Kein Mitleid für Òrban

Die politische Zwickmühle in Ungarn
Tilman M. Ruster

Ungarn ist das schwarze Schaf in der EU. Dieser Eindruck entsteht zumindest, wenn man den bürgerlichen Medien folgt. Kaum eine Woche vergeht, ohne das irgendeine EU-Behörde die Òrban-Regierung öffentlich kritisiert. Es geht um den staatlichen Rassismus gegen Roma, den wachsenden Antisemitismus oder die Angriffe auf die Demokratie in Ungarn. Hier und da liest man auch was von schrumpfenden Gewerkschaften, aber das kümmert die EU eher wenig.

Tatsächlich ist die Situation in Ungarn fatal. Der Kurs der Regierung geht mehr und mehr in Richtung einer Diktatur. Ministerpräsident Viktor Òrban steht vor einer doppelten, in einer Demokratie unlösbaren Aufgabe: Er muss einerseits brutalste Kürzungen vornehmen, um die Kredite an internationale Banken in fremden Währungen zurück zu zahlen. Allein österreichische Banken haben 60Mrd.€ an Krediten in Ungarn vergeben. Die wachsende Armut zieht natürlich den Zorn der Bevölkerung auf die Regierung.

Andererseits versucht er das letzte Bisschen Unabhängigkeit der ungarischen Bourgeoisie zu erhalten. Dazu muss er den „griechischen Weg“ vermeiden, also die faktische Übergabe der Macht an die Troika und den damit verbundenen Ausverkauf des Landes an ausländisches Kapital. In dem Augenblick, wo Òrban es nicht mehr schafft die Schulden und Zinsen zu bedienen wird die Troika, die er einst aus dem Land geworfen hatte zurückkehren. Um Schulden und Zinsen zu bedienen muss er also die Maßnahmen, die die Troika anderswo umsetzt selbstständig durchführen. 2010 rief die Regierung deshalb den „Krieg gegen die Schulde“ aus. Aber im 1. Quartal 2013 stieg die Verschuldung erneut um 3,2% auf 82,4% des BIP. Das ist fast doppelt so hoch wie vergleichbare Staaten in der Region.

Viktor Bonaparté

Um Zustimmung für seinen „Krieg gegen die Schulden“ zu gewinnen legt Òrban es auf Konflikte mit dem Ausland an. Er stellt sich als den Verfechter ungarischer Interessen gegen eine Übermacht aus feindlichen Staaten dar. Folgt man seiner Propaganda ist Ungarn das Opfer einer internationalen Verschwörung. Er versucht ein Klima wie in einer belagerten Festung zu erzeugen: Wenn sich nicht alle hinter „ihre“ Regierung stellen wird Ungarn von seinen „Feinden“ vernichtet.

Tatsächlich stellt sich Òrban immer wieder gegen die Interessen der europäischen Bourgeoisie. Ungarn hat als erstes Land eine Finanztransaktionsteuer eingeführt und eine Reihe von Gesetzen erschweren ausländische Investitionen, besonders im Finanzsektor. Nach Angaben des ungarischen Bankenverbandes haben diese seit 2010 3,6 Mrd. € an extra-Kosten für die Banken verursacht. Manche dieser Maßnahmen würde vielleicht auch eine wirklich linke Regierung durchziehen.

Aber diese Maßnahmen greifen natürlich nicht den Kapitalismus an, sondern nur die Interessen ausländischer Investoren. Der Hintergedanke ist der Schutz der nationalen Bourgeoisie gegen die Internationale. Die ungarische Regierung nimmt mehr und mehr bonapartistische Züge an. Marx begründet diesen Begriff in seinem Werk „Der 18. Brumaire des Lóuis Bonaparté“, in dem er die Regierung in Frankreich beschreibt, die aus dem Putsch 1852 hervorging. In Frankreich 1852 wie heute in Ungarn ist die Bourgeoisie zu schwach und steht zu sehr unter Druck, um über eine stabile, bürgerliche Demokratie zu regieren. Seit 1990 hat sich nur eine kleine Bourgeoisie entwickelt, und die wichtigsten Produktionszweige im Land sind im Besitz ausländischer Konzerne. In einer Demokratie braucht der Kapitalismus die Zustimmung oder wenigstens die Duldung der Mehrheit der Bevölkerung. Diese erkauft er sich in der Regel über einen stabilen Lebensstandart. Die ungarische Bourgeoisie ist dafür aber längst zu schwach, und auch das internationale Kapital kann nicht mehr einspringen. Eine bonapartistische Regierung schwebt scheinbar über allen Klassen. Sie unternimmt Maßnahmen gegen und für jede Klasse, aber immer mit dem Ziel den Kapitalismus zu schützen.

In diesem Sinne ergreift Òrban Maßnahmen gegen das internationale Kapital und versucht so so zu wirken als sei er gegen „entfesselten“ Kapitalismus. Auf der einen Seite wurden Gas-und Strompreise um 10% gesenkt, während andererseits der Kündigungsschutz gelockert wurde, Bildungs- und Gesundheitsstandards angegriffen wurden...All das um die Interessen der Reichen und den Kapitalismus selbst in Ungarn zu schützen.

Weil die schwache ungarische Bourgeoisie als Herrschaftsbasis alleine nicht reicht und sich die Regierung auch sonst nicht auf eine Klasse stützen kann, versucht sie sich durch eine Klientelsystem eine soziale Basis zu schaffen. Wer in Ungarn heute etwas werden will sollte Fidész-Mitglied sein. Egal ob Kultur, Justiz, Universitätswesen...mit einer sehr aggressiven Personal-Politik werden die wichtigsten Posten mit Fidész-UnterstützerInnen besetzt. Ein weiteres Beispiel ist das jüngst eingeführte, staatliche Tabak-Monopol: von vorher 18.000 Trafiken haben nur 4500 eine neue Tabak-Verkaufs Lizenz erhalten. Das einzige erkennbare Auswahlkriterium war die Beziehung zur Regierungspartei.

Demokratie ist im Weg

Trotz aller Propaganda und der erwähnten Politik bleibt die Regierung aber letztlich instabil und ist auf autoritäre Maßnahmen angewiesen. Die neue Verfassung vom 1.1.2012, die Òrban schon auf seinen Regierungsstil zugeschnitten hatte, wird bereits wieder von der Regierung angegriffen. Seit 2012 wurde zum Beispiel das Verfassungsgericht weitgehend entmachtet.

Heftig trifft es die ArbeiterInnenbewegung: In weiten Teilen des öffentlichen Dienstes wurden Gewerkschaften durch eine Art runden Tisch ersetzt. Machtlose ArbeitnehmerInnen-VertreterInnen sollen dort betriebliche Probleme mit den ArbeitgeberInnen ausdiskutieren. Kampfmittel stehen ihnen gesetzlich nicht zur Verfügung. Das Streikrecht ist weitgehend abgeschafft. Gerichte entscheiden nun ob gestreikt werden darf, oder nicht. Nachdem das Justiz-System, wie fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens, mit AnhängerInnen der Regierungspartei Fidész besetzt sind fallen die Entscheidungen praktisch immer negativ aus.

Alte Rezepte gegen die Krise

Weitere entscheidende Mittel in Òrbans Regierungskurs sind Nationalismus und Rassismus. Òrbans Programm gegen die Krise ist einfach „Groß-Ungarn“. Wohl als „Strafe“ für die Räterepublik von 1919 verlor Ungarn durch den Vertrag von Trianon 1923 ca. 2/3 seines ursprünglichen Staatsgebiets an seine heutigen Nachbarn. Fidész und die neofaschistische Jobbik sind sich einig: hätte Ungarn diese Gebiete noch wäre es eine starke Nation. Das ist natürlich Blödsinn, wird aber schon deshalb von vielen geglaubt, weil es die einzige „Krisenlösung“ ist, die die großen Parteien anbieten.

Um diesen Anspruch auf „Groß-Ungarn“ zu unterstreichen lässt Fidész im ganzen Land Straßen und Plätze nach Miklós Horthy, dem Diktator, der Ungarn zwischen den beiden Weltkriegen regierte, benennen. Dieser hatte sich sogar mit Hitler verbündet, um „Groß-Ungarn“ zurück zu erlangen. Òrban will sich so in die Nachfolge Horthys stellen. Er stürzt sich ständig in diplomatische Konflikte mit den Nachbar-Staaten, die wohl nie ernsthafte Ausmaße annehmen werden, aber das Gefühl der „belagerten Festung“ verstärken.

Ebenso eifrig hetzt er gegen Roma. In der größten Hitzewelle seit Jahren lies er einem ganzen Roma-Dorf das Wasser abstellen mit der Begründung diese würden es nur verschwenden. Im Osten Ungarns kommt es immer wieder zu Wasser und Strom-Engpässen, was diese Hetze auf fruchtbaren Boden fallen lässt. Gesetze, die die ganze Bevölkerung betreffen, wie z.B. die Lockerung des Kündigungsschutzes oder die Einführung von Zwangsarbeit für Arbeitslose werden mit angeblichen faulen Roma begründet. Diese seien auch mit schuld an der Krise. Sehr viel weiter geht die Jobbik und der Rest der neo-faschistischen Kräfte in Ungarn. Immer wieder kommt es zu rassistischer, organisierter Gewalt gegen Roma, mit Toten und zahlreichen Verletzten. Sowohl für den Vertrag von Trianon als auch für die jetzige Krise macht Jobbik das „internationale Judentum“ verantwortlich. Der Terror der ca. 70.000 Mann umfassenden „neuen ungarischen Garde“ richtet sich also auch gegen die Juden/Jüdinnen im Land. Mehr und mehr von ihnen fliehen inzwischen ins Ausland.

Die „Opposition“

Jobbik ist so die auffälligste Oppositionspartei. Die Krise in Ungarn hat zumindest eine Wirkung auf das Bewusstsein, nicht nur der ArbeiterInnenklasse: Eine radikale Lösung muss her. Wo Òrban rechtsextrem ist, ist Jobbik rechtsextremer. Jobbik wirft Fidész vor nur halbherzig für die Unabhängigkeit und „Groß-Ungarn“ zu kämpfen. Als die Regierung auf Druck der EU ein Gesetz erließ, das Ausländern erlaubt Grundstücke in Ungarn zu kaufen startete Jobbik im Parlament einen fast gewalttätigen Aufruhr. Solche Auftritte bringen ihr die Zustimmung Vieler. Auch wenn Jobbik bei Umfragen „nur“ zwischen 14-18% liegt, kann sie sich am Besten auf ihre AnhängerInnen verlassen. Jobbik-UnterstützerInnen sind vermutlich die Überzeugtesten von allen Parteien.

Die restliche Opposition ist klein und zerstritten. Im letzten Jahr haben sich sowohl die Grünen (LMP) als auch die Sozialdemokraten (MSZP) gespalten. Der Versuch eine Einigung dieser Parteien durch das Wahl-Projekt „Egütt2014“ (Gemeinsam 2014) zu erreichen scheint gescheitert zu sein. Der Hoffnungsträger dieser Formation, der das Projekt auf einer großen Oppositionsdemo Im Oktober 2012 ins Leben rief ist Gordon Bajnai. Er war Finanzminister und später Ministerpräsident der verhassten und korrupten MSZP-Regierung, die in den Wahlerfolg für Òrban führte. Bajnai war es, der damals das Rettungspaket akzeptierte und so die Troika ins Land holte. Er hat bereits angekündigt das im Falle eines Wahlsieges wieder zu tun. Diese völlig wirre Oppositionslandschaft bildet nicht die Stimmung im Land wieder. Ca. 50% der WählerInnen wollen überhaupt nicht wählen gehen. Eine echte Oppositionspartei müsste aus sozialen Bewegungen kommen.

Widerstand

Und diese gibt es: Immer mehr Menschen formieren sich zum Beispiel gegen Zwangsräumungen. Seit 2008 wurden bereit 40.000 Haushalte geräumt, weitere 170.000 sind davon bedroht. Grund sind die ursprünglich einmal billigen Kredite in € und Schweizer Franken, die ausländische Banken privaten Haushalten gewährt hatten. Durch die Krise und die damit verbundene Abwertung des Forint gegenüber € und SfR können immer Weniger die Kredite zurück zahlen.

Die Schwäche der Regierung zeigt sich am Stärksten in der Art, wie sie auf solche Bewegungen reagiert. Als Ende 2012 die „Winterrosen-Revolution“ ausbrach, eine Bewegung gegen erhebliche Kürzungen an den Unis, reagierte der Staat zunächst mit Repression. Daraufhin solidarisierten sich viele Lehrende und es kam zu einem kleinen, „wilden“ eintägigen Bildungs-Streik. Òrban reagierte panisch: Kurz vor Weihnachten versprach er die schlimmsten Reformen zurück zu nehmen. Zuletzt nutze er zwar die Naivität der Studierenden-Gewerkschaft um der Bewegung vorerst doch keinen Sieg zu überlassen, trotzdem zeigt das die Verwundbarkeit der Regierung. Derzeit versucht die Regierung die Lehrenden-Gewerkschaften los zu werden, in dem sie sich weigert mit ihnen über Löhne zu verhandeln und stattdessen nur noch mit einer regierungsnahen Organisation mit Zwangsmitgliedschaft für alle Lehrenden verhandeln will. Der Widerstand aus den Gewerkschaften bleibt weitgehend aus.

2011 gründete sich die Organisation Szólidaritas aus kämpferischen Teilen der Gewerkschaftsbewegung. Die Gewerkschaften selbst liegen am Boden, nicht nur wegen der Repression gegen sie, sondern auch wegen ihrer Rolle im Stalinismus und ihrer pro-kapitalistischen Politik in den 90ern. Szólidaritas verstand sich als Plattform für politische GewerkschafterInnen, mit dem Anspruch Widerstand in die Betriebe zu tragen. Die Führung besteht aber aus Gewerkschaftsbürokraten. Einige aus der Führung der Gewerkschaften hatten nämlich begriffen, dass ihr Kurs, verbunden mit der Regierungs-Repression sie ihren Job kosten könnte. Gibt es keine Gewerkschaften mehr gibt es auch keine gut bezahlten Gewerkschafts-Posten mehr. Das führte bei diesen einigen zu einem Umdenken, aber kaum zu einer Radikalisierung. Die Führung der Szólidaritas würde wohl kaum den Kapitalismus angreifen oder zu Massenaktionen gegen die Regierung aufrufen.

Und das ist genau das Dilemma der ungarischen Opposition: Sie haben keine Alternative zum Kapitalismus! Wer Fidész los werden will braucht ein glaubwürdiges Konzept gegen die Krise. Die Angriffe auf die Demokratie, Rassismus usw. finden nicht statt weil Òrban so furchtbar böse ist, sondern weil ihm die Krise kaum eine Andere Wahl lässt (was ihn nicht unschuldig macht). Die Opposition abseits der Jobbik konzentriert sich aber auf diese Symptome der Krise (Angriffe auf Demokratie, korrupte Regierung...) und spricht die soziale Frage kaum an. Wie sollten sie auch, würden sie regieren würden sie genauso kürzen.

Der Aufbau einer Alternative

Große Demos haben in den letzten zwei Jahren stattgefunden. Regelmäßig zu den Nationalfeiertagen demonstrieren bis zu 100.000 Menschen gegen die Regierung. Natürlich waren auch viele ArbeiterInnen darunter, aber keine GewerkschafterInnen oder andere VertreterInnen der ArbeiterInnenklasse sprachen auf den Kundgebungen.

Es ist höchste Zeit, dass die ArbeiterInnenbewegung unabhängig in die Kämpfe eingreift. Nur sie hat die Kraft Òrban und die Fidész-Partei nicht nur zu stürzen, sondern effektiv die Krise zu bekämpfen. Die Krise in Ungarn hat für Viele bereits offensichtlich gemacht: Im Kapitalismus gibt es keinen Ausweg aus dem wachsendem Elend und der drohenden Diktatur.

Vielleicht ist Szólidaritas der Ansatz für eine neue Partei für ArbeiterInnen, Erwerbslose, Jugendliche und PensionistInnen, vielleicht gelingt es ihr aber auch nicht die bürokratische Führung abzuschütteln. Fakt ist aber: Die ArbeiterInnen brauchen ihre eigene, kämpferische und antikapitalistische Organisation! Ein erster Schritt dafür wäre ein 24h Generalstreik. So käme die ArbeiterInnenbewegung endlich auf die politische Bühne zurück, Anlass gibt es mehr als genug!

Besonders ältere Menschen in Ungarn denken gerne zurück an die soziale Sicherheit, die der Stalinismus trotz allem geboten hat. Aber natürlich ist das für Jugendliche keine Perspektive; Auf sie hat das stalinistische Erbe eine besonders abschreckende Wirkung gegen den „Sozialismus“. Der Kampf für einen demokratischen, echten Sozialismus ist daher besonders schwer zu vermitteln.

Ungarn hat eine revolutionäre Tradition. 1919 gründeten die UngarInnen eine Räterepublik und 1956 kämpften sie entschlossen für einen demokratischen Sozialismus. Auch 89/90 gingen Massen gegen das Regime auf die Straße. Es gilt diese im Bewusstsein überraschend präsente Tradition des Widerstands wieder aufzunehmen!

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