Türkei: Erdogan und die Währungskrise

Erdogan fürchtet die drohende Wirtschaftskrise und zeigt auf „äußere Feinde“.
İsmail N. Okay, Sosyalist Alternatif

Als Folge der Weltwirtschaftskrise 2007/08 haben die großen kapitalistischen Länder wie die USA eine Niedrigzinspolitik betrieben. In Folge floß Kapital von diesen Ländern in die sogenannten Schwellenländer wie die Türkei. Die türkischen KapitalistInnen haben davon profitiert. Das jahrelange Wirtschaftswachstum war aber auf Sand gebaut - die türkische Wirtschaft wurde immer abhängiger von ausländischem Kapital.

Seit 2013 aber hat der Geldfluss die Richtung gewechselt und die türkische Lira verliert kontinuierlich an Wert. Ergänzt wird diese Entwicklung durch die ebenfalls kontinuierlich steigende Inflationsrate. Die politischen Ereignisse wie der Putschversuch vor zwei Jahren, der Abbau demokratischer Rechte und die immer autoritäreren Entwicklungen haben ihr Übriges dazu getan, dass dieser Krisenprozess sich beschleunigte.

Neben den wirtschaftlichen Problemen kam im Sommer 2018 noch eine politische Krise mit der US-Regierung hinzu. Trump verkündete einige wirtschaftliche Sanktionen gegen die Türkei, weil Erdogans Regime den in der Türkei inhaftierten US-Bürger Pastor Brunson nicht freiließ.

All das hatte am 10. August einen massiven Wertverlust der türkischen Lira zur Folge. Bei Redaktionsschluss hat die Währung im Vergleich zum Jahresanfang rund 70 % ihres Wertes eingebüßt.

Die Regierung behauptet, dass die Gefahr vorbei ist, doch die Wahrheit sieht anders aus. Trotz der Zinserhöhung durch die Zentralbank konnte die Abwertung gegenüber dem Dollar nur verlangsamt, nicht gestoppt werden. Die Inflation liegt bei 17,9 % und wird weiter steigen. Es droht eine Stagflation (Stagnation + Inflation) mit allen dramatischen Folgen.

Je mehr die türkische Lira an Wert verliert, desto schwieriger können Firmen ihre Schulden an ausländische Gläubiger zurückzahlen. Die Schulden des Privatsektors an ausländische Geldgeber beträgt aktuell 240,5 Milliarden Dollar, davon müssen 70,5 Milliarden innerhalb eines Jahres bezahlt werden. Es ist zu befürchten, dass die türkische Wirtschaft ab 2019 in eine Rezession rutscht.

Die Auswirkungen der Krise zeigen sich u.a. im Papiersektor. Papier wird wie viele andere Produkte importiert. Die Kosten der Verlage sind seit Jänner um 60% gestiegen und Papier wird knapp. Viele Zeitschriften und Zeitungen wurden eingestellt. Manche mussten ihre Preise erhöhen und ihre Beilagen einstellen. Regierungsnahe Medien aber haben die nötige finanzielle Unterstützung. Die Papierkrise bedeutet auch, dass der Preis für Toilettenpapier sich in den letzten Wochen teilweise mehr als verdoppelt hat.

Wenn die aktuelle Währungskrise in eine Wirtschaftskrise umschlägt, dann hat das gravierende Folgen für Millionen Menschen. Wenn eine Firma nach der anderen Pleite geht, wird auch die Arbeitslosigkeit neue Höchstwerte erreichen. Doch nicht nur die Firmen haben Schulden, sondern auch die einfachen Leute. Viele Menschen, die Kredite aufgenommen haben, um sich eine kleine Wohnung leisten zu können, werden diese nicht mehr abbezahlen können.

Vor wenigen Wochen wurde der tragische Selbstmord eines Vaters bekannt. Er konnte seinem Sohn keine Hose für die Schule kaufen - ein trauriges Beispiel für die Verunsicherung der Menschen. In Folge wurde bekannt, dass es 2017 insgesamt bereits 233 armutsbedingte Selbstmorde gab!

Die Regierung aber versucht alles herunterzuspielen, indem sie die Krise einfach leugnet. Sie manövriert zwischen Populismus und harten Maßnahmen. Denn die AKP hat nur noch die Lokalwahlen im kommenden März, die sie unbedingt gewinnen muss. Danach gibt es bis 2023 keine Wahlen mehr – und dann braucht sie auch keine populistische Politik mehr. Aber die wirtschaftliche Lage ist so ernst, dass es ungewiss ist, ob das Regime die Krise bis zu den Wahlen hinauszögern kann.

Aktuell sind die Menschen total verunsichert. Die Regierung versucht, die ArbeiterInnen und Armen weiter mit Nationalismus im Zaum zu halten, indem sie behauptete, dass „die Feinde“ einen Wirtschaftskrieg gegen das Land führen würden und setzt auf „wir sitzen alle im gleichen Boot“-Propaganda.

Dass eine Krise kommt, die durch Massenentlassungen unzählige Menschen in Arbeitslosigkeit bzw. Armut treiben wird, ist sicher. SozialistInnen, Gewerkschaften, linke Organisationen etc. dürfen nicht warten und erst dann handeln, wenn die Krise da ist. Im Gegenteil braucht es rasch, schon in diesem Herbst, eine Konferenz, bei der ein gemeinsames Programm und ein Aktionsplan diskutiert und beschlossen werden. Millionen von ArbeiterInnen und Armen muss eine Alternative zur Propaganda vom „gleichen Boot“ aufgezeigt werden und auch, dass wir die Rechnung dieser Krise nicht bezahlen werden. Die Stimmung dafür wächst – nun braucht es ein konkretes Programm dafür. Dabei ist auch wichtig, dass ein solches Programm sich nicht nur gegen Symptome richtet, sondern gegen die darunterliegende Krankheit selbst - den Kapitalismus.

 

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