Di 16.08.2022
Schon im Kommunistischen Manifest, in dem Marx und Engels zum ersten Mal in Ansätzen ein Programm für die damalige Arbeiter*innenbewegung formulierten, erkannten sie, dass es notwendig ist, unmittelbare Forderungen zu erkämpfen und diese mit dem Kampf um Sozialismus zu verbinden. Im revolutionären Russland warf Lenin mit den “Aprilthesen” im Frühjahr 1917 die drängenden Kernforderungen auf, die auf der Grundlage der Existenz von Arbeiter*innenräten (Sowjets) praktisch den Weg in Richtung einer Arbeiter*innenregierung zeigten. Als im Oktober 1917 die zweite Phase der Revolution näher rückte, vertiefte Lenin diese Aprilthesen und erklärte die Unfähigkeit des Kapitalismus, die drängenden Probleme der Zeit zu lösen. Er plädierte beispielsweise dafür, dass der Staat Preiskontrollen für Lebensmittel gegen die Profitinteressen der Großgrundbesitzer*innen durchsetzen müsse, für Maßnahmen der Arbeiter*innenregierung um "Land, Produkte und Lebensmittel richtig zu verteilen" usw. Dieses Programm, mit dem die Bolschewiki eine enorme Autorität innerhalb der Arbeiter*innenklasse aufbauen konnten, stellte die praktische Anwendung einer Übergangsmethode dar. Mit den richtigen Parolen zur richtigen Zeit “Land, Brot, Frieden” und “Alle Macht den Räten” konnten die Bolschewiki eine erfolgreiche Revolution der Arbeiter*innenklasse anführen. Angesichts der drängendsten Fragen unserer Zeit, Klimawandel, Krieg, Inflation ist klar, dass der kapitalistische Markt Dauerkrise bedeutet. Lebensmittel bleiben auf Feldern oder in Geschäften liegen, weil die Preise zu hoch sind - gleichzeitig nimmt der Hunger zu. Energiekonzerne machen Milliardenprofite während Menschen sich zwischen Heizen und Essen entscheiden müssen. Forderungen nach Preiskontrollen durch die Arbeiter*innenklasse und dem Ende von Spekulation und Profitmacherei haben also nichts an Aktualität eingebüßt. Ein Übergangsprogramm heute muss dabei ganz zentral die Eigentumsfrage aufwerfen und die Frage beantworten, warum und wie es Verstaatlichungen und eine demokratische Planwirtschaft braucht, um die Krisen bewältigen zu können. Die Maßnahmen aller Regierungen angesichts der Teuerungswelle sind mehr als ungenügend - deswegen braucht es einen Kampf um Preiskontrollen und Verstaatlichungen z.B. der Energiekonzerne und Nahrungsmittelproduktion unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innenklasse. Es gibt zahlreiche offensichtliche Beispiele - Firmenpleiten mit dramatischem Stellenabbau, Pharmaindustrie, Rüstungskonzerne, klimaschädliche Industrien - die zeigen, warum eine Übernahme der Produktion und der gesamten Wirtschaft durch die Beschäftigten die einzige Lösung ist, um nachhaltig und nach Bedürfnissen orientiert wirtschaften zu können. Wer unmittelbare Forderungen nach höheren Löhnen angesichts der Inflation oder Geld für Soziales statt für Aufrüstung nicht mit diesem Ziel verbindet, landet am Ende bei einer Trennung in sogenannte Minimal- und Maximalforderungen: Es bleibt bei ungenügenden Forderungen fürs jetzt und einer abstrakten Vertröstung auf später. Wer den Kampf gegen Krieg und Imperialismus nicht konkret (z.B. durch die Forderung nach der Enteignung der Waffenindustrie) mit der Notwendigkeit einer Überwindung des kapitalistischen Systems, das immer wieder zu Kriegen führt, verbindet, landet dabei, abstrakte Friedensappelle an die Regierungen zu richten oder Illusionen in die Neutralität zu schüren. Es gibt einen realen Druck, Forderungen herunterzuschrauben, sich also nur an dem zu orientieren, was unmittelbar “realistisch” erscheint. Ob eine Forderung durchsetzbar ist oder nicht, hängt, gerade in einem der reichsten Länder der Welt, immer von Kräfteverhältnissen ab. Es geht also darum, auch beim Kampf um Reformen Organisierung und Aktivität der Arbeiter*innenklasse und Jugend voranzutreiben. Sozialdemokratie und Gewerkschaftsführungen haben in Österreich Arbeiter*innen und Jugendlichen jahrzehntelang Passivität eingeimpft - vielen fehlt die Erfahrung dafür, sich selbst zu organisieren oder sich aktiv für ihre Interessen einzusetzen. Viele Kampftraditionen sind verloren gegangen und müssen neu aufgebaut werden. Viele wissen nicht, warum und wie es notwendig ist sich zu organisieren, warum die Arbeiter*innenklasse die Kraft ist, die Veränderung herbeiführen kann und wie Kämpfe rund um konkrete Forderungen geführt und gewonnen werden können. Diese Tatsache muss ein Übergangsprogramm heute berücksichtigen. Ein Beispiel dafür ist die Frage des Streiks - in anderen Ländern ist streiken für viele Beschäftigte normaler, obwohl es auch da die Beschränkungen durch die Gewerkschaftsführung gibt - in Österreich müssen wir selbst dieses grundlegende Element von Widerstand erklären und wieder erlernen. Deshalb nimmt die Forderung des Streiks eine zentrale Rolle in unserer Arbeit ein. Die Übergangsmethode ist auch ein entscheidendes Instrument, um die tagtäglichen Unterdrückungserfahrungen in Widerstand zu verwandeln und politische und ökonomische Forderungen zusammenzuführen und zu verallgemeinern. Eine der drängendsten Fragen für viele, besonders Jugendliche, ist heute die nach dem Ende von spezifischer Unterdrückung, also wie wir Diskriminierung, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Rassismus bekämpfen können. Diese Kämpfe stellen teilweise das ganze System in Frage, z.B. ist klar, dass die populäre Forderung “Nicht eine weniger” (Ni una menos) nur durch ein grundlegend anderes System möglich wird. Unser Programm muss die Frage beantworten was es braucht um diese Forderung zu erfüllen und wir müssen dabei zwei Ebenen berücksichtigen: Wie können wir rückschrittliche und diskriminierende Ideen zurückdrängen (auch innerhalb der Arbeiter*innenklasse) und wie hängt das mit den materiellen Verhältnissen zusammen. Wenn wir Forderungen nach Milliardeninvestitionen in Soziales, Gesundheit und Gewaltschutz, leistbaren Wohnraum, drastische Lohnerhöhungen in frauendominierten Jobs um Unabhängigkeit zu ermöglichen etc. aufstellen, dann werfen wir auch immer eine Perspektive auf, wie das erkämpft werden kann und warum Rollenbilder - und damit auch Sexismus und Gewalt - im Kapitalismus immer wieder reproduziert werden. Wir erklären die Notwendigkeit von Kampfformen, die die größtmögliche Kampfkraft und Einheit der Arbeiter*innenklasse herstellen, also z.B. Streiks in Schulen und Betrieben gegen Sexismus und warum innerhalb dieser Kämpfe demokratische Organisierung notwendig ist. Mit der sozialistisch-feministischen Initiative ROSA bauen wir ein konkretes Organisierungsangebot auf, das diese Aspekte vereint und eine antikapitalistische und sozialistische Perspektive in den Kampf gegen spezifische Unterdrückung einbringt. Ein Übergangspogramm kann also nicht nur auf dem Papier existieren und muss sich ständig an die konkrete aktuelle Situation anpassen und wandeln. Es kann nicht getrennt werden von den Erfahrungen, Diskussionen und Kämpfen, die es durchlebt und in denen es immer wieder in der Praxis getestet wird.