Wall Street-Wahnsinn: GameStop & der Short Squeeze

Bryce Callaway, Socialist Alternative (ISA in den USA)

Die herrschende Klasse und ihre Sprachrohre in den Medien haben schon immer versucht, die arbeitenden Menschen davon zu überzeugen, dass"wenn es der Börse gut geht, es allen gut geht.“ Das Jahr 2020 aber hat, neben vielen anderen Dingen über unsere Gesellschaft im Kapitalismus, schonungslos offenbart, dass dies eine komplette Lüge ist. Während die arbeitenden Menschen ihr Leben, ihre Jobs und ihre Gesundheitsversorgung verloren, stieg der US-Aktienmarkt und vergrößerte den Reichtum der Milliardär*innen des Landes um mehr als eine Billion Dollar. Nach den katastrophalen globalen Auswirkungen der Gier der Wall Street in der Großen Rezession von 2007-2009 war es nie klarer als heute, dass die Finanzmärkte einfach nur ein Casino für die Reichen sind und nichts Nützliches für die breitere Gesellschaft bieten.

Doch in der vergangenen Woche schien eine viral gegangene Kampagne rund um den Videospielhändler GameStop aus dem Nichts zu kommen und die klassische Machtdynamik der Wall Street ins Chaos zu stürzen. Der Aufmacher auf Bloomberg.com lautet "Hedge Fond-Legenden verlieren bei Amoklauf von Reddit-Händler*innen Milliarden". Könnten sich "Otto Normalverbraucher" auf Social-Media-Seiten wirklich in einem beispiellosen Akt der Internet-Solidarität zusammengeschlossen haben, um große Wall-Street-Investor*innen zu Fall zu bringen?

Der Short-Squeeze

Die klassische Art und Weise, wie der Aktienmarkt funktioniert, ist, dass man Aktien eines Unternehmens in der Hoffnung kauft, dass ihr Wert steigt, wenn die Performance dieses Unternehmens steigt; in der Fachsprache: man geht "long". Eine andere, weniger intuitive Art, sich zu den Aussichten der Aktien eines Unternehmens zu positionieren, ist der "Leerverkauf" in der Hoffnung, dass der Kurs fällt - man geht "short". Wenn der Preis fällt, verdienen die Leerverkäufer Geld, wenn er steigt, verlieren sie Geld.

Leerverkäufe sind eine beliebte Strategie für Hedge-Fonds, d.h. Wall-Street-Gesellschaften, die komplexe Handelsmethoden anwenden, um Renditen für ihre wohlhabende Kundschaft zu erzielen. Einige dieser Leerverkäufer erregten die Aufmerksamkeit des Subreddits WallStreetBets, der aus einzelnen Investor*innen besteht, die untereinander hochriskante Handelsstrategien diskutieren. Das Subreddit wettete kollektiv gegen Hedgefonds, indem es eine große Anzahl von Aktien von Unternehmen aufkaufte, die leerverkauft wurden, wie GameStop und die Kinokette AMC.

In den vergangenen zwei Wochen löste dies eine virale Kampagne unter einzelnen privaten Händler*innen aus, die die Aktienhandels-App Robinhood und andere Online-Broker nutzen. Die Privatleute, die gleichzeitig in diese Unternehmen investierten, erzeugten ein kleines, aber dennoch einflussreiches Marktinteresse, das die Preise dieser Aktien ansteigen ließ und die Hedgefonds dazu zwang, in Panik ihre Positionen zu schließen. Dadurch entstand ein "Short Squeeze", eine typische Handelssituation, in der der Aktienkurs sehr schnell ansteigt. Die Handelsaktivitäten haben seither ein Eigenleben angenommen, das weit über die reddit-Gruppe hinausgeht, die sie initiiert haben.

Milliardärs-Investor*innen haben seither das Spiel betreten und wetten darauf, dass die GameStop-Aktie noch weiter steigen wird. Skrupellose reiche Investor*innen haben zu diesem Zweck eine Reihe von Fehlinformationen verbreitet, unter anderem, dass das Festhalten an GameStop-Aktien den Hedge-Fonds schaden würde – trotz des Einbruchs des Aktienkurses um 40% am Donnerstag, den 28. Januar. Die Reichen spielen beide Seiten gegeneinander aus und manipulieren den wohlverdienten Hass der Öffentlichkeit auf ihre eigenen Hedgefonds, um ihre neuen Long-Positionen zu stützen.

Marktmanipulation?

Als die Aktien von GameStop und AMC in die Höhe schnellten, erlitten einige Hedge-Fonds erhebliche Verluste. Sofort machten sich die Wall Street und ihre Medien daran, die Aktionen der Reddit-Investor*innen öffentlich als "manipulativ" und "gegen die Art und Weise, wie Aktienmärkte funktionieren sollten", zu verurteilen. Ohne einen Hauch von Ironie bemerkte der Leerverkäufer Andrew Left von Citron Research: "Ich wusste nicht, dass das so kultartige Züge hat. Es ist einfach ein Schema, schnell reich zu werden".

GameStop ist kein Unternehmen, das es verdient, zum 50- oder 100-fachen seines Wertes von vor einem Jahr gehandelt zu werden. Als stationäres Unternehmen hat GameStop erlebt, wie ihre Rentabilität eingebrochen ist, da Spielekäufe zu digitalen und Online-Händler*innen abwandern. In dem Bemühen, die Einnahmen zu halten, hat sich GameStop sogar lächerlicherweise als "systemrelevantes Geschäft" eingestuft und seine Mitarbeiter*innen inmitten der aktuellen COVID-19-Panik in Risikosituationen zum Weiterarbeiten gezwungen. AMC wiederum war vor der haarsträubenden Achterbahnfahrt ihres Aktienkurses nur einen Schritt vom Bankrott entfernt.

Aber wann hat sich die Wall Street jemals um den "wahren" Wert eines Unternehmens gekümmert? Große Händler haben jahrzehntelang "Pump and Dump"-Strategien angewandt (Kursmanipulation nach Eingehen einer Long-Position, Anm. d. Übers.), um den Wert ihrer Aktienbestände aufzublähen, während sie sie im Stillen weiterverkauften – und ahnungslose Menschen dem Hype auf den Leim gingen und die wertlosen Aktien kauften. Darüber hinaus ist das gesamte Geschäftsmodell börsennotierter Unternehmen auf die Aktionär*innen ausgerichtet, von denen viele die astronomisch entlohnten Führungskräfte des Unternehmens sind. Im Dienste des alles entscheidenden Aktienkurses werden die Unternehmen alles tun, um dem Markt positive Signale zu senden, selbst wenn dies bedeutet, dass Zehntausende von Arbeitsplätzen gestrichen oder ins Ausland in billigere Arbeitsmärkte verlagert werden.

Am 28. Januar bekamen Großinvestor*innen ihren Wunsch erfüllt, als die Online-Broker den Handel mit GameStop und anderen hoch gehandelten Wertpapieren einschränkten. Benutzer durften ihre Positionen verkaufen, aber sie konnten keine weiteren Aktien kaufen, während große institutionelle Investoren wie Hedge-Fonds immer noch in der Lage waren, Geschäfte wie gewohnt durchzuführen. Die Gegenreaktion unter den Kleinanleger*innen kam sofort, und im US-Kongress protestierten von AOC bis Ted Cruz Politiker*innen aller Lager gegen die Handelsbeschränkungen. Die Broker benutzten technische Ausreden, warum sie die betreffenden Wertpapiere von ihren Plattformen entfernt hatten, aber es fällt schwer, dies nicht als ein weiteres Beispiel dafür zu sehen, dass die Karten in diesem Casino gegen normale Menschen und zugunsten der Wall Street gezinkt sind. Zu Recht verärgerte Nutzer*innen überschwemmten die Robinhood-App mit 1-Stern-Bewertungen, die Google prompt entfernte und damit zeigte, wo seine Klassensolidarität liegt.

Wall Street vs. Main Street

The Big Short war ein beliebter Film, weil er zeigte, wie die Arroganz der Wall Street ihr auf die eigenen Füße fällt. Aber leider war das Ergebnis der Situation im Jahr 2008, auf der der Film basiert, dass die Arbeiter*innen gezwungen wurden, die großen Banken mit Steuergeldern zu retten, während Millionen von Menschen im Stich gelassen wurden und ihre Jobs und Häuser verloren. Schlimmer noch: Die Obama-Regierung hat nie jemanden an der Wall Street zur Rechenschaft gezogen, und die Investor*innen konnten ihre Verluste in den kommenden Jahren schnell wieder hereinholen; einige Firmen nutzten die Finanzkrise außerdem als Möglichkeit, angeschlagene Vermögenswerte zu Ausverkaufspreisen zu kaufen. Die Arbeiter*innen haben sich nie wirklich erholt und sitzen in prekäreren Jobs fest als je zuvor, was durch die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wurde.

Es ist absolut verständlich, dass normale Menschen sich zusammenschließen wollen, um etwas Geld für sich selbst zu verdienen und die riesigen Investor*innen zu Fall zu bringen, die so viel Schmerz verursacht haben und dabei noch so üppig profitierten. Einige Nutzer des Subreddits haben sogar gesagt, dass sie ihre Gewinne aus dem Handel verwenden werden, um ihre Student*innenkredite abzuzahlen. Die Glaubwürdigkeit unserer politischen und wirtschaftlichen Institutionen bröckelt weiter und die arbeitenden Menschen haben richtig erkannt, dass sie keine Gerechtigkeit zu erwarten hätten, wenn sie sich individuell mit dem Establishment und dem Großkapital messen würden.

Hedgefonds sind nicht die einzigen miesen Akteure im Kapitalismus. Alle Kapitalist*innen, einschließlich der Eigentümer*innen von GameStop selbst, häufen ihren Reichtum an, indem sie den Arbeiter*innen weit weniger zahlen als das, was diese für das Unternehmen erwirtschaften. Ein Teil des entnommenen Profits wird an der Börse aufgeteilt. Finanzunternehmen, die Long-Positionen eingehen, profitieren genauso von der Ausbeutung der Arbeiter*innen wie Hedgefonds, die Short-Positionen einnehmen. Hedgefonds anzugreifen, indem man ein anderes Unternehmen bereichert, wie der GameStop-Handel nahelegt, ist eigentlich ein Nullsummenspiel für die Kapitalist*innenklasse.

Außerdem ist der Aktienmarkt unglaublich komplex und gegen die arbeitenden Menschen manipuliert. Große Finanzunternehmen profitieren von undurchsichtigen Regeln und betreiben verschwenderisch teure Ultrahochgeschwindigkeits-Internetverbindungen, die ihnen Handelsinformationen liefern, lange bevor sie normale Menschen erreichen. Die Robinhood-App zum Beispiel übermittelt die Trades ihrer Kunden an die großen Finanzfirmen, bevor die Trades ausgeführt werden. Es ist sehr schwer, die Wall Street zu überrumpeln, und der Einfluss von Kleinanleger*innen auf Hedgefonds wurde stark übertrieben, um den GameStop-Hype zu verlängern. 

Wie wir die Wall Street bekämpfen können

Können arbeitende Menschen die Strategie, die von den Redditors verwendet wurde, auch einsetzen, um die Wall Street für immer zu Fall zu bringen? Leider ist es so, dass die meisten Menschen kein zusätzliches Geld zur Verfügung haben, um in den Aktienmarkt zu investieren, da sie mit Miete, Lebensmitteln, Gesundheitsfürsorge und unzähligen anderen überhöhten Lebenshaltungskosten stark belastet sind. Kleinanleger*innen laufen Gefahr, sich zu spät in die Aktienblase einzukaufen und bei deren Platzen mehr Geld zu verlieren, als sie sich leisten können.

 

Die Wall Street hat außerdem immer die Möglichkeit, Notfinanzierungen in Anspruch zu nehmen. Einer der betroffenen Leerverkäufer, Melvin Capital, erhielt im Handumdrehen eine Finanzspritze in Höhe von 2,75 Milliarden Dollar, um seinen Hedgefonds zu stabilisieren, als die Probleme auftauchten. Große Investor*innen haben zusätzlich institutionelle Unterstützung, was einmal mehr klar wurde, als die Federal Reserve sofortige und beispiellose Maßnahmen ergriff, um sicherzustellen, dass die Finanzmärkte während der globalen Pandemie "gesund" blieben. In der Zwischenzeit sind Menschen, die aktiv um ihr Überleben kämpfen, oft noch Monate von einem weiteren Stimulus-Scheck entfernt, der kaum die Kosten für eine Monatsmiete decken kann. 

 

 

Das wirkliche Druckmittel der arbeitenden Menschen, um die herrschende Klasse in die Knie zu zwingen, besteht in ihrer Macht, die Arbeit zurückzuhalten, die alle Profite in unserer Wirtschaft schafft. Wir müssen dringend eine kämpfende Arbeiter*nnenbewegung wieder aufbauen und die Basis für die Schaffung einer neuen Arbeiter*innenpartei legen, die unabhängig von den verrotteten, der Bourgeoisie hörigen Demokraten ist. Wenn Joe Bidens jüngste Präsidentschaftskampagne von über 60 Milliardär*innen unterstützt wurde, wie können wir dann von ihm erwarten, dass er für die arbeitenden Menschen und gegen die Interessen der Wall Street eintritt?

 

Die beiden Wahlkämpfe von Bernie Sanders für das Amt des Präsidenten haben gezeigt, dass Millionen von der Idee eines Klassenkrieges mit der Wall Street und der Milliardär*innenklasse aufgewühlt waren. Forderungen nach einer Besteuerung der Reichen und "Medicare For All" sind weithin populär und können einer Arbeiter*innenpartei eine Plattform bieten, um die herum sie sich organisieren kann. Wir können uns nicht auf bloße Aufrufe an die Kapitalist*innenklasse verlassen, "das Richtige zu tun" – nur eine Massenbewegung der arbeitenden Menschen kann die Kraft aufbringen, die stark genug ist, um bedeutsame Zugeständnisse vom Großkapital zu erlangen.

Karl Marx wäre sicherlich etwas schadenfroh, wenn er sähe, wie ein paar Großinvestor*innen durch diese von vielen "Normalos" koordinierte Aktion leiden. Aber seine Vision wies auf einen dauerhaften Bruch mit dem System des Kapitalismus hin, der es diesen Ausbeuter*innen überhaupt erst ermöglicht zu gedeihen. Eine Arbeiter*innenpartei sollte den Ruf nach einer sozialistischen Zukunft aufgreifen, in der die Produktivkräfte der Gesellschaft in kollektivem Besitz sind und über ihre Verwendung und Funktion demokratisch entschieden wird. Die Tage der Herrschaft des 1% über die 99 % könnten dann endlich auf den Müllhaufen der Geschichte verbannt werden.