Was sind die Aufgaben von MarxistInnen?

Grundrisse politischer Arbeit
Sonja Grusch

Seit einiger Zeit gibt es Neues in der linken Medienlandschaft: “grundrisse – zeitschrift für linke theorie & debatte”. Der Titel “grundrisse” orientiert sich an einem in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts von Marx verfaßten Werk: “Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie”.

Die Grundrisse von Marx sind nach seinen eigenen Worten das Ergebnis von 15 Jahren Forschung, sie sind auch das Resultat einer Vielzahl von Diskussionen v.a. mit Engels. Wir finden bei Marx Beispiele historischer und empirischer Natur; er leitet seine Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Untersuchung der Geschichte und den existierenden ökonomischen Verhältnissen ab. In dieser Methode unterscheiden sie sich die Grundrisse von Marx wesentlich von den österreichischen grundrissen. Die meisten Artikel beschränken sich auf Ideengeschichte und sind eine Auseinandersetzung mit philosophischen TheoretikerInnen. Was fehlt ist die Theorien an der Praxis und den real existierenden gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten zu testen.
Theoriebildung ist für MarxistInnen unerlässlich. Ohne Theorie bliebe politische Arbeit ein zielloses Reagieren, müßten wir die Fehler der Vergangenheit wiederholen, anstatt aus ihnen zu lernen. Theorie ist Anleitung zum Handeln, sie kann aber niemals ohne den Test der Praxis zu brauchbaren Ergebnissen führen. Marx und Engels haben sich nie als reine Theoretiker verstanden, sondern haben sich an den politischen Ereignissen ihrer Epoche aktiv beteiligt. Sie waren in der Revolution von 1848 dabei und Marx stand 1849 wegen “Aufhetzung zur Rebellion” vor Gericht. Auch als 1871 in Paris die Kommune ausgerufen wurde, war Marx vor Ort.

“Die bloße Erkenntnis, und ginge sie weiter und tiefer als die der bürgerlichen Ökonomie, genügt nicht, um gesellschaftliche Mächte der Herrschaft der Gesellschaft zu unterwerfen. Dazu gehört vor allem eine gesellschaftliche Tat.”
(Friedrich Engels, Anti-Dühring)

Theorie ohne Organisation?

1847 traten Marx und Engels dem “Bund der Gerechten” bei, den sie zum “Bund der Kommunisten” umgestalteten. Sie gründeten die 1. Internationale, der allein in Britannien bereits 1865 über 12.000 Mitglieder angehörten. Die Organisierung der RevolutionärInnen und der ArbeiterInnenklasse insgesamt war für beide ein zentraler Bestandteil ihrer Arbeit. Nicht so für die HerausgeberInnen der grundrisse: “Grundsätzlich verstehen wir uns nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung und Bereicherung zu anderen politischen Projekten, Organisationen und Initiativen. Die bisherigen Mitglieder der Redaktion arbeiten fast alle auch in anderen politischen Kontexten.” (g_01, S. 4) Dieser pluralistische Anspruch mag sympathisch wirken, zeigt aber einen unernsten Zugang zu politischer Arbeit. Es gibt nicht hier die Theoretiker und dort die Praktiker. Es gibt verschiedene Organisationen eben weil es verschiedene theoretische Grundlagen gibt. Auch bei den grundrissen gehen Theorie und Praxis (nämlich eine Theoriezeitung als einziges Projekt zu produzieren), Hand in Hand.

Nähe zu Negri: Keine Zufälligkeit

Die 2. Ausgabe der grundrisse steht ganz im Zeichen von Negris “Empire”. In einer langen Rezension wird ein Überblick über den Inhalt dieses vieldiskutierten Buches gegeben. Eine Stellungnahme zu den vielen, höchst problematischen Punkten finden wir nicht. Zu lesen ist etwa, dass der nach 1945 aus den USA nach Europa importierte Wirtschaftspolitik des “New Deal” die Grundlage für das Wirtschaftswunder der 50er Jahre war. (g_02, S. 8, Foltin). Stimmt das, oder stimmt das nicht? Wir haben jedenfalls eine Meinung dazu und halten die - bürgerliche – Theorie, dass die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus mittels einer “richtigen” Wirtschaftspolitik überwunden werden kann, für falsch. Unserer Meinung nach fußte der Nachkriegsaufschwung auf den immensen Zerstörungen des 2. Weltkrieges, welche die Überproduktion und Überakkumulation des Kapitals abbaute. Den hohen Anspruch über bessere Instrumente zu verfügen, als der Marxismus sie anzubieten hat, finden wir an verschiedenen Stellen. Auch hier ist es wieder Negri, auf den Bezug genommen wird; etwa bei seiner Beschäftigung mit der “affektiven Arbeit” (jener Teil der Arbeit, der zwar körperlich ist, aber kein greifbares Produkt sondern z.B. Entspannung schafft, wie das Lächeln der Verkäuferin). Ebenso wird der Ruf nach einer neuen Werttheorie laut. Bei der “feministischen Marxkritik” behaupten die AutorInnen, einen “blinden Fleck des Marxismus” gefunden zu haben (g_02, S. 38ff, Birkner, Knittler). Den Beweis, dass der Marxismus eine “verkürzte...Sichtweise der Reproduktionsarbeit” (g_02, S.4) hat, weil er die Hausarbeit im Rahmen dieser Reproduktionsarbeit behandelt, wird allerdings nicht erbracht. Entscheidend ist aber, dass jeder Bezug zur Praxis der marxistischen Frauenbewegung fehlt. Hat diese in der Praxis die richtigen Fragen aufgegriffen, die richtigen Forderungen aufgestellt und die richtigen Kämpfe geführt? – Was bleibt dann übrig vom “blinden Fleck”?
Auch die Unterschätzung der Rolle der ArbeiterInnenklasse, sowie “Antiorganisationstheorien” – beides typische Merkmale für einen gewissen akademischen “mainstream” - fehlen nicht. In den grundrissen finden wir die Einschätzung, dass die Protest gegen den G8-Gipfel in Genua 2001 für das Kapital wegen der Vielfalt der Aktionsformen und der Unterschiedlichkeit der beteiligten sozialen Gruppen eine Bedrohung war. (g_02, S. 16, Foltin) Tatsächlich war der Umstand, dass erstmals bei solchen Protesten die ArbeiterInnenklasse den Großteil der DemonstrantInnen ausmachte, für das Kapital gefährlich. Bei Reitter (g_02, S. 29) findet sich folgende Überlegung: “Repräsentationspolitik bedeutet immer und automatisch Politik einer Elite”. Gassner (g_02, S. 35) erklärt demgegenüber, es ginge zwar nicht um das “abstrakte Ablehnen von Organisation schlechthin”. Doch um was geht es dann? Negri präsentiert als Alternative zu einem angeblich alles kontrollierendes und alles integrierendes Empire, ein buntes und undefiniertes “Multitude”. Wir halten das für eine wunderbare Rechtfertigung für den Rückzug in den Elfenbeinturm der Theorie, der mit den praktischen Erfordernissen von Geschichte und Gegenwart nichts zu tun hat.

“Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.” (Karl Marx/Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest)

Die wichtigsten Punkte fehlen!

Was in den grundrissen fehlt sind – wie bei Negri – Analyse der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und Fakten, die die häufig abstrakten Thesen und Zitate belegen könnten. Marx meint dazu: “Die wahre Theorie muss innerhalb konkreter Zustände und an bestehenden Verhältnissen klargemacht und entwickelt werden.” (Marx an Oppenheim, 1842, MEW Bd. 27, S. 409). Entspricht das Projekt der grundrisse den Aufgaben, vor denen MarxistInnen heute stehen? Nein. Die 90er Jahre mit der ideologischen Offensive des Kapitals haben die Linke geschwächt. Die wachsende Anti-“Globalisierungs”- und anti-kapitalistische Bewegung weiss zwar, wogegen, aber kaum, wofür sie ist. Ihr fehlen Ziele, Perspektiven und ein Programm. Strategie und Taktik sind bestenfalls verwirrt, häufig voller Illusionen in den bürgerlichen Staat. Wir finden, dass die grundrisse die “drängenden Fragen und Probleme, die die gesellschaftliche Entwicklung auf die Tagesordnung setzt” (g_02, S. 3) weder angehen noch beantwortet.

Die Aufgabe von MarxistInnen ist es, Teil der verschiedensten Kämpfe zu sein und sie weiterzuentwickeln: ihnen ein Programm und eine Richtung zu geben. Zweifellos braucht es dazu auch theoretische Diskussionen: aber diese müssen Teil der Bewegung sein und mit den AktivistInnen geführt werden. Die grundrisse suchen die “Unzulänglichkeiten des Marxismus” und vergessen darüber seine Überlegenheit als Instrument. Heute steht auf der Tagesordnung, den Marxismus endlich zu benützen, insbesondere als er – im Gegensatz zu starren Sichtweise der grundrisse-AutorInnen – eine sehr lebendige und flexible Methode ist.

“Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.” (Karl Marx, Thesen über Feuerbach)

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