Enteignung & Verstaatlichung – unbedingt, aber richtig!

Franz Neuhold

Es gibt keinen gesamt-gesellschaftlichen Sinn des kapitalistischen Wirtschaftens. Ja zu Enteignung & Verstaatlichung im Rahmen einer echten Demokratie und der völligen Umwälzung des Staates.

Die Frage, in wessen Händen das Eigentum an Produktionsmitteln (Rohstoffe, Maschinen, Land, Immobilien) liegen sollte, stellt den zentralen Konflikt in dieser sozial zerrissenen Gesellschaft dar. Im frühen 19. Jahrhundert mag es noch den visionären Unternehmer-Typus gegeben haben, der Unfassbares riskiert und die Gesellschaft weiterbringt. Er stellt sein Leben in den Dienst des Fortschritts und wird aufgrund des Erfolges reich entlohnt. Ihm wurde so manches Denkmal gesetzt (dabei meist die beteiligten ausgebeuteten Arbeiter*innen und ihre Leistungen verdrängend). Doch heute bringen die 'Eliten' nichts mehr Bedeutsames ein: Worin liegt die Leistung eines Telekom-Milliardärs? Welche Vision hat die Bahlsen-Erbin? Wie bringt man mit Immobilien-Spekulation die Gesellschaft weiter? Alles, was die Kapitalist*innen als 'ihre Leistung' ausgeben, ist gesellschaftlich erarbeitet worden. Die Entwicklung von Werkzeugen, Technik, Chemie, Medizin: Kollektive Arbeit unter Einbindung ungezählter Menschen. Heutige Erfindungen und Ideen basieren alle auf bereits vorhandenen Leistungen anderer. Der Rest: Vererbung von Vermögen und Steuergeschenke. Tatsächlich ist alles bereits durch die kollektivistischen und weltumspannenden Tendenzen dominiert, die sich im Laufe des Kapitalismus selbst Bahn gebrochen haben. Die permanente und für uns 'normal' wirkende private Aneignung von gesellschaftlich erarbeitetem Mehrwert ist der im Kapitalismus legalisierte Diebstahl. Enteignung der Prouktionsmittel aus den Händen der privaten Eigentümer*innen und ihre Überführung in die Hände derer, die tagtäglich mit ihnen den gesellschaftlichen Reichtum schaffen, ist nichts anderes als die Beendigung dieses Diebstahls.

Auf solche Ideen reagieren das Kapital und seine Medien derzeit panisch. Sie ahnen wohl, wie schnell angesichts der Arm-Reich-Schere und sinkendem Lebensstandard der arbeitenden Massen Bewusstsein und Stimmung umschlagen können. Für immer mehr Menschen werden die Fragen von Eigentum an Produktionsmitteln, des Wohnungsmarktes, des Klimawandels und der betrügerischen Autoindustrie etc. immer stärker in den Mittelpunkt rücken. Die Wut wird das Establishment und seine soziale (Un-)Ordnung treffen. Das ist die Lunte, die so schnell wie möglich ausgetreten werden muss. Doch sie wird immer neu angefacht werden.

Wir müssen den nun wieder aufkommenden Ideen von Enteignung und Vergesellschaftung eine sozialistische und revolutionäre Richtung geben. Ansonsten droht ein in der Geschichte der Arbeiter*innen-Bewegung bereits bekanntes Konzept der Niederlage: Dem unangetasteten Kapitalismus wird – gleichsam als Ventil und Spielwiese – eine Insel der Genossenschafts-Seligkeit beiseitegestellt. Die Verbreiterung der Besitzstruktur eines Betriebes unter kapitalistischen Bedingungen ändert nichts an struktureller Ausbeutung menschlicher Arbeit sowie dem Profit-Zwang. Genossenschaften können sich selbst durch das bestgemeinte Engagement nicht vom Markt loslösen.

Enteignung an sich gibt es auch im kapitalistischen Staat. Meist trifft es Landbesitz beim Bau von Infrastruktur oder Verkehrsflächen. Auch bewegliche Sachen können laut Gesetz eingezogen werden. Als Rechtfertigung wirkt meist das 'Allgemeinwohl'. Mangelt es dem bürgerlichen Staat nun lediglich an der nötigen Konsequenz, dieses 'Allgemeinwohl' auf Ausbeutung, Mietwucher und krisen-verursachende Banken auszuweiten? Durchaus, aber nicht nur. Ein Problem liegt darin, was der bürgerliche Staat unter 'Allgemeinwohl' tatsächlich versteht. In Extremsituationen greift der Staat im Gesamtinteresse des Kapitals zu besonderen Mitteln. Infolge der Krise 2007/8 war dies die Vergesellschaftung der Schulden ('Bad Bank'). In Kriegszeiten sind Enteignung und Verstaatlichung mitunter lebensnotwendig, um den Zusammenbruch des Systems zu vermeiden. Der Staat agiert als 'Gesamtkapitalist'; mal zurückhaltend, mal offener. Neoliberale Angriffe bei gleichzeitig beherztem Eingreifen des 'starken Staates' stellt für die Mehrheit der Besitzenden keinen Widerspruch dar. Entscheidend bei alldem ist der Klassencharakter: In wessen Interesse wird etwas enteignet? Wer kontrolliert, was damit geschieht? Ändert eine Verstaatlichung etwas an den Prinzipien von Lohnarbeit, Profitlogik und Konkurrenz?

Der Staat und seine Einrichtungen sind den sozialen Klassen gegenüber niemals neutral. Wirtschaftssystem und Staatswesen gehen Hand in Hand. Die bürgerliche Politik stellt ein Verbindungselement zwischen staatlicher Bürokratie und den Besitzenden dar. Natürlich sind, solange die grundlegenden Eigentumsverhältnisse nicht angetastet werden, Kompromisse möglich; v.a. wenn entschlossene Massenbewegungen diese dem Staat abringen. Daraus jedoch abzuleiten, der bürgerliche Staat wäre vollends von unten zu kontrollieren und dementsprechend der ideale Eigentümer für die Gesellschaft, ist ein gefährlicher Irrtum. Die Bürokratie des bürgerlichen Staates ist systembedingt korrupt. Sie ist nicht durch volle Rechenschaftspflicht sowie die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit aus den Reihen der Arbeiter*innenklasse ('Räte-Demokratie') aufgebaut. Die nachhaltige und notwendig planmäßige Entwicklung der Wirtschaft und all die gesellschaftlichen Entscheidungen können vom System der repräsentativen bürgerlichen Demokratie und seiner bürokratischen Verwaltung nicht geleistet werden.

Ein vollständiger Bruch mit dem Staat, wie wir ihn kennen, ist unumgänglich. Neben der aktiven Einbindung möglichst vieler Betroffener von Orts- und Stadtteil-Level aufwärts muss gerade im Bereich von Exekutive und Militär sichergestellt sein, dass keinerlei eigenständiger Apparat, der sich ideologisch sowie finanziell den Interessen des (ehemaligen) Besitzbürgertums verpflichtet sieht, dem gesellschaftlichen Fortschritt und der vollständigen Umwandlung, die eine soziale Revolution mit sich bringt, im Wege stehen kann. Somit wäre der Staat, dem wir das Vertrauen zugestehen, die vollständige Ablösung des Kapitalismus und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft durchführen zu können, schon „kein Staat im eigentlichen Sinne“ (Engels 1872) mehr. Es wäre hingegen die umfassendste geordnete und transparente Selbstermächtigung der bislang niedergehaltenen Produzent*innen. Die arbeitenden und bislang erwerbsarbeitslosen Massen wären nicht nur aufgrund ihrer Vielzahl in der Lage, die Gesellschaft zu führen; entscheidend sind die vorhandenen und gegenwärtig weitgehend ungenutzten Kompetenzen, die Problemeinsicht und Befähigung für nachhaltige Solidarität. Nur so kann sich das volle Potential von Verstaatlichung bzw. Vergesellschaftung entfalten. Eine sozialistische nicht-profit-orientierte Wirtschaft muss 1) im Gemeineigentum stehen, das 2) räte-demokratisch abgesichert sein und 3) auf regionaler, überregionaler und internationaler Planung und Koordination fußen.

Erscheint in Zeitungsausgabe: