Mit den Herrschenden russisch reden

Jan Rybak

„Nicht ‚Einführung‘ des Sozialismus als unsere unmittelbare Aufgabe, sondern einstweilen nur sofortige Übernahme der Kontrolle […] durch die Arbeiterdeputierten.“ (Lenin, Aprilthesen).

Alle paar Jahre, meist Ende Oktober, Anfang November füllen sich die Wochenendbeilagen der bürgerlichen Zeitungen mit den mittlerweile nicht mehr ganz frisch wirkenden „Enthüllungen“ und „Skandalen“ über die „Schrecken“ der Russischen Revolution von 1917. Auch 95 Jahre danach sind die beiden Männer mit dem Ziegenbart (Lenin und Trotzki, die führenden Figuren des Oktobers) der leibhaftige „Gott-sei-bei-uns“ der Herrschenden. Wenn Presse und Medien gleichermaßen Gift und Galle spucken, ist es angebracht, sich mit dem historischen Ereignis ernsthaft auseinanderzusetzen und eine Linie von den damaligen Erfahrungen zu heutigen Fragen zu ziehen.

Die Russische Revolution war ihren tieferen Wurzeln nach vor allem ein Ausdruck der objektiven Notwendigkeiten im Russland von 1917. Der 1. Weltkrieg zog sich schon drei lange Jahre hin. An der Front starben die Soldaten, im Land hungerten die Menschen und die Bäuerinnen und Bauern hatten kein Land. Die grundlegenden Forderungen der russischen Bevölkerung erwuchsen notwendigerweise aus diesen drei großen Übeln. Unter „Frieden, Land, Brot!“ wurde Anfang März 1917 der Zar gestürzt und eine provisorische, bürgerliche Regierung kam an die Macht. Diese versprach, die Forderungen zu erfüllen. Sie war dazu aber nicht in der Lage, weil sie nicht bereit war, die ökonomische und politische Basis des Kapitalismus zu verlassen. Dabei sind die Forderungen nach der Versorgung der Bevölkerung, einer Landreform und der Beendigung des Krieges nicht automatisch revolutionär. Im Kern handelte es sich dabei um Forderungen, deren Umsetzung unter anderen Bedingungen, in anderen Ländern, die Grenzen des Systems nicht gesprengt hätten.

Anders aber in Russland. Der Krieg hatte die Widersprüche innerhalb der russischen Gesellschaft aufbrechen lassen und die Unzulänglichkeiten des zurückgebliebenen russischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems offen zur Schau gestellt. Reformen waren in diesem Rahmen schlicht nicht mehr möglich. Keine der existierenden Parteien - außer den Bolschewiki und in Teilen den linken Sozialrevolutionären - hatte auch ein Interesse an der Überwindung des Kapitalismus. Keine bürgerliche Regierung war in der Lage, den Forderungen der Massen entgegenzukommen. Die konsequente Durchsetzung der Forderungen nach Frieden, Land und Brot konnte nur von der organisierten ArbeiterInnenklasse durchgeführt werden, musste auf revolutionärem Weg geschehen und somit ein Schritt zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung sein.

Das kapitalistische Trauerspiel ist seither weitergegangen. Auch heute bedeutet Kapitalismus für Milliarden Menschen Armut, Hunger, Ausbeutung und Krieg. Auch heute ist der Kapitalismus in einer tiefen Krise und so leicht scheint sich diese nicht beheben zu lassen. Die Forderungen der Masse der Beschäftigten, Jugendlichen, PensionistInnen etwa in Griechenland ähneln nicht wenig jenen ihrer VorgängerInnen in Russland vor 95 Jahren. Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Elend und Hoffnungslosigkeit gilt es zu überwinden. Wie damals sind sämtliche bürgerliche Regierungen und Parteien weder willens noch in der Lage, diesen grundlegenden Forderungen, die an sich nicht am System selbst kratzen würden, entgegenzukommen. Wie schon 1917 ist die Umsetzung dieser Forderungen nur möglich, wenn die Menschen ihr Schicksal und ihre Gesellschaft selbst in die Hand nehmen. Das bedeutet dann aber auch einen grundsätzlichen Bruch mit jenem Gesellschaftssystem, das nicht in der Lage ist, den Menschen eine Zukunft zu bieten.

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