Wie eine proletarische Frauenbewegung aufbauen?

Wir brauchen einen Feminismus der Arbeiter*innenklasse statt mehr Frauen in den Chefetagen.
Sarah Moayeri

Die Geschichte der Russischen Revolution und Kollontais Rolle kann uns dabei helfen, zu verstehen, welche Aufgaben heute vor uns liegen im Kampf gegen Sexismus, Gewalt an Frauen und jede Form von Unterdrückung. In den letzten Jahren haben wir eine neue Welle von feministischen (Massen)bewegungen in verschiedenen Teilen der Welt gesehen. Einige dieser Bewegungen haben auch Erfolge erringen können - wie der Kampf um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Argentinien oder Irland. Aber egal welche Verbesserungen wir erkämpfen - innerhalb dieses System können sie uns jederzeit wieder genommen werden. Die Geschichte der Russischen Revolution zeigt, dass der Kampf gegen die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern untrennbar mit dem Kampf gegen das kapitalistische System verbunden ist. Das gilt heute genauso wie zu Kollontais Zeit. Kollontai und die Bolschewiki handelten auf der Basis der Analyse, dass die Klassengesellschaft die systematische Unterdrückung der Frauen braucht: Ihre Rolle in der Ehe und Familie, um unbezahlte Haus- und Pflegearbeit zu leisten und damit doppelt ausgebeutet zu werden. Sie wussten, dass nur in einer sozialistischen Gesellschaft, in der die Wirtschaft demokratisch organisiert und geplant wird, eine Emanzipation der Frauen überhaupt erst möglich wird. Wir sehen heute, wie abhängig der globale Kapitalismus von der bezahlten und unbezahlten Arbeit von Frauen ist. Sexismus und Gewalt sind integraler Bestandteil dieses Systems, das Gewalt, veraltete Rollenbilder und die Objektifizierung von Frauen in vielerlei Hinsicht reproduziert. 

Kollontais enorme Leistung als Revolutionärin bestand darin, die zentrale Rolle der Arbeiter*innenklasse im Kampf gegen die Unterdrückung der Frau und andersherum, die zentrale Rolle des weiblichen Teils der Arbeiter*innenklasse im Kampf für den Sozialismus zu erkennen und daraus praktische Schlussfolgerungen zu ziehen. Sie leistete einen entscheidenden Beitrag zur Verankerung der Partei der Bolschewiki unter Arbeiterinnen, was eine der Voraussetzungen für die erfolgreiche Revolution 1917 unter ihrer Führung war. Kollontai befürwortete keine separaten Organisationen, nur für Frauen, da sie davon ausging, dass die Emanzipation der arbeitenden Frauen nur zusammen mit der übrigen Arbeiter*innenklasse möglich sein würde. Sie hatte Vertrauen darin, dass der gemeinsame Kampf Spaltungen zwischen den Geschlechtern zurückdrängen würde. Dennoch betonte sie die Notwendigkeit konkreter Maßnahmen zur Gewinnung von Frauen aus der Arbeiter*innenklasse für den revolutionären Kampf.

Kollontai setzte sich vor, während und nach der Revolution unermüdlich für die Rechte der arbeitenden Frauen, für deren praktische Organisation und deren Beteiligung am Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft ein. Gemeinsam mit anderen Bolschewiki gelang es ihr, durch den aus der Revolution hervorgegangenen neuen Staat soziale Fortschritte im Interesse der Frauen umzusetzen. Sie wusste aber auch, dass es für ein Ende von Frauenunterdrückung und die jahrhundertelang gewachsenen reaktionären Rollenbilder mehr brauchte. Natürlich konnte all das nicht von heute auf morgen beseitigt werden. Die soziale Basis für Emanzipation wurde mit der Revolution gelegt, doch nicht umsonst kämpfte Kollontai auch für eine Umwälzung der bestehenden Moralvorstellungen. Die Basis war geschaffen - doch tief verwurzelte Ideen verschwinden nicht auf einen Schlag. Das gilt auch heute. Als Sozialist*innen müssen wir an der vordersten Front in diesem Kampf stehen und ihn stets mit einer Perspektive für eine grundlegende Umwälzung der Gesellschaft verbinden. UND es braucht auch schon heute einen bewussten Kampf gegen jede Form von Sexismus, Rassismus, LGBTQI+ Feindlichkeit und Diskriminierung - ob am Arbeitsplatz, in der Schule oder anderswo.

Für den Aufbau einer proletarischen, sozialistisch-feministischen Bewegung heute brauchen wir Klarheit darüber, dass es innerhalb des kapitalistischen Systems keine Emanzipation geben kann. Viele Menschen bezeichnen sich heute als “Feminist*innen”, viele Marken und Konzerne haben dieses Label für sich entdeckt und vermarkten es unermüdlich. Das ist Ausdruck einer veränderten Stimmung innerhalb der Gesellschaft, befeuert durch die zahlreichen feministischen Kämpfe der letzten Jahre. Doch der Feminismus, der von den Herrschenden und Regierenden genutzt wird, hat uns nichts zu bieten: Er verspricht uns angebliche Befreiung in einem System, das auf Ungleichheit und Unfreiheit basiert. Kollontai und andere Sozialist*innen haben stets gegen den bürgerlichen Feminismus gekämpft, weil sie wussten, dass er Augenauswischerei ist. Stattdessen muss sich ein sozialistischer Feminismus daran orientieren, was im Interesse der Arbeiter*innenklasse ist und eine klare Grenze ziehen zu den Interessen der Reichen und Mächtigen, egal welches Geschlecht diese haben. Wir müssen innerhalb der Arbeiter*innenbewegung und der Gewerkschaften um einen kämpferischen Kurs gegen Sexismus und Ungleichheit kämpfen und eine Bewegung aufbauen, die nicht nur an der Oberfläche kratzt, sondern den Kampf gegen das gesamte kapitalistische System aufnimmt.

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