Vergesellschaftung & Rätemacht statt Stalinismus & Reformismus

Pablo Hörtner

Die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrie & großen Banken — ihre Überführung in die Hände der Arbeiter*innen — ist die höchste Stufe des Klassenkampfes und Grundbedingung einer geplanten Bedürfniswirtschaft. Die Enteignung von Großkapital & Großgrundbesitz war auch die wirtschaftliche Grundlage der Sowjetunion, des ersten Arbeiter*innenstaats der Welt. Sobald aber die Rätedemokratie im Zuge von Kriegskommunismus, nationaler Isolation, „Neuer ökonomischer Politik“ (NÖP) & Bürokratisierung abgebaut war, erodierte auch die ökonomische Basis des nunmehrigen „Sowjetstaats ohne Sowjets“. Die Linke Opposition um Trotzki setzte auf verstärkte Industrialisierung, um Wirtschaft & Arbeiter*innendemokratie wiederzubeleben. Doch die Clique um Stalin drängte gemeinsam mit Bucharin auf eine Fortführung der marktwirtschaftlichen Maßnahmen der NÖP. „Mehr privat, weniger Staat!“ lautete die Devise. Als Stalin 1928 den ersten Fünfjahresplan einführte, war es bereits zu spät: Stalin hatte sich zum Anführer des neuen Mittelstandes & der bürokratischen Kaste im Staatsapparat erhoben, die allesamt weder ein Interesse an Demokratie noch an einem Absterben des Staates hatten. Gleichzeitig waren das Gemeineigentum an Produktionsmitteln sowie die Strahlkraft der Oktoberrevolution so stark, dass die großflächige kapitalistische Restauration erst Ende der 1980er Jahre am Plan stand.

Zugleich bot auch der Reformismus keine Alternative zum Stalinismus. Die Geschichte der Verstaatlichten in Österreich beweist, dass es im Kapitalismus große Unternehmen ohne privatkapitalistische Eigentümer*innen geben kann. Reformistische Sozialdemokratie & bürgerlicher Staat ersetzten hier die zu schwache Kapitalist*innenklasse. Die Industrie — das „Gemeineigentum“ — gehörte jedoch nur am Papier der Bevölkerung. Produziert wurde für einen kapitalistischen Markt & nach den Regeln der Profitlogik. Dieses Konzept — wie es auch Kautsky, Bauer & Co. vertraten, die von einem „demokratischen“ Hinüberwachsen des Monopolkapitalismus in den Sozialismus träumten — hat mit echter Arbeiter*innenkontrolle nichts zu tun. Das machte der italienische Marxist Antonio Labriola schon 1895 klar:

„Es ist besser, von demokratischer Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu sprechen, als vom Gemeineigentum, weil dieses einen gewissen theoretischen Irrtum einschließt. Erstens insofern, als es an die Stelle der wirklichen ökonomischen Tatsache einen juristischen Ausdruck setzt und dann, weil es, in dem Geiste mancher, mit der Vermehrung der Monopole, mit der wachsenden Verstaatlichung der öffentlichen Dienste oder mit all den anderen Phantasmagorien [Wunschvorstellungen, Anm.] des immer wieder auftauchenden Staatssozialismus [also auf Basis des bürgerlichen Staats, Anm.] zusammenfließt, dessen ganze Wirkung darin besteht, die ökonomischen Mittel zur Unterdrückung in den Händen der Unterdrückerklasse zu vermehren.“

 

Zum Weiterlesen:
Antonio Labriola: Drei Versuche zur materialistischen Geschichtsauffassung. Karl Dietz Verlag, Berlin 2018

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