China: Diktatur und Kapitalismus

China: Nach der Einverleibung der Hong Kongs die neue kapitalistische Supermacht?
David Mum

Der Tod von Deng Xiaoping, dem Architekten der kapitalistischen Restauration in China, und die Eingliederung Hong Kongs am 30.6.97 bedeuten einen neuen Abschnitt in der Geschichte Chinas. Die 1978 eingeleiteten marktwirtschaftlichen Reformen werden als Erfolfgsstory sondergleichen präsentiert. Westliche PolitikerInnen fanden nach Dengs Tod fast nur gute Worte für diesen Mann, der Profit und Diktatur zu vereinbaren wußte. Die Schattenseiten des chinesischen „Kapitalismus-Modells“ - das Wohlstandsgefälle zwischen den Regionen, zwischen Stadt und Land, ArbeiterInnen und Neokapitalisten - und die daraus resultierende wachsende Instabilität finden kaum Erwähnung.
Im Dezember 1978 - nicht lange nach dem Tod Mao Tse-tungs - beschloß die Plenartagung des 11. Zentralkomitees des KP Chinas die Wirtschaftsreform und eine Westöffnung. Nach zehn Jahren Kulturrevolution lebten 1978 offiziell 300 Millionen Chinesen in absoluter Armut. Es wurde das Programm der „vier Modernisierungen“ - nämlich in der Industrie, der Landwirtschaft, Technologie und Wissenschaft sowie Verteidigung beschlossen. Konkret bedeutete dies:

  • die Dekollektivierung der Landwirtschaft, also die Abschaffung der Volkskommunen
  • die Modernisierung der Industrie mit westlicher Technologie und Managementtechniken
  • den Import von westlichem Kapital, insbesondere in neuen Sonderwirtschaftszonen in den Küstenregionen.

Diese „Modernisierungen“ markieren den Beginn der kapitalistischen Restauration in China. Auf den ersten Blick wirken die Ergebnisse der „Reformpolitik“ als großer Erfolg: In den letzten 15 Jahren ist die chinesische Wirtschaft im Durchschnitt um knapp 10 % gewachsen.
Heute verzehren die Chinesen pro Kopf 2,5 mal mehr Schweinefleisch als 1978. Während damals nicht einmal 1 % der Haushalte einen Fernseher hatten, verfügen von den 100 Millionen Bewohnern der reichsten Regionen (Peking, Shanghai, Kanton) 97 % über TV, 78 % über Kühlschränke und 76 % über Waschmaschinen (1978: 6 %). China ist mittlerweile der weltweit größte Textilproduzent, der zweitgrößte Schiffsproduzent und befindet sich auf Rang 11 der Welthandelsnationen.

Sozialistische Marktwirtschaft

1978 wollte Deng durch die Einführung von marktwirtschaftlichen Elementen die Wirtschaft stimulieren. Gewisse Paralellen sind zur „Neuen Ökonomischen Politik“ in der Sowjetunion der 20er Jahre zu sehen. Die chinesische Bürokratie ist diesen Weg allerdings weiter gegangen als alle anderen stalinistischen Bürokratien in der Geschichte - auch als jene in Europa und der UdSSR ab Mitte der 80er Jahre. Nach und nach wurden von der Bürokratie selbst alle Fundamente einer nichtkapitalistischen Planwirtschaft demontiert. Einen Wendepunkt stellt der internationale Zusammenbruch des Stalinismus 1989 bis 1991 dar. Damals erkannte die chinesische Führung, daß es für sie keinen Weg zurück zum alten (bürokratischen) System geben kann.
1993 verwarf der Volkskongreß die Planwirtschaft und verordnete als grundlegendes Prinzip die „sozialistische Marktwirtschaft“. Damit einhergehend hat der KP-Kongreß Beschränkungen abgeschafft, die vorschrieben, daß der Staatssektor einen größeren Produktionsanteil als die Privatwirtschaft erwirtschaften müsse. Die defizitären Staatsbetriebe verschlingen nun 70 % der Staatseinnahmen. 1994 hat der Staatssektor 34 % des industriellen Outputs produziert - 1982 waren es noch 78 %.
Heute werden 80 % der Preise und die meisten Löhne über den Markt bestimmt. 1990 wurde die erste chinesische Börse eröffnet. Nun sind es drei und mit der Eingliederung Hong Kongs verfügt China über das zweitwichtigste Finanzzentrum Asiens.
Der größte Teil der ausländischen Direktinvestitionen in China stammt von Auslandschinesen. Sie finanzieren 82 % der Investitionen, die USA nur 5 % und Japan 4 %. Taiwanesische Kapitalisten investieren in ca. 25.000 Projekte in „Rotchina“.
Neben den Überseechinesen und dem ausländischen Kapital verwandelt sich ein großer Teil der Bürokraten in Kapitalisten. Meist bleiben sie in ihren Staatsjobs und gründen nebenbei Firmen, für die sie auch öffentliche Fonds anzapfen. Oder öffentliche Firmen werden in Unternehmen verwandelt, die in gemischt öffentlichem und privatem Besitz stehen. So kaufen die Bürokraten Anteile zu unterbewerteten Preisen.
Gleichzeitig wachsen Korruption und Bestechung. Funktionäre haben ca. 280 Milliarden Schillinge ins Ausland auf Privatkonten gebracht, das entspricht einem Drittel der jährlichen Steuereinnahmen der Zentralregierung und der Kommunen. Die Familie des verstorbenen Deng Xiaoping hat sich in Hong Kong ein Geschäftsimperium von 2,5 Milliarden Schilling geschaffen.
Mitte der 80er Jahre folgte die Liquidierung der „eisernen Reisschüssel“ durch Deng und die Parteiführung. Dieses System garantierte, daß Millionen IndustriearbeiterInnen einen lebenslangen Job, einen Mindestlebensstandard, Wohnung, Gesundheitsversorgung und ähnliches hatten.
Heute beträgt die offizielle Arbeitslosigkeit 6 Millionen - die tatsächliche Zahl ist weit höher. Häufig wird die Produktion in Fabriken vorübergehend eingestellt, die ArbeiterInnen bekommen dann einen sehr geringen Lohn. Obwohl das Werk de facto geschlossen ist, werden diese Arbeiter-Innen nicht als arbeitslos gezählt.

“Rückführung“ Hong Kongs

Die Wiedereingliederung Hong Kongs wird keinesfalls eine grundlegende Änderung der wirtschaftlichen Ausrichtung des Inselstaates bedeuten. Der von den Chinesen ernannte Regent, Chung Tee-Hwa, ein Multi-Milliardär, vedankt seinen Reichtum der chinesischen Regierung, die ihn gegen Kaution vor einigen Jahren freigekauft hat, als er der Korruption beschuldigt wurde.
Auch in Hong Kong ist es nur eine kleine Minderheit, die vom Wirtschaftswachstum profitiert. Der Wohlstand der Kolonie baut auf billige Arbeit der Familien, die in Wohnungen mit extrem hoher Miete oder in Slums wohnen, auf.
Hong Kongs “Rechtekatalog” wird mit der Wiedervereinigung geändert. Die demokratischen Rechte und Wahlen, die von der britischen Regierung erst in den letzten Jahren eingeführt wurden, werden wieder abgeschafft. Schon im Vorfeld der Übernahme gab es eine neuerliche Repressionswelle gegen Dissidenten am Festland. China wird im hyperkapitalistsichen Hong Kong zwar demokratische Rechte beschneiden, nicht jedoch das Kapital einschränken, im Gegenteil: Hong Kong wird als Motor für den sich in den anliegenden Küstenregionen entfaltenden Kapitalismus fungieren. Der Slogan „ein Land - zwei Systeme“ ist damit historisch überholt.

Militärische Aufrüstung

China will nicht nur wirtschaftliche, sondern in den 20er Jahren des nächsten Jahrhunderts auch militärische Großmacht werden. Die Militärausgaben wurden in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Seit Beginn der 90er Jahre wird das chinesische Militär, mit 3,03 Millionen Soldaten die größte Streitmacht der Welt, stark aufgerüstet. Denn die Armee muß auf zukünftige Konflikte vorbereitet werden, damit China seine ökonomischen und strategischen Interessen verteidigen kann. Die Pekinger Akademie der Sozialwissenschaften stellte fest, daß ein Konflikt mit den USA und dem Westen nicht mehr zu vermeiden ist. In der Region kämpft China (vorerst ohne Waffen) mit Indien um die Vorherrschaft und braucht daher ein starkes Heer. Paul Dibb vom Londoner Institut für strategische Studien meint, daß China mit größter Wahrscheinlichkeit die Nation sein wird, die das Kräftegleichgewicht in dieser Region zu ihren Gunsten verändern wird.

Wohlstandsgefälle

1994 betrug das durchschnittliche BSP pro Kopf in China 435 US-$. (Taiwan 11.200 US-$) Diese teilt sich aber sehr unterschiedlich zwischen verschiedenen Gebieten und Bevölkerungsgruppen auf, z.B. hat die Provinz Guangdong mit 65 Millionen Einwohnern ein Durch-schnittseinkommen von 1350.- US-$. Das BSP in der Sonderwirtschaftszone Zhuhai erreicht das 86-fache der Stadt Qingang in der Armutsprovinz Guizhou.
Dieses Wohlstandsgefälle führt trotz Verbot zu gigantischen Wanderungsbewegungen, vor allem wegen der Landflucht, die in der beispiellosen Verarmung der 800 Millionen am Land lebenden Menschen wurzelt. So werden bis zum Jahr 2000 rund 200 Millionen Menschen auf der Suche nach einem Arbeitsplatz in den Süden strömen. Alleine 1993 haben 50 Millionen Bauern diesen Weg beschritten.
Des weiteren entwickeln sich Landwirtschaft und Industrie zunehmend unterschiedlich, so daß die Einkommen der Bauern nicht mit den Löhnen der städtischen Wirtschaft mithalten. Die Regierung kauft die Ernte nicht gegen Geld, sondern gegen nur schleppend einlösbare Schuldscheine. Der Ankaufspreis von Reis steigt wenig, während die Kosten für Dünger in die Höhe schießen. Seit dem Reformbeginn hat sich die Rate der Kapitalverbrechen offiziell um das 7,8-fache erhöht - ein weiteres Indiz für zunehmende soziale Spannungen.
Auf alle diese Entwicklungen hat die Bürokratie keine Antwort. Während sie weiterhin nicht vom kapitalistischen Weg abrücken, wollen sie dessen Schattenseiten und Gefahren für das Land mit zweifelhaften Kampagnen begegnen.
1995 machte Ministerpräsident Li Peng folgenden Vorschlag: „Um die allgemeine Moral zu fördern, werden wir eine Konferenz zur Auszeichnung von Helden der Arbeit abhalten.“ Eine weitere Kampagne ist die für den Patriotismus. Die Einzel-interessen der Provinzen, Staatsbetriebe und Ministerien sind groß geworden. Gegen eine mögliche Spaltung des Landes setzt die Zentralbürokratie auf chinesischen Nationalismus. Die Manöver vor der taiwanesischen Grenze im Frühling 1996 richteten sich nicht nur gegen den Unabhängigkeitskandidaten bei den taiwanesischen Präsidentschaftswahlen, sondern waren auch als Warnung gegen Loslösungstendenzen innerhalb des Staates gemeint. Die Führung Chinas hat die nicht unbegründete Angst, daß reiche südliche Provinzen in Taiwan einen Verbündeten gegen die Zentralregierung suchen könnten.
Die zunehmenden sozialen Spannungen stoßen auf Widerstand, der von der Staatsführung brutal bekämpft wird. JedeR, der/die für mehr Arbeiterrechte eintritt, wird von der KP Chinas der Sabotage der Wirtschaft beschuldigt. Versuche, Gewerkschaften zu gründen, werden mit drei Jahren Arbeitslager bestraft.

Motor für die Weltwirtschaft?

Stalinistische Unterdrückung gesellt sich im heutigen China zu kapitalistischer Ausbeutung. 150.000 chinesisch-ausländische Joint-Ventures profitieren von geringen Löhnen und Arbeitszeiten von täglich bis zu 15 Stunden, die heute den „Tigerstaaten“ Konkurrenz machen. China wird vor allem wegen seines großen - und noch fast zur Gänze unerschlossenen - Marktes als treibende Kraft für die weitere Entwicklung der Weltwirtschaft gesehen. Die Millionen potentieller chinesischer Konsumenten verfügen allerdings nicht über das nötige Einkommen um die westlichen Konsumgüter kaufen zu können. Unklar ist auch, wie lange soziale Explosionen und größere regionale Konflikte noch verhindert werden können - beides aber sind massive Hindernisse für eine Entwicklung im Sinne des Kapitals.

Kampf gegen Bürokratie und Kapital

China begann 1978 als erstes stalinistisches Land mit marktwirtschaftlichen Reformen in größerem Umfang. Am Beginn stand die Idee, die Wirtschaft durch kapitalistische Elemente zu stimulieren, aber dieser Prozeß hat eine Eigendynamik entfaltet und nach knapp 20 Jahren zu einem weitgehend kapitalistischem China geführt. In diesem verbinden sich frühkapitalistische Zustände und ein „laissez faire“-Prinzip in der Wirtschaft mit stalinistischer Diktatur auf der politischen Ebene.
Kämpfe der ArbeiterInnen können sich heute nicht auf demokratische Forderungen beschränken, sondern müssen auch klassenkämpferische Auseinandersetzungen gegen die neue Bourgeoisie sein. Damit müssen sie über die niedergemetzelte Demokratiebewegung von 1989 hinausgehen, die zwar keine prokapitalistischen Forderungen aufgestellt, aber den politischen Befreiungskampf gegen die stalinistische Diktatur noch nicht mit dem sozialen Kampf gegen Hyperausbeutung verbunden hat.

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