Ungarn: Massenproteste gegen das „Sklavengesetz“

Till Ruster, Wien

„Eine ungeschickte, elende, dreckige kleine Proletin!“, so beschimpfte der gute Freund des ungarischen Regierungschefs Orbàn und Inhaber der Fidesz-Mitgliedsnummer 5, Zsolt Bayer, eine 18-jährige Schülerin im staatstreuen TV. Blanka Nagy hatte auf einer der Großdemos gegen das im Dezember beschlossene neue Überstundengesetz eine kämpferische Rede gehalten. Die Regierung ist auf vollem Konfrontationskurs mit der Bewegung, die sich aus Anlass der Erhöhung der maximal zulässigen, jährlichen Überstunden von 250 auf 400 gebildet hat. Arbeiter*innen müssen die Überstundenregelung ganz alleine mit ihren Chefs ausmachen: Kein Betriebsrat und keine Gewerkschaft soll sich einmischen. Für diese „freiwilligen Vereinbarungen“ gäbe es jetzt lediglich „mehr Flexibilität“, argumentiert die Regierung. Deshalb ist auch von dem „Sklavengesetz“ die Rede, weil alle wissen, dass solche Vereinbarungen kein bisschen freiwillig sind, wenn die Alternative Arbeitslosigkeit ist. Geht man von der bisherigen wöchentlichen Normalhöchstarbeitszeit von 48h aus, ist in Ungarn jetzt quasi das 14 Monats-Jahr oder, realistischer, die 6-Tage-Woche eingeführt worden.
Auf den ersten Blick fährt die Regierung scheinbar einen widersprüchlichen Kurs. Seit 2015 steigert sich zB der Mindestlohn von Jahr zu Jahr immer drastischer, oft stärker als von den Gewerkschaften gefordert. Aber Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverlängerungen sind zwei Reaktionen auf das gleiche Problem: Den massiven Arbeitskräftemangel.
In Folge der hausgemachten Austeritätspolitik nach der Wirtschaftskrise von 2008, die Ungarn ähnlich hart getroffen hat wie zB Griechenland, sind ca. 800.000 Personen ausgewandert, also knapp 10% der Bevölkerung. Das betrifft vor allem jüngere, gut ausgebildete Personen, die sich anderswo eine bessere Zukunft erwarten. Es bleiben die älteren Arbeiter*innen, die zB durch eine Familie oder ein Haus mehr gebunden sind und weniger leicht auswandern können.
Nicht zuletzt deutsche Konzerne, von denen laut Bundesbank über 730 in Ungarn produzieren und die direkt alleine 174.000 Menschen beschäftigen (dazu kommen zahlreiche Beschäftigte in ausgelagerten Zulieferbetrieben), sehen durch fehlende Fachkräfte ihr Geschäftsmodell bedroht. Seit den 90ern hatten sie verstärkt in Ungarn investiert, weil es dort billige Arbeitskräfte gab, die noch vor der Wende gut ausgebildet worden waren.
Das neue Überstundengesetz wird in Ungarn deshalb nicht nur als „Sklavengesetz“, sondern auch als „Lex Audi“, „BMW“ oder „Daimler“ bezeichnet. Deshalb brauchen die Kolleg*innen auch die internationale Solidarität, inklusive der Gewerkschaften in Deutschland oder Österreich. Der Kampf gegen die Abwärtsspirale bei Löhnen und Arbeitsbedingungen muss gemeinsam geführt werden, anstatt sich auf die Standortlogik der Herrschenden einzulassen.

Rolle der Gewerkschaften

Auch im Namen dieser internationalen Konzerne hat die Regierung Orbàn, seit 2010 im Amt, den Kampf gegen Gewerkschaften und Arbeiter*innenrechte geführt. Schnell wurden Gewerkschaften, zunächst im öffentlichen Dienst, ausgehebelt. Als nächstes ging es dem Streikrecht an den Kragen: vor jedem Streik müssen sich Gewerkschaft und Unternehmer*innenseite über die Gewährleistung einer „ausreichenden Versorgung“ verständigen - also darüber, dass der Streik möglichst wenig Schaden anrichtet. Gelingt das (wie in jedem bisherigen Fall) nicht, entscheidet das Arbeitsgericht praktisch immer gegen den Streik. Gegen Regierungsmaßnahmen streiken ist grundsätzlich verboten.
Abgesehen von Pressekonferenzen und Wahlaufrufen für die Opposition hatten sich die Gewerkschaften nicht dagegen gewehrt. Dazu sind die Gewerkschaften schon seit der Wende traditionell zerstritten. Wenn inzwischen aus ursprünglich 6 Gewerkschaftsbünden durch Fusion 4 geworden sind, liegt das wohl weniger an dem Wunsch der Führungen nach Klasseneinheit als an schwindenden Mitgliederzahlen und sinkenden Beiträgen. István Gaskó, bis 2015 Vorsitzender des Gewerkschaftsbundes „LIGA“, sprach selber davon, dass „die Gewerkschaftsbewegung heute eine der letzten auf der Sympathieliste der Gesellschaft ist“. Das liegt wohl auch an ihrer Nähe zu den oft verhassten Sozialdemokrat*innen und der sichtbaren Korruption der Führung, aber vor allem daran, dass sie die notwendigen Kämpfe nicht geführt und dadurch verloren hat. Um das „Sklavengesetz“ zu kippen, kommt es aber auf den Widerstand aus den Betrieben an. Dafür sollten Streik- und Aktionskomitees aufgebaut werden, um den Widerstand effektiv auszuweiten, sowie um sich demokratisch auf Forderungen und die nächsten Kampfschritte zu einigen. Nur indem die Gewerkschaften die Kämpfe führen, können sie ihre Krise überwinden.

Klasseneinheit statt Rassismus

So waren es auch nicht die Gewerkschaften, die den Widerstand gegen das „Sklavengesetz“ begannen. Was am Anfang eher einen spontanen, selbstorganisierten Charakter hatte, wurde schnell von der neofaschistischen „Jobbik“ aufgegriffen. Ihre eigene sowie nationalistische Fahnen sind auf den Demonstrationen deutlich präsenter als die der linksliberalen Opposition oder die der Gewerkschaften. Jobbiks Gewicht ist so groß, dass die liberale Opposition sich auf ein Bündnis mit ihr eingelassen hat. Das heißt natürlich nicht, dass es eine faschistische Bewegung ist. Wie auch schon bei anderen Protesten, wie zB dem gegen massenhafte Zwangsräumungen, ist Jobbik aber die einzige Kraft die wirklich landesweit und mit einem politischen Programm in Bewegungen intervenieren kann. Wo „die Linke“ durch frühere Regierungen oder ihrer Nähe zur unter Arbeiter*innen unbeliebten EU unglaubwürdig geworden ist, setzt Jobbik auf kapitalismuskritische, wortradikale Parolen. Dass sie diese mit Rassismus und Antisemitismus verknüpft, trägt solche Ideen immer tiefer auch in die Arbeiter*innenklasse und erschwert echten, erfolgversprechenden Widerstand. Der Kampf gegen Orbàn, seine Clique aus ungarischen Kapitalist*innen und internationalem Kapital braucht die Klasseneinheit und zwar über Herkunftsgrenzen hinweg. Eine weitere Reaktion auf den Arbeitskräftemangel ist nämlich auch das gezielte Anwerben von Arbeiter*innen aus Rumänien, der Ukraine, der Slowakei, Serbien und anderen Ländern mit noch schlechteren Löhnen und Arbeitsbedingungen. Wer hier auf Nationalismus setzt, spielt nur der Teile-und-Herrsche-Politik der Regierung in die Hände.

Wie gewinnen?

Die Bewegung hat klare Stärken: Sie zeigt seit Wochen Ausdauer, ist landesweit präsent und vor allem, anders als bisherige Anti-Regierungs-Proteste, hat sie die Gewerkschaften teilweise so unter Druck gesetzt, dass diese für den 19.01. zum Streik aufrufen mussten. Dass dieser Streik an einem Samstag stattfand und dafür schlecht mobilisiert wurde, drückt deren zögerliche Haltung aus. Der entschlossene Protest auf der Straße kann die Gewerkschaftsführungen aber weiter vor sich hertreiben. Eine starke landesweite Streikbewegung könnte nicht nur das Gesetz zu Fall bringen, sondern gleichzeitig die an sich schwache Regierung. Was der Bewegung fehlt, ist eine organisierte, marxistische Kraft. Die Bewegung muss mit einem klaren sozialistischen Programm und Strategien für den Sturz der Regierung ausgestattet werden. Dafür ist es notwendig, über den Kapitalismus hinaus zu denken und ihm eine sozialistische Alternative entgegen zu stellen!