in der April-Ausgabe der Solidarität – sozialistische Zeitung.

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