Interview mit Andre Ferrari (Brasilien) anlässlich des bevorstehenden EU-Lateinamerikagipfels in Wien

Weg mit den Schulden! Banken und Konzerne in Gemeineigentum!

Andre ist Aktivist der SLP-Schwesterorganisation “Socialismo Revolutionario” (SR) sowie im Leitungsgremium der breiten Partei “P-SOL”, die derzeit in Umfragen auf über sechs Millionen Stimmen kommt (6 %).

VORWÄRTS: Lateinamerika wird von enormen sozialen Kämpfen durchzogen. Welche Ideen für einen Ausweg aus der Krise vertritt “Socialismo Revolutionario”?

ANDRE: Unser Programm setzt bei einem für alle greifbaren Punkt an: Stopp der Zahlung aller Auslandsschulden! Der jährliche Zinsendienst Brasiliens beträgt 70 Milliarden US-$. Mit diesem Geld könnte eine echte Agrar-Reform durchgeführt werden: konkret beträfe das vier Millionen bisher landloser Familien! Die nächste Notwendigkeit ist die Überführung der Banken und Schlüsselindustrie in gesellschaftlichen Besitz. Alle diese Maßnahmen müssen in eine demokratische Struktur von direkter ArbeiterInnen-Verwaltung und -Kontrolle eingebunden sein.

VORWÄRTS: Aber was ist mit der Gefahr der Kapital-Abwanderung?

ANDRE: Jedes Jahr gibt es neue Rekorde bei den Profiten des Banken-Sektors. Schon jetzt verlässt mehr Kapital das Land als das gesamte Volumen des Außenhandels ausmacht. Natürlich ist eine weitere Aufgabe die vollständige Kontrolle der Kapitalflüsse und des Handels auf der Grundlage der Vergesellschaftung der Finanzinstitute.

VORWÄRTS: Venezuela ist derzeit Brennpunkt reformerischer und revolutionärer Bewegungen. Wie schätzt du den Stand der Dinge ein?

ANDRE: Man darf nicht vergessen: Die Wirtschaft Venezuelas befindet sich trotz der bisherigen Reformen noch immer unter Kontrolle kapitalistischer Verhältnisse und des Einflusses des Imperialismus.

VORWÄRTS: Chavez stellt der vom US-Imperialismus geführten ALCA-”Freihandelszone” das Projekt “ALBA” entgegen. Was hat es damit auf sich?

ANDRE: Derzeit stellt ALBA noch eine Ankündigung und Worthülle dar. Auf kapitalistischer Grundlage ist Unabhängigkeit vom Imperialismus eine Illusion. Gerade Brasilien hat am Kontinent regional-imperialistische Gelüste, z.B. der Öl-Konzern Petrobras. Chavez präsentierte kürzlich die Idee einer unabhängigen kontinent-weiten Öl-Firma. Diese müsste jedoch in gesellschaftlichem Besitz sein. Nehmen wir das Beispiel Venezuelas: Im dortigen staatlichen Erdöl-Konzern ist echte Arbeiter-Verwaltung nötig. Gerade hier ist Chavez jedoch ganz und gar nicht für die sonst angekündigte “cogestion” (bedeutet in etwa “Mitbestimmung”; Anm.). Die Chavez-Regierung setzt übrigens bewusste Schritte zur Kooperation mit den Unternehmern. Kürzlich veranstaltete sie ein “Seminar zur Rolle des Privateigentums im ‚Sozialismus des 21. Jahrhunderts'”. Sektoren der Bürgerlichen gehen als Teil der neuen Bürokratie in die Chavez-Bewegung ein. Dies ist eine Gefahr für die Möglichkeit weiterer Reformen. Das gegenwärtige Wachstum ist überdies relativ und stützt sich auf den derzeit hohen Öl-Preis.

VORWÄRTS: Wären die Bewegungen schon reif für weitergehende Schritte?

ANDRE: In den letzten Jahren, vor allem 2002, gab es immer wieder sprunghafte Entwicklungen im Bewusstsein der Massen und in den sozialen Kämpfen. Eine große Einschränkung stellt derzeit das Fehlen einer bewussten sozialistischen Partei mit Verankerung in den Massen dar. Dennoch hätte die Chavez-Regierung, wenn sie wollen würde, volle Freiheit für die Beschleunigung des revolutionären Prozesses. Dies gilt auch auf der parlamentarischen Front, wo er über große Mehrheiten in beiden Kammern verfügt. Die kapitalistische Opposition ist derzeit durchaus schwach, jedoch nicht völlig von der Bildfläche verschwunden. Der Schlüssel ist der Aufbau der unabhängigen sozialistischen ArbeiterInnen-Bewegung. Hier gibt es Ansätze. An einem Treffen des CWI in Venezuela zu den Protesten in Frankreich nahmen 100 Menschen teil.

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