Aus der Krise in die Krise

Was wäre, wenn das WM-Finale wegen eines Streiks von ElektrizitätsarbeiterInnen nicht stattfinden könnte?
Tilman M. Ruster

19 % mehr Lohn für die LehrerInnen! Was die Gewerkschaft in Österreich als weltfremde Spinnerei abtun würde, wurde als Streikforderung der LehrerInnen Brasiliens von 86 % der Bevölkerung unterstützt. Den ArbeiterInnen und Armen Brasiliens reicht es: Nach über zehn Jahren Regierung durch die „Partido dos Trabalhadores (PT)“ („Arbeiterpartei“) voller Versprechen auf eine bessere Zukunft hat sich für die Mehrheit der Bevölkerung nach einigen Jahren langsamer Verbesserungen vieles wieder zum Schlechteren gewandelt. Dabei gab es mit dem „Lulismus“ (erster PT-Präsident: „Lula“ da Silva) tatsächlich ein deutliches Wirtschaftswachstum. Nach den Krisen in Brasilien in den 1990er-Jahren erfreuten sich die Banken dank enormer staatlicher Rettungspakete eines stabilen Rufs. Das half Investitionen anzulocken und die brasilianische Wirtschaft auf den asiatischen Markt auszurichten. Besonders nach China gingen nun jährlich mehr Exporte: Eisenerz, Soja, Öl und Zellulose fanden reißenden Absatz.

Die Lula-Regierung heizte dieses Wachstum durch Privatisierungen, Steuersenkungen für Reiche und Kürzungen bei Bildung, Gesundheit und öffentlich Bediensteten an. Dennoch stieg auch der Lebensstandard der Ärmeren. Die Arbeitslosigkeit sank und Lula machte billige Kredite für fast alle möglich. So erfüllten sich Millionen BrasilianerInnen lang gehegte Träume wie einen neuen Herd. Mindestlöhne und Familienbeihilfe wurden erhöht, gleichzeitig aber das Gesundheits- und Bildungssystem kaputt gespart. Jetzt müssen viele Kosten für eine ordentliche Behandlung oder Ausbildung privat übernommen werden. Der "neue Mittelstand", von dem oft zu hören ist, ist meist keiner. Haushalte mit zwei Mindestlohneinkommen (2x 205 €) oder auch nur einem Kühlschrank gelten schon als "Mittelstand".

Statt wesentlicher Verbesserungen gab es nur Manöver auf Pump, die später auf die ArbeiterInnen zurück fielen. Auf einmal war Brasilien ein Hoffnungsträger der Weltwirtschaft. Als „BRIC“-Staat (Brasilien-Russland-Indien-China) rückte es in die Warteposition für einen „Platz an der Sonne“ für alle, zumindest laut Regierung. Trotz enormer Korruption und der schreiender Armut von Millionen blieb die Regierung bei Wahlen stabil, die enormen Profite verteilten die Reichen aber unter sich.

Aufgrund der radikalen Vergangenheit der PT, die sich 1980 als sozialistische Opposition gegen die Militärdiktatur gegründet hatte und eine wichtige Rolle bei deren Sturz spielte, und der (oberflächlich) guten Beziehungen zu Kuba, Bolivien und Venezuela wurde Lula oft mit Morales oder Chavez verglichen. 2003 waren es auch v.a. ArbeiterInnen, die die PT wählten. Lula hatte sich aber vom ersten Tag seiner Regierung an mit den Grenzen des Kapitalismus arrangiert. Nur ein Bruch mit diesem hätte Brasilien aber wirklich aus der Armut führen können.

Einen besseren Blick auf die Beziehungen zwischen Brasilien und den anderen Staaten der Region erlaubt ein Ereignis aus dem Jahr 2006. Bolivien verstaatlichte Produktionsstätten von Petrobas, Brasiliens halbstaatlichem Erdölkonzern, der auf massiven Ölreserven sitzt. Das führte zu massiven Spannungen. Auch insgesamt gibt es weniger lateinamerikanische Solidarität, als beinharte Vertretung brasilianischer Interessen, wenn nötig auch gegen die lateinamerikanischen „Brüder“. Brasilien tritt hier als Regionalimperialist auf.

2008 krachte die Weltwirtschaft und mit ihr zunächst auch die brasilianische. Die Regierung reagierte schnell, die Entwicklungen der letzten Jahre wurden drastisch beschleunigt: Neben brutalen Kürzungen, noch mehr Krediten für Arme, teuren Konjunkturpaketen und Steuersenkungen für z.B. Autos (wobei Brasilien kaum selbst Autos produziert) wurde der Handel mit China intensiviert. Die zahlreichen Investitionen Brasiliens in Latein-Amerika wurden dagegen zurückgefahren. Angesichts der „sichereren“ Profitquellen aus der Ausbeutung der eigenen Rohstoffe lohnt das Risiko immer weniger. Das funktionierte zunächst sehr gut und Brasilien legte schon 2010 wieder ein ordentliches Wachstum hin. Aber die Wirtschaft richtete sich noch stärker auf den Export von Rohstoffen aus. Eigene Güter-Produktion wurde immer unwichtiger und so geriet Brasilien in wachsende Abhängigkeit von China. Eine sehr kurzsichtige Strategie der Regierung, denn seit 2012/13 geht die Nachfrage aus China stark zurück. Der Gigant wurde inzwischen selbst von der Krise ins Taumeln gebracht. Für Brasilien bedeutet das das Ende des Aufschwungs, für die ArbeiterInnen bedeutet es eine ungewisse Zukunft. Neben wachsender Arbeitslosigkeit sind die enormen Privatschulden die größten Probleme Vieler. Ca. 22 % der KreditnehmerInnen können diese nicht zurückzahlen.

Was schon immer ein Problem war, ist jetzt eskaliert: In den Favelas herrscht Krieg zwischen der brutalen Militärpolizei und kriminellen Banden. Dabei sterben jede Nacht v.a. junge Schwarze, die von der Polizei quasi „auf Verdacht“ erschossen werden. Rassismus gegen Schwarze ist ein wachsendes Problem, insbesondere von Seiten des Staates. Auch andere Konflikte, die über Jahre köchelten, sind aufs Neue explodiert. Die UreinwohnerInnen des Regenwaldes sollen der Wirtschaft weichen und wehren sich entschlossen dagegen. Landlose Bauernfamilien kämpfen für ihre Rechte und die BewohnerInnen von Favelas, die für gigantische Bauprojekte geräumt werden sollen, nehmen sich ein Beispiel an Aktionsformen und Militanz der traditionsreichen Landlosenbewegung.

Besonders Letzteres kam 2012/13 immer öfter vor, weil für die WM 2014 und Olympia 2016 Stadien, Hotels und Sonstiges gebaut werden. Doch wie kann es sein, dass bei den Millionen Menschen gekürzt wird, sie verschuldet sind, das Bildungs- und das Gesundheitssystem am Boden liegen und gleichzeitig Milliarden Dollar in die WM und Olympia fließen? Wie passt das zu den Versprechungen von PT und Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff? Die Desillusionierung älterer ArbeiterInnen in die PT trifft sich mit der Wut der jungen Generation, die die PT gar nicht mehr als Kampfpartei gegen die Diktatur, sondern immer mehr als Vollstrecker der KapitalistInnen wahrnehmen.

So entstand die riesige Protestbewegung im Sommer 2013: Fahrpreiserhöhungen in Sao Paolo waren der Auslöser, doch der Katalog der Forderungen war lang und in jeder Stadt anders. Neben sozialen Forderungen ging es auch um Korruption und die Angriffe auf demokratische Rechte. Die PT kam der Bewegung zwar verbal entgegen, aber hetzte gleichzeitig die Polizei auf die Demos. Diese ging mit roher Gewalt vor, schaffte es aber nicht, die Proteste kleinzukriegen. Im Gegenteil: Über zwei Millionen Menschen in über 500 Städten gingen auf die Straße und lieferten sich heftige Schlachten mit der Polizei.

Die Proteste waren aber nicht verknüpft und es gelang nicht, einige zentrale Forderungen herauszukristallisieren, sodass sie schließlich abebbten. Aber sie haben die Wut der ArbeiterInnenklasse aufgezeigt und haben ermutigt. Seitdem häufen sich Streiks und andere Proteste und selbst PT-nahe Gewerkschaften müssen dem Druck der Basis nachgeben und kämpfen. So halten sie aber auch immer noch einen lähmenden Finger auf der Bewegung. Doch das Selbstbewusstsein der ArbeiterInnen steigt mit jedem Kampf. Sozialistische Ideen haben eine reiche Geschichte in Brasilien – und sind der Schlüssel zu einer Zukunft ohne Armut.

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