Argentinien

Sozialismus oder Barberei
Wolfgang Fischer

Seit vier Jahren befindet sich Argentinien, ehemals neoliberaler Musterschüler, in einer wirtschaftlichen und politischen Krise. Im Dezember 2001 erschütterten Massenproteste gegen die IWF-dominierte Sparpolitik das reichste Land Lateinamerikas. Angesichts der Auslandsverschuldung und einer sich weltweit abzeichnenden Rezession ist eine Beruhigung der Lage Utopie.

Ausgangspunkt war der Generalstreik am 13.12.01 gegen geplante Einsparungen. Aufstände entflammten in den Armenvierteln von Buenos Aires, breiteten sich aber auf Wohngebiete der Mittelklasse aus. Geschäfte wurden geplündert, die Polizei ging brutal vor, es gab etliche Tote. Präsident de la Rua verhängte den Ausnahmezustand. Einen Tag danach enthob er sich und die Regierung des Amtes, die nachfolgende Übergangsregierung hielt sich kaum eine Woche.

Neoliberales "Musterbeispiel"

Die Entwicklung Argentiniens ist typisch: Militärdiktatur bis in die 80er Jahre und Neoliberalismus - Wirtschaftswachstum für knapp zwei Jahrzehnte, nun folgt ein Sparpaket dem anderen. Argentinien steckt seit Anfang '98 in einer Rezession, die sich im letzten Jahr zugespitzt hat. Mittlerweile leben mehr als 15 Millionen Menschen (42%) unter der Armutsgrenze, eine (offizielle) Rekordarbeitslosigkeit von 18% verschärft die Lage. Die Verelendung großer Bevölkerungsteile, die auch den Mittelstand betrifft, zeigt die Auswirkungen des Neoliberalismus. Unter dem Diktat von IWF, Weltbank (WB) und WTO wurde das Land in zunehmende Abhängigkeit von ausländischem Kapital getrieben, Zollschranken abgebaut, der Peso 1:1 an den US-Dollar gebunden, Märkte geöffnet und öffentliches Eigentum, angefangen bei Infrastruktur (Fluglinien, Bahn) über Gesundheits- und Bildungsektor bis zur Energieversorgung privatisiert. Länder wie Argentinien versinken nicht trotz, sondern wegen dieser neoliberalen Politik in existentiellen Krisen.
Alleine im November 2001 sank die Industrieproduktion um 11%. Der Staatshaushalt ist mit 132 Milliarden US $ Verschuldung bankrott, IWF und WB haben die Auszahlung weiterer Kredite gestoppt. Dabei hatte die Regierung de la Rua bis zuletzt versucht, die IWF-Vorgaben mittels striktem Sparkurs zu erfüllen. Staatliche Löhne und Pensionen wurden gekürzt oder teilweise wochenlang nicht ausgezahlt, Privatkonten eingefroren, Sozialleistungen gestrichen, Jobs zu Tausenden abgebaut. Ein Fünftel des Staatshaushaltes dient der Schuldenrückzahlung an IWF/WB.

Vor einer Revolution?

Das Misstrauen in die herrschende Politik drückte sich in den letzten Jahren in Wahlenthaltungen von 40% und mehr aus. ArbeiterInnen und weite Teile des Mittelstand empfinden tiefen Hass und Wut über die korrupten Politiker. Nun ist der bürgerliche Machtapparat handlungsunfähig und sieht sich in Teilen des Landes mit neuen, konkurrierenden Strukturen konfrontiert.
Obwohl die wichtigsten objektiven Faktoren für eine revolutionäre Situation gegeben sind - also eine Krise des bürgerlichen Staates, die Spaltung der Herrschenden und eine Radikalisierung des Mittelstandes sowie Massenmobilisierungen auf der Strasse - fehlt der "subjektive Faktor". Also eine revolutionäre Partei, die bei den Proteste ansetzt und der Bewegung eine Richtung und ein Ziel - nämlich den Sturz des Kapitalismus - gibt. Vorrevolutionäre Situationen, in denen die Macht auf der Strasse lag, gab es immer wieder, doch sind fast alle am Fehlen eben dieses "subjektiven Faktors" gescheitert.

Keine Rückkehr zur Normalität

Ausgeschlossen ist eine kurzfristige Rückkehr zu einer stabilen Situation auf kapitalistischer Basis. Neuwahlen werden angesichts der Ablehnung des Establishments und des Fehlens einer sozialistischen Massenalternative nichts lösen. Die ArbeiterInnen und Ausgebeuteten in Argentinien haben einen Kampf begonnen. Um ihn erfolgreich weiterzubringen muss eine unabhängige ArbeiterInnenbewegung mit einem revolutionären und sozialistischen Programm aufgebaut werden. Gelingt es, demokratische Komitees im ganzen Land und v.a. an den Arbeitsplätzen aufzubauen und zusammenzuschließen, so kann die Machtfrage innerhalb kürzester Zeit gestellt werden. Ein unbefristeter Generalstreik kann eine Regierung der ArbeiterInnen an die Macht bringen, BasisgewerkschafterInnen müssen den Aufbau einer sozialistischen Massenpartei vorantreiben. Eine ArbeiterInnenregierung in Argentinien hätte Signalwirkung für die Menschen der neokolonialen Welt in ganz Lateinamerika und darüber hinaus. Die Alternative zu einer sozialistischen Lösung ist nicht eine prosperierende und stabile bürgerlich-kapitalistische Regierung, sondern die Gefahr des Widererstarkens des Militärs und der Versuch verschiedenster bürgerlicher Populisten, die Macht an sich zu reißen.

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