Sa 22.06.2013
Arbeitende Menschen, Jugendliche und Erwerbslose auf der ganzen Welt schauen seit Wochen gebannt auf die Ereignisse in der Türkei. Der Aufstand gegen das undemokratische und pro-kapitalistische Erdogan-Regime genießt die Sympathie und Unterstützung von Millionen weltweit.
Auf die heuchlerische Solidarität von Merkel und Westerwelle können die DemonstrantInnen in Istanbul und Ankara aber verzichten. Wer angesichts der Pfeffergas- und Prügelorgien der Polizei während der Proteste gegen Stuttgart21 und bei den Blockupy-Aktionstagen nun von Erdogan eine Achtung des Demonstrationsrechts einfordert, hat offensichtlich nicht die Durchsetzung demokratischer Rechte zum Ziel, sondern vertritt eine andere Agenda: Einschränkung der wachsenden Macht einer islamisch geprägten Partei in einer für die imperialistischen Staaten strategisch bedeutenden Region – um selber weiter eine höchstmögliche Dominanz in der Region ausüben zu können.
Die Massen, die in der Türkei begonnen haben, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, können sich in ihrem Kampf für demokratische und soziale Rechte, Menschenwürde und eine lebenswerte Zukunft nur auf sich selbst verlassen und sollten nicht auf die falschen Freunde in den pro-kapitalistischen Regierungen des Westens reinfallen.
Wir fordern in Deutschland:
-
Eine aktive Solidaritätskampagne durch Gewerkschaften, DIE LINKE und soziale Bewegungen
-
Schluss mit deutschen Rüstungsexporten an die Türkei
-
Schluss mit jeglicher Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten
-
Freiheit für alle inhaftierten kurdischen AktivistInnen in Deutschland
Eine Zwischenbilanz
Nach den letzten Wochen wird in der Türkei nichts mehr so sein, wie es war. Auch wenn die Massenbewegung ihren ersten Höhepunkt überschritten haben mag und Erdogan sich in diesem Kampf noch an der Macht halten kann: Hunderttausende sind aufgewacht und haben begonnen, sich zur Wehr zu setzen.
Die Stärke der Bewegung ist ihre enorme Spontaneität, ihre Breite und der grenzenlose Mut der DemonstrantInnen. Gleichzeitig besteht ihre Schwäche in einem Mangel an Koordination, Strategie und einem politischen Programm, womit man sich effektiver der massiven staatlichen Repression entgegen stellen und vor allem die passiven Gruppen der Bevölkerung erreichen könnte.
Die Bewegung ging nicht um die Bäume im Gezi-Park und auch nicht nur um demokratische Rechte. In ihr hat sich die Unzufriedenheit von Millionen über mangelnde demokratische Rechte, das staatliche Eingreifen ins Privatleben der Menschen, steigende Preise, miese Löhne und Arbeitsbedingungen entladen. All dieser Unmut spitzte sich in der Forderung „Tayyip istifa“ (Weg mit Erdogan) zu, hinter der sich alle Demonstrierenden sammeln konnten.
Es war allerdings ein Fehler des „Taksim-Solidaritäts-Komitee“, seine Forderungen – die alle zu unterstützen sind! – auf den Gezi-Park (keinerlei Bebauung) und bestimmte demokratische Rechte (Verantwortliche für Polizeigewalt zur Rechenschaft ziehen, Recht auf Protest erkämpfen, Schluss mit Tränengaseinsätzen) zu begrenzen.
Die Hoffnung, mit bescheideneren Forderungen einen Erfolg zu erreichen, wurde von der Polizei im Tränengas ertränkt. Erdogan wusste, dass der Kampf eine Stufe erreicht hatte, in der ein Kompromiss einer Niederlage für ihn gleich gekommen wäre. Stattdessen hätte die Forderung nach Sturz der Regierung die größte Schlagkraft gehabt. Um noch breitere Teile der Bevölkerung, auch konservativere Schichten der Bevölkerung zu gewinnen, und dadurch Erdogans Basis weiter schwächen, ist die Verbindung zu sozialen Forderungen wichtig – zum Beispiel:
-
Schluss mit der Bereicherung einiger Weniger auf Kosten der Mehrheit, Schluss mit Prestigeprojekten
-
Schluss mit Privatisierung – für die Rücküberführung privatisierter Bereiche in öffentliches Eigentum
-
Schluss mit den Angriffen auf die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes
-
Drastische Erhöhung des Mindestlohns; gute Wohnungen für alle
Solche Forderungen können gemeinsam mit demokratischen Forderungen die Basis für die Bewegung noch mehr verbreitern. Dazu zählen:
-
Sofortige Freilassung aller während der Proteste Verhafteten, der inhaftierten JournalistInnen und politische Gefangenen
-
Einsetzung einer unabhängigen aus VertreterInnen der Gewerkschaften und der Bewegung bestehenden Untersuchungskommission zur Polizeigewalt
-
Volle demokratische Rechte – uneingeschränktes Recht sich zu versammeln, zu demonstrieren, Gewerkschaften und politische Parteien zu bilden
-
Gleiche Rechte für religiöse und nicht-religiöse Menschen, kein staatliches Eingreifen in das Privatleben
-
Schluss mit der Unterdrückung der KurdInnen; Selbstbestimmungsrecht für das kurdische Volk
-
Für eine Verfassunggebende Versammlung aus demokratisch in Betrieben, Stadtteilen, Städten und Dörfern gewählten VertreterInnen, um zu entscheiden wie eine demokratische Türkei konstituiert sein soll, in wessen Händen die Wirtschaft liegt und in wessen Interesse diese funktionieren soll
Wie weiter?
Die Bewegung war massenhaft und erfasste das ganze Land. Es fehlte ihr bisher die Koordination. Die Aktionskomitees beschäftigten sich weitgehend mit den praktischen Fragen der Versorgung auf den Plätzen, sie waren kein Ort der politischen Debatte. Breite Versammlungen und Debatten, demokratische Wahl von Komitees, Zusammenfassung solcher Komitees auf nationaler Ebene: mit solchen Strukturen könnte die Bewegung gestärkt werden.
Die Arbeiterklasse ist die potenziell stärkste Kraft der Gesellschaft. In den Gewerkschaften organisieren sich Lohnabhängige unabhängig von Geschlecht, Religion, Nationalität – sie können das Bollwerk gegen alle Versuche der Spaltung sein. Es war gut, dass KESK und DISK zu Streikaktionen aufgerufen haben. Nötig ist allerdings eine Strategie, wie man den Druck auf die konservativeren und größeren Gewerkschaften erhöhen kann, ebenfalls zu mobilisieren.
Proteste und Kämpfe gehen weiter, aber ein erster Höhepunkt scheint überschritten zu sein. Diesmal war Erdogan noch zu stark. Nun kommt es darauf an, die nächste Runde der Gegenwehr vorzubereiten, die Lehren aus dem Taksim-Aufstand zu ziehen und alle nötigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Die pro-kapitalistische und nationalistische CHP hat versucht, die Proteste zu vereinnahmen. Doch sie repräsentiert nur einen anderen Teil der herrschenden Klasse der Türkei. Sie bietet den Millionen einfachen Menschen keine Alternative für eine lebenswerte Zukunft.
Die arbeitende Bevölkerung der Türkei – egal welcher Nationalität und Glaubensrichtung – braucht eine eigene Partei, die konsequent ihre Interessen vertritt und sich nicht mit den kapitalistischen Sachzwängen abfindet. Eine Partei, die eine sozialistische Perspektive vertritt und für eine solche in der Bewegung und den zu bildenden Komitees eintritt. Dafür setzt sich Sosyalist Alternatif, die Schwesterorganisation der SAV in der Türkei, ein.
Der HDK (Demokratischer Kongress der Völker) bietet einen ersten Ansatz für eine solche Partei. Er sollte gemeinsam mit den Halk Evleri, linken Gewerkschaften und Organisationen die Initiative zur Bildung einer breiten Partei ergreifen. Eine solche Partei müsste für die Überführung der Banken und Konzerne in öffentliches Eigentum bei demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung eintreten und für ein Wirtschaftssystem kämpfen, in dem nicht nach Profit, sondern nach den Bedürfnissen von Mensch und Natur produziert wird.