Wohnen zwischen Reform und Revolution

Tilman M. Ruster

Sozialistische Wohnpolitik ist viel mehr als leistbarer Wohnraum, denn Wohnen ist ja auch mehr als im Warmen schlafen. Im Kapitalismus hängt das Wohnen und damit der Lebensentwurf v.a. am Einkommen. Der angeblich perfekte Lebensentwurf braucht Geld: Das eigene Haus am Stadtrand, bewohnt von der „klassischen“, bürgerlichen Familie. Auch wenn das für die Mehrheit unerreichbar ist, gilt das in Medien und bürgerlicher Politik als die gesunde Norm. Die Ideal-Familie ist das Spiegelbild der kapitalistischen Gesellschaft: Strenge Hierarchien und Rollenbilder, jedeR hat einen fixen Platz und gewöhnt sich so daran, nicht aufzumucken. Die Aufteilung der Hausarbeit in der Familie ist hier wesentlicher Bestandteil: Bis heute verrichten Frauen den Großteil der Hausarbeit. Das wird aber nicht bezahlt, was in unserer Gesellschaft bedeutet, diese Arbeit sei weniger wert, die Unterdrückung der Frau also gerechtfertigt. In dicht besiedelten Städten wird versucht, dieses „Idealbild“ der bürgerlichen Familie aus dem 19. Jahrhundert in die Wohnungen der ArbeiterInnenklasse zu pressen. Das funktioniert natürlich nicht. Statt aber anderen/neuen Lebensweisen Raum zu geben, wird ein Abweichen von dieser „Norm“ als Scheitern gebrandmarkt. Wer also arm ist, ist außerdem irgendwie nicht „normal“.

Doch wie sieht der sozialistische Gegenentwurf beim Wohnen aus? Die vor-marxistischen Sozialisten, wie Owen oder Fourier, entwarfen detailreiche Projekte für tausende BewohnerInnen, wo von der Wohnung ausgehend ein kollektives Leben organisiert werden sollte. Arbeit, Freizeit, Bildung… alles sollte kollektiv stattfinden und zwar nach einem vorab festgelegten, starren Plan bis hin zu einer minutengenauen Einteilung des Tagesablaufs. Obwohl die Umsetzung solcher Versuche scheiterte, bleibt ein Gedanke doch richtig: Wo viele Menschen zusammen leben, kann das genutzt werden, um durch gute Planung Vorteile für alle zu schaffen.

Trotzki lud nach der russischen Revolution 1923 in seinem Artikel zu „Fragen des Alltagslebens“dazu ein, gemeinsam auf freiwilliger Basis Experimente für kollektiviertes Wohnen zu wagen. Die Idee beruhte auf der demokratischen Gestaltung der Wohnprojekte durch ihre BewohnerInnen und die Gesellschaft. Was dabei entstehen könnte, beschreibt er so:

Das Waschen muss in einer öffentlichen Wäscherei geschehen, die Versorgung mit Essen in einem öffentlichen Restaurant, Nähen durch öffentliche Einrichtungen. Die Kinder müssen durch gute öffentliche Lehrer erzogen werden, die eine echte Berufung für diese Arbeit spüren. Dann wird das Band zwischen Mann und Frau von allen äußeren und zufälligen Dingen befreit und der eine würde aufhören, das Leben des anderen völlig für sich in Anspruch zu nehmen. Echte Gleichberechtigung würde schließlich erreicht.“

Trotzki versprach sich von der Selbstbestimmung frei von Profitzwängen letztlich den Sprung „aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“ und damit in einer neuen Gesellschaft auch neue Formen des Wohnens und Zusammenlebens. Solange neue Wohnformen als Inseln im kapitalistischen Meer bleiben, sind sie bestenfalls sehr begrenzte Projekte, aber ändern an den gesellschaftlichen Normen noch nichts.

 

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