Tunesien: „Wir brauchen eine saubere Gewerkschaft, die die ArbeiterInnenklasse wirklich vertritt“

Interview mit Ghassen Kamarti in Tunis

Donnerstag ernannte der neue Premierminister Ghannouchi eine neu besetzte Regierung mit zwölf ausgetauschten Ministern. Das wird als endgültiges Zugeständnis an die Forderungen der Bewegung auf der Straße präsentiert. Was denkst du darüber?

Ich denke, dass die Leute in den Straßen vollkommen Recht damit haben, wenn sie entschlossen bleiben und den Kampf gegen diese neue Regierung fortsetzen. Die Regierungsumbildung hat gezeigt, dass auch diese Regierung gezwungen ist, wieder und wieder Veränderungen vorzunehmen. Weil sie unter dem massiven Druck von unten steht, von Menschen, die jeden Tag weiter demonstrieren und streiken. Einige Stimmen aus der momentan herrschenden Elite des Landes sagen, wir würden zu weit gehen. Dass wir zu „weitreichende Forderungen“ aufstellen und dass wir die Regierung nun ihren Job machen lassen sollten. Ich lehne das entschieden ab. Es ist die Revolution des Volkes, das seine Aufgabe bisher vorzüglich erfüllt hat. Und wir müssen mit dieser Arbeit fortfahren. Das heißt, dass wir kämpfen bis wir eine Regierung haben, die die revolutionäre Bewegung von Grund auf repräsentiert.

Weshalb meinst du, auch die neue Regierung würde auf die Forderungen und Erwartungen der Revolution nicht eingehen?

Naja, es reicht doch schon, sich den Premierminister anzusehen. Ghannouchi gehört zum alten Regime. Er kann im Fernsehen solange rumjammern wie er will und so tun, als sei auch er nur ein Opfer gewesen und so weiter... aber ich glaube das nicht! Er bleibt ein tief verwurzelter RCD-Unterstützer und sein ganzes politisches Leben lang hat er der Diktatur gedient. Teile der Medien stehen weiterhin unter der Kontrolle der RCD, und diese führen eine Kampagne, die die Rehabilitierung Ghannouchis zum Ziel hat. Er wird dabei als „ehrlich“, „kompetent“ und so weiter beschrieben. Aber das ist alles nur Manipulation. Das reale Volk, die Leute in den Straßen, wissen das auch. Und sie wollen einfach, dass das alte Regime ein für allemal verschwindet. Diese Regierung vertritt nur sich selber und ist in keiner Weise repräsentativ für die Ideale der Revolution.

Der Kampf für politischen Wandel ist ein Aspekt dieser Revolution. Aber die wirtschaftlichen und sozialen Fragen sind ebenfalls integraler Bestandteil dafür, dass der Funke für die Revolution überspringen konnte. Am Beginn der Revolution standen die Fragen nach der Arbeitslosigkeit, dem Elend, dem Fehlen einer Zukunft für die jungen Menschen etc. Was denkst du, sind die nötigen Maßnahmen, um auf diesem Gebiet grundlegenden Wandel bringen zu können?

Es besteht die absolute Notwendigkeit dafür, alle großen Unternehmen zu verstaatlichen und dabei sollte mit den Firmen begonnen werden, die zu Ben Alis Mafia gehören. Das bedeutet natürlich nicht, sie in die Hände der aktuellen Staatsbürokratie und der Ministerien zu legen. Aber sie gehören in die Hände der ArbeiterInnen, der Erwerbslosen, der Menschen, die sie gebrauchen. Wir müssen die Kontrolle über den nationalen Reichtum übernehmen und ihn so verteilen, dass es den Bedürfnissen aller entspricht. Dies ist nicht unmöglich. Es ist kein Traum. Die Revolution hat solch ein Ziel in so greifbare Nähe gerückt. Und es ist absolut notwendig, dass die Revolution in dieser Richtung weitergeht.

Aber zu aller erst müssen wir in den Gewerkschaften aufräumen, um ein zuverlässiges Instrument zu haben, mit dem man für diese Ziele kämpfen kann. Während der Ära Ben Ali wurde die Führung der UGTT zu einem Instrument, das noch unglaubwürdiger war als die Institutionen des diktatorischen Staates selbst! Für die nähere Zukunft gilt: Wir brauchen eine saubere Gewerkschaft, die die Arbeiterklasse und die armen gesellschaftlichen Schichten wirklich vertritt, echte und wahrhafte GewerkschafterInnen und linke AktivistInnen.

Wir hören im Moment viel davon, dass es dringend nötig ist, die Wirtschaft wieder zu beleben, dass die ArbeiterInnen jetzt zurück an die Arbeit gehen müssen und dass die „Revolution zu Ende“ ist und so weiter und so fort. Was denkst du über die Streikwelle, die in einer ganzen Reihe von Branchen stattgefunden hat?

Für die ArbeiterInnen macht es überhaupt keinen Sinn, wieder an die Arbeitsplätze zurück zu kehren, so lange all ihre Probleme weiterhin ungelöst sind. Es ist kein Zufall, dass der Minister für Entwicklung und internationale Zusammenarbeit gerade erst erklärt hat, dass er – so lange er im Amt ist – kein Wirtschaftsprogramm ausarbeiten werde. Es sei denn, es käme zum Notfall. Zudem sei es nötig, die Wirtschaftspolitik der vorigen Regierung einzustellen und den Prozess der Liberalisierung auf Eis zu legen, so lange das tunesische Volk nicht demokratisch entschieden hat, welche Art von Wirtschaft es will. Er erklärte sogar, dass Streiks legitim sind. Er gehört natürlich zum Lager derer, die denken und auch sagen, dass die ArbeiterInnen wieder zurück an die Arbeit gehen sollen, um „das wirtschaftliche Wachstum nicht aufs Spiel zu setzen“. Aber die Menschen wissen, dass das wirtschaftliche Wachstum der vergangenen Zeit nur der kleinen Elite zu Gute gekommen ist. Was dieser Minister sagte, war aber dennoch Ausdruck der Tatsache, dass die Masse der Menschen genug hat von der Wirtschaft, wie sie bis heute geführt wurde. Und dies drückt sich in all den sich entwickelnden Streiks aus, mit wichtigen sozialen Forderungen auf den Transparenten.

Was denkst du über die Rolle der Regierungen Frankreichs und der USA in Bezug auf den revolutionären Prozess in Tunesien?

Das ist doch schändlich, aber wenig überraschend. Die Menschen hier macht das wirklich wütend: Zu sehen, wie die westlichen Regierungen versuchen, die Revolution zu verdrehen und zum eigenen Vorteil auszunutzen. Sie versuchen mit allen Mitteln den „Wandel“ einzuführen, der ihnen passt. Sie wollen sicherstellen, dass es mit ihrem System der politischen Kontrolle und der wirtschaftlichen Erpressung weitergeht. Für mich handelt es sich dabei um einen Überfall! Sie wollen den revolutionären Prozess einfrieren und in der Richtung manipulieren was sie „Demokratie“ nennen. Selbstverständlich bin ich für Demokratie und demokratische Rechte. Aber erstens darf es nicht dabei stehen bleiben und zweitens ist ihre Auffassung von Demokratie krank, wie ihre Unterstützung für Ben Alis Regime über Jahre gezeigt hat. Und schließlich haben wir meiner Meinung nach keine wirkliche Demokratie, wenn wir zur Demokratie „westlicher Art“ kommen. Wir wollen eine faire Demokratie, in der alle armen und arbeitenden Menschen einbezogen sind – weltweit.“

Wie sehen für dich die nächsten Entwicklungen der Revolution in Tunesien aus?

Es wird weitergehen, das ist sicher. Selbst wenn es zu einem Abebben kommt, wird es weitergehen. Selbst Leute, die Illusionen in die momentane Regierung haben, werden durch eigene Erfahrung realisieren, was sie in Wirklichkeit bedeutet. Die Menschen werden weiterkämpfen, aber die Bewegung muss sich besser organisieren.

Die tunesische Revolution hat Auswirkungen in der gesamten arabischen Welt, nicht zuletzt in Ägypten. Wenn du den jungen Leuten, den ArbeiterInnen und Volksbewegungen, die in anderen Ländern kämpfen, etwas mitteilen könntest, was würdest du ihnen gerne sagen?

Sie müssen um jeden Preis entschlossen bleiben. Wie wir haben sie nichts zu verlieren. Sie sollten sich organisieren, auf die Straße gehen, sich nehmen, was ihnen gestohlen wurde. Und sie sollten die Institutionen zu Fall bringen, die für diesen Diebstahl verantwortlich sind. Außerdem sollten sie wieder die Kontrolle über ihre Gewerkschaften und Organisationen übernehmen. Und wo solche Organisationen nicht existieren, dort müssen sie geschaffen werden, um die Strukturen zu schaffen, die ihnen und ihrer Bewegung helfen werden und die sie gegen Feinde schützen werden. Der Präzedenzfall ist geschaffen worden. Und ich bin sehr optimistisch, dass dies eine neue Ära der Veränderungen einläuten wird. Der endgültige Sieg wird nicht schon morgen in der arabischen Welt errungen. Aber indem wir entschlossener werden und klare politische Ziele anpeilen, wird es nichts geben, das uns aufhalten kann.

Das Interview wurde von Reportern des Komitees für eine Arbeiterinternationale in Tunis geführt.

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