Am Beispiel Nicaragua: Wie geht eigentlich kritische Solidarität?

Anmerkungen zu Jan Rybaks Buch über die österreichische Nicaragua Solidaritätsbewegung.
Michael Gehmacher

In den 80ern war viel von Nicaragua die Rede. Nach einer brutalen Militärdiktatur kamen 1979 die linksgerichteten Sandinisten an die Macht. Insbesondere der Kampf der sandinistischen Regierung gegen die von den USA finanzierten "Contras" und die militärischen Drohungen von US-Präsident Reagan waren damals viel in den bürgerlichen Medien. Die sandinistische Revolution gab vielen Linken Hoffnung. Viele fuhren "auf Brigade" zum Arbeiten nach Nicaragua. Da viele NicaraguanerInnen, zum Kampf gegen die Contras zum Militär eingezogen wurden, gab es akuten Arbeitskräftemangel. Viele "BrigadistInnen" arbeiteten daher bei der Kaffeernte, am Bau und bei anderen Projekten. Doch neben der Arbeitsleistung ging es noch um viel mehr, um sichtbare Solidarität. Man hoffte auch, durch die Anwesenheit vieler europäischer und nordamerikanischer Brigaden, eine US-Invasion möglichst zu erschweren. Zu den Brigaden kamen noch die zahlreichen Solidaritätsprojekte zu Hause.

Aber: Was waren die Motive sich für Nicaragua zu engagieren?

Der langjährige SLP-Aktivist Jan Rybak hat dazu ein spannendes Buch geschrieben. Der Titel: "Eine sehr besondere Revolution die ich kennenlernen wollte" bringt schon auf den Punkt, worum es vielen AktivistInnen ging: um eine "besondere Revolution", um eine linke Alternative zum kapitalistischen Österreich und dem grauen und autoritären "Sozialismusmodell" des Stalinismus. BrigadistInnen und SolidaritätsaktivistInnen kommen in Jan Rybaks Buch ausführlich zu Wort. Ein Umstand der es zusätzlich sympathisch macht. Wer es liest, kommt eindeutig zu dem Schluss, dass es vielen BrigadistInnen um eine "echte" Revolution und um einen "echten Sozialismus" ging. Aber: Was ist eine "echte" oder eine "besondere" Revolution? Und wie übt man praktische Solidarität, ohne darauf zu verzichten, Fehlentwicklungen zu bekämpfen? Diese Fragen versucht das Buch zu untersuchen.

Viele BrigadistInnen sahen in der Einbindung kirchlicher Kreise in die sandinistische Regierung, in der Nähe der SandinistInnen zur Sozialdemokratie und in der "gemischten Wirtschaft" eine Art "undogmatische" linke Entwicklung. Eine Entwicklung in Richtung sozialistische Alternative zum Stalinismus. Diese Hoffnung war ein Trugschluss, wie Jan Rybaks Buch gut aufzeigt. Denn "gemischte Wirtschaft" bedeutete in Wirklichkeit den Kapitalismus zu erhalten. Die Sandinisten verstaatlichten 1979 nur den Besitz des Ex-Diktators Samoza. Hier wurde Platz für verschiedene Modelle wie z.B. Genossenschaften geschaffen. Da die Familie Samoza fast 80% des Landes und viele Betriebe besessen hatte, spielte der staatliche und der genossenschaftliche Teil der Wirtschaft eine große Rolle. Der Kapitalismus selbst blieb aber trotzdem unangetastet. Die Beibehaltung des Kapitalismus war mit vielen undemokratischen Maßnahmen verbunden. Sie bedeutete weitere Ausbeutung und soziale Einschnitte. Proteste dagegen wurden unterdrückt, zum Teil militärisch. Etwa bei den großen Streiks der LehrerInnen oder der BauarbeiterInnen. Eine linke maoistische Gruppe wurde wegen ihrer linken Kritik an den Zuständen verboten. Ende der 80er Jahre bürdete die sandinistische Regierung der Bevölkerung ein Sozialkürzungspaket auf, welches viele NicaraguarInnen noch weiter verarmen ließ. Die große Mehrheit der BrigadistInnen bedauerte diesen Kurs zwar, verteidigte ihn aber als notwendig, angesichts der Bedrohung des kleinen Nicaraguas durch die USA und die Contras. Menschlich nachvollziehbar, da die rechten Contras überall in Nicaragua mordeten und zerstörten und die BrigadistInnen ja die Revolution verteidigen wollten, politisch aber falsch.

"Sowohl das Regime, als auch die Solidaritätsbewegung haben an die Spitze gestellt: das Regime gehört verteidigt gegenüber der Konterevolution und da haben alle Probleme oder Konflikte (...) da hinten angestellt (zu werden). und sind zweitrangig. Und so ist das auch in der Solidaritätsbwegung (...) diskutiert worden, mehrheitlich. Und in meinen Augen war das eine sehr unkritische Unterstützung des Regimes, was nach sich gezogen hat, dass man praktisch genau diese Arbeiter, die da für bessere und höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen gekämpft haben, dass man die dadurch politisch im Stich gelassen hat" meint z.B. der ehemalige Brigadist und SLP-Aktivist Gerhard Ziegler.

Die Beibehaltung des Kapitalismus bedeutete nicht nur weitere Verarmung und undemokratische Maßnahmen, sie bedeutete letztlich auch eine Untergrabung der Revolution, die in einem bürgerlichen Wahlsieg 1990 endete. Der massive militärische Druck der USA war sicher ein wichtiger Grund für die Abwahl der Sandinisten. Es ist aber ein Trugschluss vieler NicaraguaaktivistInnen, die politischen Fehlentwicklungen dahinter nicht zu sehen bzw. damals nicht gesehen zu haben. Das Buch ist auch deswegen politisch wertvoll, weil es die politischen Fehlentwicklungen, von einem marxistischen Blickwinkel aus, nachzeichnet.

"Die wiedersprüchliche Situation, wenn die Kapitalisten noch immer die Wirtschaft, aber nicht den Staat kontrollieren, kann nicht immer andauern. Die sozialen Konflikte können nur gelöst werden, in den die gesamte Wirtschaft vergesellschaftet und geplant wird. Sonst wird die Konterevolution siegen, und die alten Herrschaftsverhältnisse werden wieder hergestellt." bringt ein Zitat aus dem "Vorwärts" von 1989 die Situation auf den Punkt.

Schade, dass das Buch bei diesen Debatten unter den BrigadistInnen, nicht mehr in die Tiefe geht. Eine echte sozialistische Alternative und die Möglichkeiten von Maßnahmen in Richtung echter sozialistischer Demokratie werden nur wenig behandelt. Echte sozialistische Maßnahmen wie etwa eine ArbeiterInnendemokratie in Betrieben, eine Enteignung des gesamten Großgrundbesitzes mit einer demokratischen Planung der Landwirtschaft durch die LandarbeiterInnen oder demokratische Milizen, werden nur am Rande besprochen. Vielleicht auch, weil diese Debatten unter den NicaraguaaktivistInnen oft verdrängt, oder gar nicht geführt, wurden.

Bei diesen Fragen geht es letztlich auch darum, wie sich SozialistInnen gegenüber Projekten wie der sandinistischen Machtergreifung verhalten sollen. Wie hilft man einem wichtigen Projekt ganz konkret, ohne aber auf eine notwendige, marxistische, solidarische Kritik zu verzichten? Die Frage ist heute durch viele Bewegungen wie etwa der Flüchtlingsbewegung oder linken Regierungen wie in Griechenland oder linken Projekten wie Rojava hoch aktuell. Jan Rybaks Buch ermöglicht es, bei diesen Fragen, auf die Erfahrungen der NicaraguaaktivistInnen zurückgreifen zu können. Die Frage nach der kritischen Solidarität, macht das Buch zusätzlich spannend. Dazu kommen noch gute Einblicke in die Entwicklung der österreichischen Linken und die Entwicklung Nicaraguas. Ein echt lesenswertes Buch.

Jan Rybak, Eine sehr besondere Revolution, die ich kennenlernen wollte: Die österreichische Nicaragua-Solidaritätsbewegung 1979-1990, 2015, ISBN/EAN 9783944590261

In Wien erhältlich u.a. bei http://radicalbookstore.com/