Liebknecht und Luxemburg

aus: Ruth Fischer – Stalin und der deutsche Kommunismus
Ruth Fischer

Karl Liebknecht war der Träger eines berühmten sozialistischen Namens, der Sohn eines der Parteigründer. Sein Vater, Wilhelm Liebknecht, hatte an der 1848er Revolution teilge­nommen. Er hatte mit Marx in London gelebt und mit August Bebel den Grundstein zu der neuen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gelegt. Für die ältere Generation der deutschen Sozialisten hatten die Namen Bebel und Liebknecht denselben Klang wie in Russland die Namen Lenin und Trotzki im Jahre 1917. Wilhelm Liebknecht hatte 1871 gegen die Annexion von Elsass-Lothringen protestiert; er bezeichnete die Haltung der Intellektuellen, der Journalisten, Professoren und Literaten, die nicht gegen den Krieg waren, als „Hochverrat an der Zivilisation und an der Humanität.“. Wegen seiner Antikriegs-Propaganda kam er im Jahre 1872 einige Monate ins Gefängnis; während seiner Festungshaft setzte er seine Propaganda fort, hielt seinen engen Kontakt mit Marx in London aufrecht und griff die Regierung weiterhin an.

Am 13. August 1871, ein Jahr vor Wilhelms Gefangenschaft, wurde Karl in Leipzig geboren. Als Redakteur des »Vorwärts», der Berliner Parteizeitung, hatte sein Vater ein so geringes Einkommen, dass Karl und sein Bruder Theodor nur mit Hilfe eines Parteistipendiums an der Universität Jura studieren konnten. Karl, geboren und aufgewachsen in der Sozialdemokratischen Partei, trug seine Erbschaft mit Begeisterung. 1905, als die Revolution in Russland die deutsche Partei in Unruhe versetzte, verstärkte er seinen Kampf gegen den kaiserlichen Militarismus und konzentrierte seine Propaganda hauptsächlich auf die jungen Leute, die zum Militärdienst eingezogen werden sollten. 1907 wurde er wegen seiner Schrift Militarismus und Antimilitarismus zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt. Wahrend er im Gefängnis saß, erfolgte seine Wahl zum Abgeordneten des preußischen Landtags, und 1912 wurde er Reichstagsabgeordneter. Er trug den berühmten Parteinamen, bewies persönlichen Mut, doch vor 1914 deutete nichts auf seine spätere einzigartige Rolle hin.

Zusammen mit Liebknecht war Rosa Luxemburg führend im Kampf gegen den imperialistischen Krieg. Sie war eine jener Sozialisten aus dem Osten, die sich nach ihrer Flucht vor der zaristischen Verfolgung der deutschen Bewegung angeschlossen hatten. Sie war 1870 in einer kleinen Stadt in Russisch-Polen geboren als das jüngste von fünf Kindern einer wohlhabenden und kultivierten jüdischen Familie. In ihrer Jugend litt sie einem Hüftleiden, das sie ein Jahr ans Bett fesselte und das man ihr noch später anmerkte. Sie besuchte ein Gymnasium in Warschau, was in dieser Zeit für ein Mädchen aus jüdischer Familie ungewöhnlich war, und kam dort in revolutionäre Kreise. 1889 floh sie, als ihr Gefangenschaft drohte, im Heu eines Bauernwagens versteckt, über die grüne Grenze nach Deutschland und ging nach Zürich, dessen Universität ein Sammelpunkt russischer sozialistischer Flüchtlinge war. Nach kurzem Ausflug in die Zoologie und Botanik studierte sie Nationalökonomie, was für sie Studium des Marxismus bedeutete.

Von ihrem Exil aus nahm Rosa aktiv und leidenschaftlich an den Vorgingen und Kämpfen der polnischen illegalen Bewegung teil. Sie bekämpfte den unter polnischen Sozialdemokraten stark verbreiteten Nationalismus und half, zusammen mit Jogiches und anderen, die Spaltung der Partei und die Gründung einer neuen, der »Sozialdemokratischen Partei des Königreichs von Polen und Litauen zu organisieren. Sie führte ein politisches Doppelleben: wahrend ihre Bedeutung in der legalen deutschen Partei wuchs, war sie gleichzeitig verwickelt in die fortgesetzten Fehden und Verleumdungen, jene unvermeidlichen Begleiterscheinungen politischer Auseinandersetzung in illegalen Parteien. Rosa, die ihren Standpunkt mit Nachdruck verteidigte, erlebte die ganze Skala persönlicher Anfeindungen. Sie wurde beschuldigt, ein Agent der Ochrana, der zaristischen Geheimpolizei, zu sein; Gerüchte besagten, sie habe nur mit Hilfe des Obersten Markgrafski von der Warschauer Gendarmerie aus Polen entkommen können. Auf der Londoner Konferenz der polnischen Sozialisten im Jahre 1896 schrie Daszynski, Abgeordneter des österreichischen Parlaments: „Es ist unerträglich, dass unsere Bewegung mit solchen Schurken wie Rosa Luxemburg, Urbach et cetera belastet ist (…) Wenn unsere Internationale nicht von dieser Bande journalistischer Freibeuter gereinigt wird, werden sie unsere Freiheitsbewegung zu Grunde richten.“

Trotz ihrer lebenslangen Aktivität in der polnischen Partei befriedigte es sie nicht, immer nur Auslandsstützpunkt für die illegale Bewegung zu sein; sie wollte nicht unentwegt im Exil leben. Sie sehnte sich danach, mit aller Kraft in einer westlichen sozialistischen Bewegung mitarbeiten zu können; und als sie sich dazu entschlossen hatte, wählte sie Deutschland, da die Massenorganisation der Sozialdemokratie sie unwiderstehlich anzog. Zunächst hatte sie große Schwierigkeiten. Sie erwarb die deutsche Staatsbürgerschaft durch eine Scheinheirat mit Gustav Lübeck, einem sozialdemokratischen Genossen, und begann das Land zu bereisen, auf Parteiversammlungen zu sprechen und für verschiedene Parteizeitungen zu schreiben. Sie wurde als ein fanatischer Eindringling aus dem Osten angegriffen, als jemand, der unfähig war, die besonderen Züge der deutschen Arbeiterbewegung zu verstehen; sogar der alte Wilhelm Liebknecht schrieb einen recht unangenehmen Artikel, in dem er sie persönlich angriff. Viele Jahre lang wurden ihre deutschen Artikel von ihrer intimen Freundin, der Frau von Karl Kautsky, korrigiert, bis Louise Kautsky ihr eines Tages mitteilen konnte: „Du schreibst ein besseres und schöneres Deutsch als irgend jemand, und meine Korrekturen sind völlig überflüssig geworden.“

Als 1905 die Revolution in St. Petersburg ausbrach, ging Luxemburg nach Warschau und nahm dort am Kampf teil. Nach kurzer Gefangenschaft kehrte sie nach Deutschland zurück und beteiligte sich an der ausgedehnten Diskussion über den politischen Massenstreik, die damals die deutsche Partei beschäftigte. Erfüllt von den noch frischen polnischen Erfahrungen griff sie die reformistische Haltung der Parteiführer als Opportunismus an; ihr Angriff führte 1909 zum Bruch mit Karl Kautsky, der ihr ein ergebener Freund und vielleicht der eigentliche Lehrer gewesen war. Während dieser Jahre wurde ihr Name auch außerhalb der Partei und im ganzen Lande bekannt. Luxemburg zog sich den Hass der deutschen Autoritäten zu, denn sie war eine gefährliche Propagandistin gegen das Reich und seine Politik, die den deutschen Militarismus leidenschaftlich anprangerte; sie widersetzte sich prinzipienfest denjenigen sozialdemokratischen Politikern, die sie trotz aller pazifistischen Phraseologie als wesentliche Stützen eines künftigen Krieges betrachtete. Angezogen von dem Zauber ihrer Persönlichkeit und von den Erfahrungen, die sie aus dem Osten mitgebracht hatte, bildete sich bald eine Gruppe um sie: der Kern des späteren Spartakusbundes – unter anderen Franz Mehring, der spätere Marx-Biograph und Parteihistoriker, und Clara Zetkin, die Frauenorganisatorin.

Der Ausbruch des Krieges steigerte Rosa Luxemburgs Kampfwillen. Unermüdlich rief sie zur Massenaktion auf, zur Erzwingung eines Friedens ohne Annexionen und Entschädigungen. Im Februar 1915 wurde sie verhaftet, um eine alte, zweimonatige Strafe abzusitzen; mit einer Unterbrechung von einigen Monaten zu Beginn des Jahres 1916 blieb sie bis zum November 1918 im Gefängnis in Wronke bei Breslau.

Luxemburg hat ihren Antikriegs-Standpunkt am klarsten in der so genannten Junius-Broschüre zusammengfasst. Man kann sich, wenn man diese Streitschrift heute liest, der Intensität dieses Verzweiflungsschreis über das Versagen des sozialistischen Internationalismus und der sozialistischen Solidarität nicht entziehen. Wenn die Arbeiter aller Länder nicht jetzt durch gemeinsame Aktion dem Dahinschlachten ihrer proletarischen Brüder ein Ende setzen, schrieb sie, dann ist der Sozialismus und Europa zum Untergang verurteilt. „Was jetzt vorgeht, ist eine nie da gewesene Massenabschlachtung, die immer mehr die erwachsene Arbeiterbevölkerung aller führenden Kulturländer auf Frauen, Greise und Krüppel reduziert, ein Aderlass, an dem die europäische Arbeiterbewegung zu verbluten droht. Noch ein solcher Weltkrieg, und die Aussichten des Sozialismus sind unter den von der imperialistischen Barbarei aufgetürmten Trümmern begraben.“' Luxemburg hielt es für eine Illusion, dass die Krieg führenden Staatsmänner ohne die Intervention der sozialdemokratischen Massenparteien zu einer Einigung kommen könnten. Im Wesentlichen jedoch war ihre Vorstellung von der Nachkriegswelt ein nur wenig verändertes Bild des Status quo ante; der Umfang des unaufhaltsamen Zusammenbruchs der europäischen Gesellschaft kam ihr nicht zum Bewusstsein. Ihre Gedanken waren ausschließlich mit der Umformung Deutschlands in eine Republik beschäftigt, ohne sofortige Strukturänderungen; die Sozialdemokratie werde ihren alten Kampf in enger Solidarität mit den Bruderparteien der anderen europäischen Länder wieder aufnehmen. Sie betrachtete im Gegensatz zu Lenin den Krieg nicht als ein Vorspiel zum Bürgerkrieg, der den europäischen Sozialismus einleitet.

Bis zum Kriegsausbruch war der Kontakt zwischen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nur sporadisch gewesen; doch jetzt brachte der Widerstand gegen den Krieg sie zusammen. Die Widerstandsbewegung zeigte während des Jahres 1915 eine gewisse Kraft; Ortsgruppen der Sozialdemokratie und vor allem die Jugend nahmen die Kriegspolitik der Parteileitung keineswegs ruhig hin. Im April erschien die erste und einzige Ausgabe einer Antikriegszeitung, Die Internationale, herausgegeben von Luxemburg und Franz Mehring, mit einem Artikel von Liebknecht; sie wurde sofort beschlagnahmt.

Die kriegsgegnerischen Gruppen des europäischen Sozialismus hielten zwei Konferenzen in der Schweiz ab, 1915 und 1916, in Zimmerwald und in Kienthal. Luxemburg und Liebknecht konnten nicht daran teilnehmen, aber ihre Anhänger, die sich den Namen Die Gruppe Internationale gegeben hatten, waren anwesend. Die schwachen Manifestationen des antimilitaristischen Internationalismus gaben der deutschen Opposition neuen Antrieb und stärkten sie in ihrem Kampf gegen die Parteiführung. Die Unzufriedenheit wuchs und bildete das Material für eine neue Partei.

Nur ein paar kleine Gruppen, die vor dem Kriege mit Karl Radek, dem Redakteur sozialdemokratischer Zeitungen in Bremen und Leipzig, zusammengearbeitet hatten, hauptsächlich Intellektuelle aus diesen beiden Städten, hatten eine vage Vorstellung von Lenins Gedanken. Die Wochenzeitung Arbeiterpolitik, in Bremen von dem Lehrer Johann Knief herausgegeben, und Lichtstrahlen, in Berlin von Julian Borchardt, Radeks persönlichem Freund, herausgegeben, standen Lenin am nächsten. Radek selbst, der von der Schweiz aus Artikel für deutsche Zeitungen schrieb, begann einen wesentlichen Einfluss im Antikriegslager zu gewinnen. Lenin war aber im Allgemeinen unbekannt und sicherlich ohne wesentlichen Einfluss in Deutschland -, dies veränderte sich nicht bis nach der Machtergreifung der Bolschewisten in Russland.

Am Neujahrstage 1916 akzeptierte eine geheime Konferenz der Gruppe Internationale, die in Liebknechts Berliner Wohnung stattfand, Luxemburgs Thesen zur Krise der Sozialdemokratie als ihre politische Plattform. Die Formulierungen Luxemburgs vereinigten sich mit Liebknechts Losung: „Der Feind steht im eigenen Land“, dem Titel eines seiner Manifeste.

Am 12. Januar schloss die Reichstagsfraktion der Partei Liebknecht aus. Zwei Tage später, als Otto Rühle ihn verteidigte, wurde dieser ebenfalls ausgeschlossen. Die Tendenz, eine neue Partei zu gründen, nahm zu. Gegen jeden Versuch, die Partei zu spalten, stand jedoch die Tradition von vierzig Jahren Einheit. Im Jahre 1875 hatte die Bebel-Gruppe, die „Eisenacher“ (benannt nach der thüringischen Stadt Eisenach, einem ihrer stärksten Parteizentren), sich auf der Gothaer Einheitskonferenz mit den Sozialisten aus dem Rheinland zusammengeschlossen, die sich unter Lassalle im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein organisiert hatten. Seitdem haben die Sozialdemokraten jede Politik, die zu einer Spaltung führen könnte, nicht nur als eine falsche Politik betrachtet, sondern als das gemeinste Verbrechen - moralisch zu verabscheuen wie eine Vergewaltigung. Keine Streitfrage war schwerwiegend genug, um die Partei zu spalten: Einheit der Arbeiterklasse war die Grundvoraussetzung des Erfolges Diese Auffassung von Klasseneinheit war damals wie heute Dogma aller Arbeiterorganisationen in Deutschland.

Nichtsdestoweniger spaltete sich die Sozialdemokratische Partei am 24. März 1916. Der Minderheitsflügel, die USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands), die auf der Gothaer Konferenz vom 6.-7. April gegründet worden war, wurde sehr schnell eine zweite sozialdemokratische Massenpartei.

Der Widerstand gegen den Krieg hatte so zugenommen, dass Liebknecht sich am Ersten Mai zum Handeln entschloss, da er mit einer Reaktion der Massen auf seinen Protest rechnete. Er war inzwischen ins Heer eingezogen und in eine Strafkompanie gesteckt worden. Er ging in seiner Uniform zum Potsdamer Platz in Berlin, in die Nähe großer Bahnhöfe, überfüllt von Truppen, die auf den Abtransport an die Fronten warteten. Don schrie er mehrere Male: „Nieder mit der Regierung! Nieder mit dem Krieg! Es lebe der Sozialismus!“ Er wurde verhaftet, aber sein Protest war keineswegs die vereinzelte Geste eines Verrückten. Hinter Liebknecht, der einsam auf dem Potsdamer Platz stand, standen Hunderttausende deutscher Sozialdemokraten. Die kaiserliche Regierung war sich des Ansehens, das Liebknecht durch seine direkte Aktion gewonnen hatte, durchaus bewusst. Während des Prozesses und seiner Gefangenschaft im Zuchthaus Luckau fanden in Schlesien Demonstrationen und Streiks statt, die ihr Hauptziel, Karls Befreiung, zwar nicht erreichten, aber der Regierung und der Parteibürokratie die anwachsende Kriegsmüdigkeit deutlich machten.

Am 20. September erschien der erste einer Serie von politischen Brief en mit der Unterschrift Spartakus (nach dem Führer einer Sklavenrevolte gegen Rom im Jahre 73 v. Chr.), die sehr bald eifrig in Parteikreisen gelesen wurden. Ihre politische Richtung wurde in der Hauptsache von Rosa Luxemburg bestimmt, die ihre Artikel aus ihrer Gefängniszelle schickte, aber auch andere schrieben Beitrage. Die Gruppe Internationale wurde durch diese Briefe als Spartakusbund bekannt und bildete den linken Flügel der USPD. Mehrere USPD-Führer wurden verhaftet. Alle führenden Spartakisten nahm man in Schutzhaft – nicht nur Luxemburg und Liebknecht, sondern später auch Franz Mehring, Clara Zetkin, Wilhelm Pieck und Hugo Eberlein. Die Berliner Funktionäre des Metallarbeiter-Verbandes, unter ihnen Richard Müller, der Chronist der deutschen Revolution, wurden an die Front geschickt. Der Widerstand der deutschen Arbeiter gegen den Krieg hatte so zugenommen, dass er von allen am Kriege beteiligten Mächten in Rechnung gestellt werden musste. Die Entente beobachtete jedes Anzeichen aufmerksam in der Hoffnung, mit den Pazifisten der Zentrumspartei und der USPD zusammenarbeiten zu können. Ludendorff und der Generalstab waren nicht weniger aufmerksame Beobachter; die Moral des deutschen Heeres wurde durch die oppositionelle Strömung unter den Arbeitern gerade in dem Augenblick beeinträchtigt, als die amerikanische Kriegserklärung unmittelbar bevorstand. Auch der Parteivorstand war höchst betroffen von der wachsenden Rebellion gegen seine Autorität; die Macht des Parteiapparats hing nunmehr, nach zwei vollen Kriegsjahren, von dem Erfolg seines Bündnisses mit der kaiserlichen Regierung ab.

Die Friedenspropaganda fand ein offenes Ohr vor allem unter den Matrosen. Sie führten unter sich eine neue Grußform ein: „Es lebe Liebknecht“ und formierten kleine illegale Ausschüsse. Im März 1917 ballte sich die Unruhe zu einer Meuterei zusammen; die beiden Führer, Reichpietsch und Köbis, wurden als warnendes Beispiel erschossen,- die ersten politischen Todesurteile seit Kriegsausbruch -, die Unruhe in der Marine jedoch blieb und nahm noch zu. Hunderte von Matrosen wurden zu Freiheitsstrafen von einem bis zu fünfzehn Jahren verurteilt.

Nach der Protestkundgebung Liebknechts schossen überall revolutionäre Gruppen auf, illegale Aktionsausschüsse der Matrosen, illegale Aktionsausschüsse in den Berliner Fabriken. Die Gewerkschaften und die Partei hatten in den Fabriken ihre Betriebsvertrauensleute. Diese, hauptsachlich Gewerkschaftsfunktionäre, übten einen entscheidenden Einfluss innerhalb der Partei aus. Aus ihrer Mine entwickelte sich die illegale Organisation der Betriebsobleute.

Die Betriebsobleute, die an ihre Fabriken gebunden waren, unterschieden sich deutlich von den Arbeiter- und Soldatenräten, die sich 1918 formierten und Vertreter loser Einheiten aus verschiedenen Ortsgruppen waren. Es handelte sich um eine neue Form der politischen Organisation, unabhängig von den traditionellen Partei- und Gewerkschaftskörpern. Die Widerstandsbewegung im Reich hatte nicht dieselbe Organisationsform wie in Berlin, aber ihr Inhalt war in allen Industriegebieten ähnlich. Die Vertreter der Arbeiter hatten regelmäßige Zusammenkünfte, um gegen den Parteiapparat eine Bewegung zu organisieren, die den Krieg beenden sollte. Gemessen an den Vorstellungen der Zeit, nahmen diese Arbeiter ein beträchtliches Risiko auf sich. Viele dieser Männer mittleren Alters, die in der Kriegsproduktion arbeiteten, waren vom Militärdienst befreit; sofortige Verschickung an die Front war der Preis, den sie für ihre Kampfbereitschaft zahlten.

Die allgemeine Stimmung gegen den Krieg beschränkte sich nicht auf die sozialistischen Arbeiter. Im Jahre 1917 traten die katholischen Arbeiter des Ruhrgebiets, des Rheinlands und Oberschlesiens, die die breite Massenbasis des Zentrums bildeten, ebenfalls für unmittelbaren Friedenschluss ein, - ein weiteres Anzeichen für das Bestreben der deutschen Arbeiter, über den Rahmen der wilhelminischen Gesellschaft hinauszugehen.

Liebknecht und Luxemburg im Gefängnis, Rebellion unter den Matrosen, die unzerstörbare Sozialdemokratische Partei gespalten und ihr Antikriegsflügel im Zunehmen, die Ausbrei­tung der Antikriegsstimmung in immer weiteren Kreisen der Bevölkerung, Streiks in allen Industriegebieten, Unruhe überall, - das war das politische Bild Deutschlands im Jahre 1917. Die Widerstandsbewegung wuchs, in Form und Inhalt unabhängig vom russischen Bolschewismus, und trug schließlich zu einem großen Teil zum Zusammenbruch des Reiches bei. Der alte Traum des sozialdemokratischen Arbeiters, Deutschland in eine Volksrepublik umzuwandeln, kam zu neuem Leben. „Sie alle werden den sozialistischen Staat noch erleben, alle hier anwesenden Delegierten“, hatte August Bebel 1891 auf dem Erfurter Parteitag ausgerufen. In der Seele des deutschen Arbeiters nahm der Internationalismus, wiedergeboren aus  Mobilmachung und Krieg, den Charakter des inbrünstigen Glaubens aus der Frühzeit der Arbeiterbewegung wieder an.

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