Recht muss Recht bleiben – wessen Recht?

Law & Order-Politik verhindert keine Gewalt, sondern verursacht sie
Helga Schröder

Wir alle empfinden angesichts abscheulicher Straftaten gewisse Rachereflexe. Law & order-Parteien wie die FPÖ, in deren Reihen es zahlreiche rechtskräftig Verurteilte gibt, nutzen das aus und schreien nach härteren Strafen. Das und oft auch die Forderung nach der Todesstrafe ist populistische Methode. Meist werden härtere Strafen für „Kinderschänder“ oder „Vergewaltiger“ gefordert. Damit wird Schutz von Schwachen geheuchelt. Aber hinter law & order steckt die Aufrechterhaltung und Stärkung der Macht einiger Weniger über die Mehrzahl der Bevölkerung. Und zwar durch Errichten von einfachen emotionalen Feindbildern, besonders wenn dann noch „Asylwerber“ oder „Ausländer“ pauschal als „Verbrecher“ verleumdet werden. Wenn sich diese dann wehren, wird Gewalt gegen die vermeintlichen „Feinde“ gefordert und erzeugt. Das „Manifest“ des Massenmörders Anders Breivik nährt sich daraus. Eine law & order-Gewaltspirale entsteht. Das Bedürfnis nach Vergeltung kommt aus dem Mangel an Alternative. Strafe soll in unserer Rechtsordnung angeblich „ultima ratio“ (letztmögliches Mittel) sein. Das Verhältnis von Strafe zu Prävention bzw. Resozialisierung verändert sich mit dem gesellschaftlichen Diskurs und dem Kräfteverhältnis zwischen herrschender Klasse und Unterdrückten. Auch in der Pädagogik weiß man, dass Kinder viel eher durch positives Bestärken als durch Strafen lernen. Doch mit einem neuerlichen Rückschritt zu einem biologistischen Bild vom „geborenen Verbrecher“ wird Strafe als einzig mögliches Mittel forciert. Als MarxistInnen wissen wir, dass es kein „Verbrecher-Gen“ gibt und dass erst die Ursachen für „Kriminalität“ beseitigt werden müssen.

Was „Kriminalität“ ist, wird von Gesetzen, somit von Menschen – und daher in einer Klassengesellschaft von der herrschenden Klasse – bestimmt. Es scheint für jedeN klar, dass wir nicht einander verletzen, töten oder berauben sollen. Doch warum passiert es trotzdem? Vermögensdelikte haben im Wesentlichen soziale Ursachen. Hätten alle Menschen ausreichend Wohnung, Job, Arbeit, Sozialleistungen und Einkommen, würde dieser größte Teil an Delikten wegfallen und Strafen dafür obsolet werden. Wo kein Mangel herrscht und wo es keinen Vorteil bringt, mehr zu haben als andere, wird auch nicht „zum Vergnügen“ gestohlen. Die wirklich große Vermögenskriminalität wie Untreue, Betrug und Korruption ist zu beseitigen: Wenn es kein großes Vermögen in den Händen Weniger gibt, haben diese Wenigen auch keinen Zugriff darauf. Wenn große Unternehmen unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und KonsumentInnen stehen, ist die (kriminelle) Verfügung über diese Vermögen durch Wenige unmöglich.

Armut, Frustration, massiver Arbeitsdruck, Stress, Arbeitslosigkeit, physische und psychische Krankheit, Drogenabhängigkeit, Verzweiflung, Perspektivenlosigkeit, Wohnungsnot sind Ursachen für den Großteil von „krimineller“ Gewalt. Radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn brächte Einkommen und massive Entlastung für alle. Wirtschaftliche und autoritäre Abhängigkeitsverhältnisse sind Ursache für häusliche und sexuelle Gewalt. Alle genannten Ursachen sind im Wirtschaftssystem zu finden und daher mit diesem zu beseitigen. Der Staat hat das „Gewaltmonopol“ – und nützt es auch. Streikende ArbeiterInnen, rebellische Jugendliche, sich wehrende Minderheiten werden Opfer brutaler staatlicher Gewalt. Ein Staat, der ein System schützt, in dem Viele für die Profite Weniger arbeiten, ist gewalttätig. Da der Kapitalismus an allen Ecken und Enden kracht und zunehmend in Frage gestellt wird, sind stärkere Anstrengungen zu dessen Schutz und Aufrechterhaltung nötig. Daher wird auch das „Recht“ verstärkt repressiv eingesetzt. Delikte wie „Landfriedensbruch“ oder „Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze“ werden ausgegraben und gegen Widerstand eingesetzt.

Die Ungleichwertigkeit von Kapital und Mensch im Kapitalismus ist überdeutlich: Die Höchststrafe für Diebstahl ist gleich hoch wie für die tödliche Verletzung eines Menschen. Die Höchststrafe für Diebstahl durch Aufbrechen eines Behältnisses (fünf Jahre) ist höher als für die verabredete Verletzung eines Menschen durch drei Personen (drei Jahre). Für die vier Polizisten, die Bakary J. schwerst misshandelt und verletzt haben, lautete das Urteil je acht bzw. sechs Monate bedingt. Die Einen können sich spezialisierte RechtsanwältInnen oder medienwirksame StaranwältInnen leisten, die Anderen bekommen – wenn überhaupt – (oft schlechte) Pflichtverteidigung. MigrantInnen oder sozial Benachteiligte kommen leichter in Haft und sind bei Beweiswürdigung und Strafzumessung benachteiligt. Strafe ist also nicht ultima ratio. Sie ist unmittelbarer Ausfluss der bestehenden Klassengesellschaft. Wenn die Ursachen für Handlungen, die Anderen schaden, beseitigt würden, bliebe kein Raum für Strafe. Denn selbst der häufig als Beispiel angeführte psychopathische Gewalttäter schöpft seine Gewalt aus seiner Umwelt und seinen Lebensumständen.

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