Di 20.12.2005
1. Entstehung des Rätegedankens
Der Rätegedanke und die Arbeiterräte werden des öfteren als spezifisch russische Erscheinung bezeichnet. Das beruht auf einer Verkennung der objektiven Ursachen dieses neuen Gedankens. Der Rätegedanke ist eine Ausdrucksform des proletarischen Klassenkampfes, der proletarischen Revolution, die sich im entscheidenden Stadium befindet. Man könnte allerdings aus der Revolutionsgeschichte früherer Jahrhunderte ähnliche Erscheinungsformen nachweisen; doch darauf will ich im Rahmen dieser Arbeit verzichten.
Im Jahre 1905 brach die erste Periode der russischen Revolution an. Bis zu dieser Zeit duldete der Zarismus keine Arbeiterorganisationen. Er unterdrückte die Gewerkschafts- wie auch die politische Parteiorganisation. Nicht unterdrücken konnte er aber die vom Kapitalismus selbst geschaffenen Organisationsgebilde der Arbeiter in den Großbetrieben. Hier führte die entwickelte kapitalistische Produktionsform die Arbeiter zu großen Massen zusammen. Ohne organisatorisch fest verbunden zu sein, lösten die gemeinsamen Interessen der in den Großbetrieben zusammengeballten Arbeitermassen einheitliche Willensbekundungen aus. Trotzdem der Zarismus bis zum Jahre 1905 mit unerhörter Gewalt jede Regung der Arbeiterschaft, auch innerhalb der Großbetriebe, zu unterdrücken versuchte, flammte 1905 die revolutionäre Arbeiterbewegung auf, als sich die ersten Zeichen des Zusammenbruchs des Zarismus bemerkbar machten. In den Großbetrieben wurden Fabrikkomitees, die Arbeiter- Deputierten-Räte gewählt. Diese bildeten die Kerntruppe der revolutionären Bewegung. Damit schuf sich die proletarische Revolution in Russland ihre eigene Kampforganisation; ohne jede Vorbereitung wuchs sie aus den Verhältnissen heraus.
Man hört heute sagen: das, was in Russland aus den Verhältnissen herauswachsen musste, komme für die westeuropäischen Länder mit ihrer entwickelten Gewerkschaftsbewegung nicht in Frage. Wir sehen aber auch in diesen Ländern die gleichen Ursachen und die gleichen Erscheinungen. Selbst in England, dem Lande der ältesten und festgefügtesten Gewerkschaftsorganisation, werden heute sehr häufig ökonomische Kämpfe geführt mit Hilfe der shop stewards, die sich im Gegensatz befinden zu der alten Gewerkschaftsorganisation. Auch hier schafft sich die Arbeiterschaft neue Kampforgane, die den revolutionären Verhältnissen gerecht werden. Selbst in England bricht sich der Rätegedanke Bahn als neue Ausdrucksform des proletarischen Klassenkampfes. Die alten Gewerkschaften bezeichnen sich auch als proletarische Klassenkampforganisationen.
Zweifellos sind sie es auch, aber sie entsprechen nicht den Erfordernissen des revolutionären Klassenkampfes, der sich jetzt in allen kapitalistischen Staaten mehr oder weniger stark auszuwirken beginnt. Diese neuen revolutionären Kampforganisationen bilden sich in den westeuropäischen Ländern nicht nur gegen den Willen der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch gegen den Willen der Führer der bestehenden Kampforganisationen des Proletariats; eine Erscheinung, auf die ich später zu sprechen komme.
Was sich in Russland und England entwickelte, finden wir auch in Deutschland. Wenn auch die Ursachen dieser Erscheinungen die gleichen sind, so sind die Formen ihrer Auswirkung äußerlich doch verschieden. Als sich im November 1918 in Deutschland die neue proletarische Kampforganisation in den Arbeiterräten bildete, da bezeichnete man diese als die Nachahmung "bolschewistischer Methoden". Diese neuen Kampforganisationen bildeten sich aber nicht erst als Folgewirkung der Novemberereignisse, sondern wurden bereits früher, während des Krieges, geschaffen, als der Novemberzusammenbruch noch nicht bevorstand. Sie ergaben sich aus den ökonomischen Auswirkungen des Krieges, aus der Unterdrückung jeder freien Regung der Arbeiterschaft durch die Handhabung des Belagerungszustandes und aus dem vollständigen Versagen der Gewerkschaften wie auch der politischen Parteien. Die Gewerkschaften waren in ihrer Tätigkeit gehemmt durch den Belagerungszustand und wurden außerdem von der Gewerkschaftsbürokratie der Kriegspolitik dienstbar gemacht. Die politische Partei der Arbeiterschaft war gespalten. Während ein Teil sich rückhaltlos für die Kriegspolitik der Regierung einsetzte, war der andere Teil zu schwach, um einen Widerstand zu leisten. Der politisch gereifte und revolutionär gesinnte Teil der Arbeiterschaft suchte nach neuen Formen des proletarischen Klassenkampfes, suchte sich dazu neue Kampfesorganisationen. Diese Bestrebungen zeigen sich zuerst in den Großbetrieben und fanden hier auch festere Formen.
Als im Juli 1916 ganz plötzlich 55.000 Berliner Arbeiter in den Streik traten, nicht, um ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern, sondern aus politischen Gründen, da konnte die bürgerliche Gesellschaft, aber noch mehr die Führer der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften diese unerhörte Tatsache gar nicht begreifen. Diese Tatsache stellte alle bisher in der Arbeiterbewegung gemachten Erfahrungen einfach auf den Kopf. Wo lagen die Ursachen? Wer hatte diesen Streik vorbereitet und geleitet? Um die erste Frage kümmerte sich die bürgerliche Gesellschaft wie auch die Führer der Gewerkschaften wenig. Sie sahen oder wollten nicht sehen, welche revolutionären Tendenzen der Krieg und die brutale Unterdrückung der Arbeiterklasse auslösen musste. Dafür suchten sie mit allen Mitteln die Leiter dieser Bewegung zu fassen. Diese saßen in den Großbetrieben, bei der Firma Ludwig Loewe, in den Schwarzkopfwerken usw.. Es waren Arbeiter, die sich zu "Fabrikkomitees" zusammengeschlossen hatten, die wirkten, wie die Fabrikkomitees der Petersburger Großbetriebe im Jahre 1905, ohne deren Tätigkeit gekannt zu haben. Der politische Kampf im Juli 1916 konnte nicht mit Hilfe der Parteien und Gewerkschaften geführt werden. Die Führer dieser Organisationen waren Gegner eines solchen Kampfes; sie haben auch nach dem Kampf dazu beigetragen, die Leiter dieses politischen Streiks der Militärbehörde ans Messer zu liefern. Diese "Fabrikkomitees", die Bezeichnung ist nicht ganz zutreffend, kann man als die Vorboten der heutigen revolutionären Arbeiterräte in Deutschland bezeichnen. Der Rätegedanke schlug damals, aus den Verhältnissen geboren, in Deutschland seine ersten Wurzeln. Was sich im Juli 1916 offenbarte, entwickelte sich weiter und wirkte sich aus durch den großen politischen Generalstreik im April des Jahres 1917, an dem 300.000 Arbeiter teilnahmen, und weiter in dem großen, politischen Generalstreik im Januar und Februar 1918, an dem sich über 500.000 Arbeiter beteiligten.
Diese Kämpfe wurden nicht getragen und geführt von den bestehenden Partei- und Gewerkschaftsorganisationen. Hier zeigten sich die Ansätze einer dritten Organisation, die der Arbeiterräte. Die Großbetriebe waren die Träger der Bewegung. Dort saßen auch die führenden Männer der Bewegung, die wohl gewerkschaftlich und politisch organisiert waren, ja, in diesen Organisationen häufig selbst Funktionen bekleideten, aber dazu übergehen mussten, neue, proletarische Kampfesorganisationen zu schaffen. Bei all diesen Kämpfen ist niemals die Bezeichnung "Arbeiterräte", oder "Rätesystem" oder "Räteorganisation" angewandt worden.
Nach dem großen Generalstreik vom Januar und Februar 1918 wurden die Vorbereitungen zum gewaltsamen Sturz des alten Regimes getroffen. Damit will ich aber nicht sagen, dass die Novemberrevolution "gemacht" worden sei. Die objektiven Ursachen dieser Revolution liegen in dem militärischen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch Deutschlands. Es ließ sich bereits Anfang des Jahres 1918 der Zeitpunkt dieses Zusammenbruches voraussehen. Da galt es, die in der Arbeiterschaft aufgespeicherte, revolutionäre Energie zu konzentrieren, sie nicht in Einzelaktionen zersplittern zu lassen, sondern sie zu halten und im gegebenen Falle geschlossen zum Sturze des alten Regimes einzusetzen. Bei diesen Vorbereitungen zeigte es sich wieder, dass der Großbetrieb der geeignete Ort war, wo sich die revolutionären Energien der Arbeiterschaft am besten konzentrieren ließen. Bei all diesen Vorbereitungen ist niemals der Gedanke erwähnt worden, welche Organisation nach dem erfolgreichen Kampfe, nach dem Sturz des alten Regimes geschaffen werden sollte. Man kümmerte sich wenig darum, was nach dem Kampfe werden sollte. Es galt zunächst, den Kampf vorzubereiten und erfolgreich durchzuführen. Als dann der Novemberzusammenbruch kam, da wuchsen die Arbeiterräte aus den revolutionären Verhältnissen heraus, auch dort, wo niemals zuvor an diesen Umsturz gedacht worden war.
Diese kurze Darstellung der Entwicklung zeigt uns, dass der Rätegedanke keine spezifisch russische Erscheinung ist, sondern dass er als neue Organisationsform des proletarischen Klassenkampfes aus der Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse herausgewachsen ist. Der Daseinskampf der Arbeiterklasse förderte nicht in den bestehenden Organisationen die Ideen der Klassengemeinschaft und des Zusammengehörigkeitsgefühls, sondern da, wo große Massen unter dem gleichen Drucke standen. Die Tätigkeit der Arbeiterorganisationen war gehemmt durch äußere Gewalt und innere Widersprüche. Dazu kam, dass diese Organisationen große Teile der Arbeiterklasse nicht erfasste. Anders stand es in den durch die kapitalistische Produktionsform geschaffenen großen Fabrikbetrieben. Hier fanden sich die Proletarier, unbekümmert ihrer religiösen und politischen Überzeugung zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen. Hier lagen die Wurzeln der neuen Organisationsform, die des Rätegedankens.
Obwohl die Gemeinschaftsinteressen des Proletariats mit elementarer Gewalt eine neue Idee erzeugten, blieb diese in ihrer praktischen Auswirkung zunächst unklar, und um das Wesen und die Ziele der Arbeiterräte, als Ausdrucksform dieser neuen Idee, entbrannte der Kampf, der bis zum heutigen Tage noch keine Klärung gebracht hat. Warum es so ist und sein muss, will ich im folgenden Abschnitt darzulegen versuchen.
2. Demokratie oder Rätesystem
Obwohl die deutsche Sozialdemokratie jahrzehntelang den Sozialismus lehrte, obwohl sie sich ein Programm gab, das die Aufhebung jeder Klassenherrschaft forderte und dazu den proletarischen Klassenkampf als das Mittel ansah, obwohl sie zur stärksten politischen Partei anwuchs und vom Bürgertum stark gefürchtet wurde, vermochte sie doch nicht, ihr Programm zu verwirklichen, als dem Proletariat im November 1918 die politische Macht zufiel. Es wurde zur furchtbaren Wahrheit, was Friedrich Engels in seiner Kritik des Entwurfes zum Erfurter Programm am 29. Juli 1891 vorausgesagt hat. Engels verwies u.a. auf den Opportunismus, der sich in der Sozialdemokratie zeigte, er verwies auf den Mangel des Erfurter Programms, das u.a. der Ansicht Raum gab, als sei in Deutschland eine friedliche Entwicklung zum Sozialismus möglich. "Eine solche Politik kann nur die eigene Partei auf die Dauer irreführen. Man schickt allgemeine, abstrakte, politische Fragen in den Vordergrund und verdeckt dadurch die nächsten konkreten Fragen, die Fragen, die bei den ersten großen Ereignissen, bei der ersten politischen Krise sich selbst auf die Tagesordnung setzen. Was kann dabei herauskommen, als dass die Partei plötzlich im entscheidenden Moment ratlos ist, dass über die entscheidendsten Punkte Unklarheit und Uneinigkeit herrscht, weil diese Punkte nie diskutiert worden sind..."
Die opportunistische Kriegspolitik der Mehrheitssozialdemokratie zeigte mit erschreckender Deutlichkeit die Abkehr von den revolutionären Grundsätzen des Sozialismus, führte zur Spaltung der Partei und damit zur Lähmung der Aktion der Arbeiterklasse. Diese opportunistische Kriegspolitik zeigte, wie stark sich der größte Teil der deutschen Sozialdemokratie an das Bürgertum anlehnte, was mit einer scheinsozialistischen Ideologie zu rechtfertigen versucht wurde.
Als dann im November 1918 die bürgerliche Gesellschaft den sozialistischen Parteien die Macht überlassen musste, da siegte innerhalb dieser Parteien abermals die opportunistische Richtung, die sich zur Demokratie bekannte und deren politische Ausdrucksform, die Nationalversammlung, forderte, während nur ein kleiner Teil sich scharf gegen die Demokratie wandte und das Rätesystem als Mittel zur Überwindung des kapitalistischen Klassenstaates und zur Verwirklichung des Sozialismus für notwendig hielt.
Abermals zeigte sich die Wahrheit der Engelschen Worte: Die Sozialdemokratie hatte wohl den proletarischen Klassenkampf geführt, aber immer nur allgemein Fragen dabei in den Vordergrund gestellt, während die großen Fragen, die sich bei einer politischen Krise von selbst auf die Tagesordnung stellen, niemals erörtert worden waren. Und diese große Frage stand im November 1918 plötzlich vor der Sozialdemokratie. Sie wurde nicht entschieden, wie es Karl Marx oder Friedrich Engels gefordert haben; die Mehrheit der Sozialdemokratie entschied sich für die formale Demokratie und damit für ein bürgerliches Ideal.
Allgemein ist der Begriff der Demokratie der Begriff der politischen Gleichberechtigung. Damit wird sie zum Höhepunkt der politischen Ideologie des Bürgertums und der Intellektuellen, die ihr politisches Ideal der Freiheit und Gleichheit verwirklicht sehen. Die Demokratie bedeutet für diese Schichten die Vollendung der gesellschaftlichen Solidarität, die sich aus der politischen Gleichberechtigung ergeben soll. Diese Ideologie erfasst nicht nur das Bürgertum, sondern auch große Massen des Proletariats unter Führung der alten Sozialdemokratie.
Die Demokratie, die politische Gleichberechtigung bringt der Menschheit nicht die Freiheit und Gleichheit. Als vor mehr als 130 Jahren die Ideale der großen französischen Revolution, die demokratischen Ideale: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die ganze Menschheit mit neuer Hoffnung erfüllten, mochten sie ihre historische Berechtigung gehabt haben. Die Menschheit wurde befreit von den Fesseln des Feudalismus, aber sie musste auf sich nehmen die weit schwereren des Kapitalismus. In den demokratischen Staatsgebilden sahen wir jahrhundertelang die Schreckensbilder der Not der breiten Massen, sahen wir die furchtbarsten Klassenkämpfe; unter der kapitalistischen Wirtschaft bleibt die politische Gleichberechtigung ein leerer Wahn. Kann man von Freiheit reden, wenn der Arbeiter seine Arbeitskraft dem Unternehmer verkaufen muss, wenn der Besitzende den Besitzlosen ausbeutet? Erweist sich die Idee der Demokratie nicht als ein Betrug, wenn die Gleichheit vor dem Gesetz bestenfalls zur Freiheit der Beherrschung und der Ausbeutung der werktätigen Bevölkerung durch den Kapitalismus wird? Wird nicht die Freiheit im kapitalistischen Staatswesen zur Freiheit des Verhungerns, und die Brüderlichkeit zur Heuchelei, zur schmachvollen Wohltätigkeitsprotzerei? Treffend hat Karl Marx die kapitalistische Demokratie gegeißelt, als er in seiner Analyse der Erfahrungen der Kommune sagte: Der geknechteten Klasse wird in einigen Jahren einmal gestattet, darüber zu entscheiden, welche Vertreter der herrschenden Klasse im Parlament sie ver- oder zertreten sollen.
Das Proletariat muss die formale Demokratie zu überwinden suchen. Es kann sich nicht mit der politischen Gleichberechtigung begnügen, es muss die wirtschaftliche Gleichberechtigung, die Aufhebung des Eigentums an den Produktionsmitteln erstreben. Dieses Ziel ist nicht zu erreichen durch den parlamentarischen Kampf, sondern durch den Klassenkampf, durch die Aktion der Massen. Das Proletariat muss sich die sozialistische Demokratie, die politische und wirtschaftliche Gleichberechtigung erkämpfen; nur dann ist die klassenlose sozialistische Gesellschaft, die völlige Befreiung der Menschheit möglich.
Der Kampf gegen die formale Demokratie ist aber gleichzeitig der Kampf gegen den demokratischen Staat, der sich der formalen Demokratie bedient zur Unterdrückung einer Klasse. Auch im demokratischen Staat sehen wir das Herrschaftsorgan der besitzenden Klasse, das wir zerbrechen müssen.
Im demokratischen Staat bleibt die Demokratie eingeengt durch die Ausbeutung, wird zur Diktatur der besitzenden Klasse über die Mehrheit des Volkes. Das Proletariat wird gehindert, sich der politischen Gleichberechtigung zu bedienen, wird durch die Macht der kapitalistischen Tagespresse zum Stimmvieh herabgedrückt. Es darf wie Karl Marx so treffen sagte, alle paar Jahre Vertreter ins Parlament wählen, die die Interessen des Proletariats "zertreten".
Die revolutionären Sozialisten erkannten im November 1918, dass die Verwirklichung der formalen Demokratie, der politischen Gleichberechtigung, die Einberufung der Nationalversammlung gleichbedeutend war mit der Aufrichtung der erschütterten Klassenherrschaft des Bürgertums, mit der Stabilisierung der Ausbeutung und Unterdrückung der Mehrheit des Volkes durch eine Minderheit. Sie setzten der Demokratie das Rätesystem, der Nationalversammlung den Rätekongress entgegen. Das Rätesystem schließt die Besitzenden, die Ausbeuter von der politischen Gleichberechtigung aus. Es stellt der Klassenherrschaft der Besitzenden die Klassenherrschaft der Besitzlosen entgegen. Der Staat wird noch nicht aufgehoben, sondern zu einem Herrschaftsinstrument des Proletariats. Die Freiheit der Ausbeutung wird unterdrückt, der Widerstand der Ausbeuter wird mit Gewalt gebrochen durch die Diktatur des Proletariats.
Im Rätesystem werden die Arbeiterräte, die Vertreter des werktätigen Volkes zusammengefasst. Es schließt die Nutznießer fremder Arbeitskraft vom Wahlrecht aus. Damit beseitigt es den ökonomischen Gegensatz, welcher der formalen Demokratie, dem parlamentarischen System zugrunde liegt. Die Arbeiterräte treten in engste Beziehung zu ihren Wählern, unterliegen deren ständige Kontrolle. Sie werden nicht auf eine bestimmte Zeitdauer, sondern auf jederzeitigen Abruf gewählt. Daraus erwächst für die Arbeiterräte ein stärkeres Verantwortlichkeitsgefühl. Der Einfluss der Wähler auf die Gesetzgebung und Verwaltung wird ein weit stärkerer, als es im Parlament der formalen Demokratie der Fall ist. Im Rätesystem liegt die Gesetzgebung und Verwaltung vereint in den Händen der Arbeiterräte, wodurch jeder Bürokratismus von selbst verschwinden muss. Das Rätesystem wird somit zur Grundlage einer neuen Gesellschaftsordnung. Das Rätesystem wird sich politisch und ökonomisch betätigen. Es wird politisch in der Übergangsperiode zur Herrschaftsorganisation des Proletariats; seine Organe müssen die politische Verwaltung übernehmen. Ökonomisch wird es zur Organisation der Produktion.
Das Rätesystem in seiner politischen Betätigung wird somit zur revolutionären Kampfesorganisation des Proletariats. Es fasst das Proletariat zu einheitlichen Kampfmaßnahmen zusammen, zur Niederhaltung seiner Gegner. Dieser Zustand ist und darf kein Dauerzustand sein.
Sobald die sozialistische Demokratie die Aufhebung des Eigentums an den Produktionsmitteln erreicht ist, hört die Diktatur des Proletariats auf. Damit fällt auch der Staat und ein sozialistisches Gemeinwesen tritt an seine Stelle. Über die Übergangsperiode schrieb Karl Marx: "...Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats."
Das Rätesystem erfasst die werktätige Bevölkerung zu einheitlichem Handeln. Es kommt damit der wahren Demokratie näher, denn es schließt nur eine geringe Minderheit aus und macht aus der Diktatur des Proletariats den Willensausdruck der überwältigenden Mehrheit des Volkes. Es bringt die Produktionsmittel in den Besitz der ganzen Gesellschaft; es leitet die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft ein. Das Rätesystem schafft aber noch nicht den Kommunismus. Es bedient sich auch noch gewisser bürgerlicher Rechtsnormen. Der Übergang von der kapitalistischen Produktion und den bürgerlichen Rechtsbegriffen zur gesellschaftlichen Produktion und der Erkenntnis der gesellschaftlichen Gleichheit kann nur auf dem Wege der Entwicklung erreicht werden. Der von Karl Marx aufgestellt Grundsatz: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" wird, wie auch Karl Marx selbst ausführte, erreicht sein, wenn "die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden ist".
3. Sozialisierung und Rätesystem
Unter Sozialisierung verstehen wir die Überführung der Produktionsmittel in den Besitz der Gesellschaft. Die Sozialisierung ist noch nicht Sozialismus oder gar Kommunismus. Sozialisierung heißt, der kapitalistischen Gesellschaft die ökonomische Macht entreißen, was nur durch den politischen Kampf möglich ist. Sozialisierung ist unmöglich, solange der demokratische Staat besteht. Alle Sozialisierungsmaßnahmen der demokratischen Staatsgewalt halten die kapitalistische Produktionsweise aufrecht, die nur mit einem scheindemokratischen Gewande umgeben wird. Im günstigsten Falle tritt neben dem Besitzer der Produktionsmittel als Nutznießer der Arbeitskraft der Staat selbst und beide teilen sich dann den durch Arbeit erschaffenen Mehrwert. Dem Arbeiter wird die "Betriebsdemokratie" versprochen, er darf scheinbar mitreden; in Wirklichkeit wird das Ausbeutungsrecht der Unternehmer fester gefügt, ihr Profit gesichert.
Das Rätesystem wird in seiner politischen Betätigungsform den Kampf führen müssen, um die Sozialisierung, um die Aufhebung des Kapitalismus zu erreichen. Die Sozialisierung bedingt aber auch die Weiterführung der Produktion auf der vom Kapitalismus geschaffenen Grundlage. Diese Grundlage darf nicht zerstört werden; darum muss sofort an Stelle der anarchischen kapitalistischen Produktion die organisierte sozialistische Bedarfsdeckungswirtschaft treten, womit nicht gesagt sein soll, dass an einem bestimmten Tage überall gleichmäßig die Sozialisierung beginnen muss. Es gibt große, umfassende Produktionsgebiete, die sofort sozialisiert werden müssen, während andere, weniger wichtige zunächst unberührt bleiben können. Den Arbeitern im Betriebe kann nicht die Sozialisierung überlassen werden; sie kann nur geschehen durch gemeinsames Wirken aller Arbeiter und Konsumenten, wobei die Mitwirkung der Männer der Wissenschaft gleichfalls erforderlich ist. Die Organisierung dieser Kräfte liegt im Rätesystem zur wirtschaftlichen Betätigung. Im Rätesystem vereinigen sich zwei Organisationen, die der Arbeiter und die der Konsumenten. Beide Organisationen sind verschieden, in beiden muss die Wissenschaft ihren Einfluss geltend machen.
Die Triebkraft der kapitalistischen Produktion ist der Profit. Um den Bedarf der Gesellschaft kümmert sich der Kapitalismus nicht. Das schafft jene anarchischen Zustände, die wir gegenwärtig besonders in Deutschland finden. Damit erweist der Kapitalismus seine Unfähigkeit, die zusammengebrochene Wirtschaft wieder aufzurichten. Er geht der völligen Auflösung entgegen, denn er vernichtet selbst die ökonomischen Voraussetzungen für den Bestand der Gesellschaft. Sie (die Sozialisierung) hebt die Planlosigkeit der kapitalistischen Produktion auf, versucht, jede Verschwendung von Kraft und Material zu verhindern und will mittels eines kleinen Kraftaufwandes die höchste Produktivität entfalten. Die Feststellung des Bedarfs geschieht durch die Organisation des Konsums. In dieser Organisation wirken alle Kräfte der werktätigen Bevölkerung, konzentriert in den kommunalen Arbeiterräten.
Die Produktion selbst wird getragen durch die Organisation der Betriebsräte. Die Arbeiter und Angestellten wählen aus ihrer Mitte die Betriebsräte, denen die Kontrolle der Produktion obliegt. Aus den Betriebsräten werden die Kontrollorgane für das Produktionsgebiet gewählt, die ihre Spitze in einem Reichswirtschaftsrat finden. Im Reichswirtschaftsrat vereinigt sich die Organisation des Konsums mit der Organisation der Produktion.
Die Leitung der Betriebe liegt in den Händen der Betriebsräte. Diese wird eingesetzt durch den Bezirksgruppenrat, der sich aus Vertretern der Betriebsräte des Produktionszweiges des Wirtschaftsgebietes zusammensetzt. In den Betriebsleitungen, wie auch in dem Kontrollorgan der Produktion (Bezirksgruppenräte, Reichsgruppenrat, Reichswirtschaftsrat) wirken die Männer der Wissenschaft aktiv mit.
Die planmäßige Organisation der Produktion erfordert den Aufbau einer wirtschaftlichen Räteorganisation. Durch sie soll die Selbstverwaltung aller Berufsarten, Industrie-, Gewerbe-, Handels- und Verkehrszweige gewährleistet werden. Die Grundlage dieser Organisation sind die Betriebsstätten, die kleinsten gesellschaftlich produktiven Einheiten des Wirtschaftslebens. Aus den Betrieben werden die Vertauensleute des werktätigen Volkes gewählt. Diese Räteorganisation erfasst alle arbeitenden Kräfte des Volkes. Sie ist organisch auszubauen zu einer das ganze Volks- und Wirtschaftsleben zusammenfassenden Zentralorganisation.
Die deutsche Republik bildet eine Wirtschaftseinheit, die zentral verwaltet wird. Sie wird in Wirtschaftsbezirke eingeteilt, in denen die produktiv Tätigen in Bezirksorganisationen zusammengefasst werden.
Die gesamte Produktion gliedert sich nach Industrie-, Handels- und Wirtschaftszweigen und selbständigen Berufsgruppen.
Diese Gliederung ergibt folgende Gruppen:
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Landwirtschaft, Gärtnerei, Tierzucht, Forstwirtschaft und Fischerei.
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Bergbau, Hütten- und Salinenwesen, Torfgräberei.
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Industrie der Steine und Erden, Baugewerbe.
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Metallindustrie.
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Chemische Industrie.
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Spinnstoffgewerbe, Konfektion.
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Papierindustrie, Graphisches Gewerbe.
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Leder- und Schuhindustrie.
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Holz- und Schnitzstoffgewerbe.
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Nahrungs- und Genussmittelgewerbe.
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Bank-, Versicherungs- und Handelsgewerbe.
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Verkehrsgewerbe.
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Beamte und Arbeiter der Staats- und Kommunalbetriebe.
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Freie Berufe
Innerhalb jeder vorstehend aufgeführten Gruppe baut sich die Organisation der Arbeiter auf den Betriebsräten auf, bis zu einer Reichsgruppenorganisation.
In jedem selbständigen Betriebe wird ein Betriebsrat gewählt, wobei die Gruppen der Angestellten und Arbeiter berücksichtigt werden müssen. Der Betriebsrat beaufsichtigt und regelt gemeinsam mit der Betriebsleitung alle Angelegenheiten des Unternehmens.
Wo ein Unternehmen mehrere Betriebe oder selbständige Abteilungen umfasst, wird für jeden Betrieb ein Betriebsrat gewählt. Diese Betriebsräte treffen zusammen zu dem Gesamtbetriebsrat, der aus seiner Mitte den Aufsichtsrat bei der Leitung des Gesamtunternehmens wählt.
Für selbständige Klein- und Mittelbetriebe mit gleicher Produktion erfolgt eine Zusammenfassung der Einzelbetriebe räumlich in Ortsbetriebs- oder Revierräte. In ihnen können auch die Betriebsräte der Großbetriebe gleicher Produktionsart durch den Bezirksgruppenrat zusammengeschlossen werden.
Selbständige Kleingewerbetreibende und andere Berufsgruppen, die nicht in den Betrieben erfasst werden können, wählen in der Gemeinde, in Kreis und Großstädten bezirksweise einen gemeinschaftlichen Betriebsrat (Berufsrat).
Die Betriebsräte, Ortsbetriebsräte, Revierräte oder gemeinschaftlichen Betriebsräte einer jeden Gruppe innerhalb eines Wirtschaftsbezirkes schließen sich zu einem Bezirksgruppenrat zusammen und wählen einen geschäftsführenden Ausschuss. Der Bezirksgruppenrat überwacht und regelt die Produktion im Bezirke nach den vom Reichsgruppenrat zu erlassenden Bestimmungen. Innerhalb des Bezirkes ist der Bezirksgruppenrat die höchste Instanz zur Entscheidung aller sich aus dem Produktionsverhältnisse seiner Gruppe ergebenden Fragen.
Der Bezirksgruppenrat einer jeden Gruppe wählt aus seiner Mitte die Delegierten zum Bezirkswirtschaftsrat. Dieser entscheidet über Kompetenzstreitigkeit unter den vorhandenen Gruppen des Bezirks; auch Produktions- und Wirtschaftsfragen, die nur innerhalb des Bezirkes geregelt werden können, unterliegen der Entscheidung des Bezirkswirtschaftsrates.
Der Bezirksgruppenrat einer jeden Gruppe wählt aus seiner Mitte Delegierte zu einem Reichsgruppenrat, welcher gebildet wird aus den Vertretern der gleichen Gruppe aller Bezirke.
Der Reichsgruppenrat ist die Zentralinstanz der Gruppe. Er hat nach dem allgemeinen Wirtschaftsplan des Reichwirtschaftsrats Art und Umfang der Produktion, Beschaffung und Verteilung der Rohmaterialien, den Absatz der Produkte sowie alle die Gruppe betreffenden Fragen zu regeln. Er kann zur Erledigung aller ihm obliegenden Fragen besondere Kommissionen bilden, die durch Sachverständige ergänzt werden können.
Die Reichsgruppenräte der aufgeführten Industrie-, Gewerbe-, Handelszweige usw. wählen aus ihrer Mitte Vertreter in den Reichswirtschaftsrat.
Die Vertreter der Reichsgruppenräte im Reichswirtschaftsrat regelt sich nach dem Verhältnis der Gesamtzahlen der in den einzelnen Gruppen Beschäftigten.
Der Reichswirtschaftsrat setzt sich zu gleichen Teilen zusammen aus den Vertretern der angeführten 14 Wirtschaftsgruppen und aus den Vertretern der Organisation des Konsums. Die Leitung des Reichswirtschaftsrates führen die dazu Beauftragten des Zentralrates.
Der Wille zur Sozialisierung, zur Umgestaltung des kapitalistischen Staatswesens wurzelt tief im Herzen des werktätigen Volkes. Mit elementarer Gewalt brach dieser Wille im November 1918 hervor. Überall wählten die Arbeiter, Angestellten und Beamten, Arbeiterräte und Betriebsräte, die das große Werk beginnen und vollenden sollten. Das gewaltige Problem, das damals aufgerollt wurde, konnte bis zum heutien Tage noch nicht gelöst werden. Die Arbeiterklasse trat ohne jede Vorbereitung an dieses Problem heran; sie zerfleischte sich selbst im Ringen um ihre Befreiung. Die Gegenwehr der bürgerlichen Gesellschaft setzte ein, und damit begann die soziale Revolution, deren Verlauf Karl Marx in seinem "18.Brumaire" vorausgesagt hat:
"...Proletarische Revolutionen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht und die Verhältnisse selbst rufen: "Hic Rhodos, hic salta!"