Di 04.05.2010
In Großbritannien fördert New Labour „Glaubensschulen“, in den Medien wird über das Zeigen religiöser Symbole und das Tragen entsprechender Kleidung diskutiert, es gibt den „Krieg gegen den Terror“ und den politischen Islam, in Birma wurde die Bewegung der buddhistischen Mönche „Safranrevolution“ getauft… all das sind Beispiele für die häufige Präsenz von Religion und damit verwandten Themen in den heutigen Schlagzeilen. Wie The Economist kürzlich schrieb: „Heutzutage ist Religion ein unausweichliches Thema der Politik“.
Im 19. und 20. Jahrhundert haben die religiösen Institutionen mehr und mehr an Einfluß und Macht verloren. Die Gesellschaften wurden modernisiert und verweltlicht, und große Teile der Bevölkerung leben inzwischen in Städten. Die organisierte ArbeiterInnenbewegung wurde zu einer ernsthaften Bedrohung für die herrschende Klasse und mit ihr die etablierten prokapitalistischen Kirchenhierarchien.
Die Situation heute ist komplex und widersprüchlich. In Großbritannien haben geschätzte 36 Prozent (17 Millionen Erwachsene) „eine humanistische Grundhaltung“ (British Humanist Association). Eine 2004 durchgeführte Studie ergab, dass 44 Prozent der Bevölkerung an Gott glaubten und 35 Prozent „seiner Existenz widersprechen.“ Aber dennoch machten in der Volkszählung 2001 sieben von zehn BewohnerInnen Großbritanniens ihr Kreuz bei „christlich“, als es um den Glauben ging. Atheismus-Bücher wie The God Delusion (Der Gotteswahn) von Richard Dawkins sind internationale Bestseller. Und doch sind es jeden Sonntag mehr als eine Million Menschen, die an den Gottesdiensten der Church of England teilnehmen. Und dazu gehören auch extrem ausgebeutete Immigranten aus ärmeren Ländern.
Während es auf der Welt mindestens 500 Millionen „erklärte Nichtgläubige“ gibt, zählen die Hauptreligionen 2,1 Milliarden Christen, 1,5 Milliarden Muslime, 900 Millionen Hindus, 376 Millionen Buddhisten und 23 Millionen Sikhs sowie Millionen von Anhängern anderer Religionen und Glaubensrichtungen. Angehörige der vier größten Religionen machten im Jahr 1900 rund 67 Prozent der Weltbevölkerung aus, 2005 war dieser Anteil auf 73 Prozent gestiegen, und wenn sich der aktuelle Trend fortsetzt, wären es 2050 ungefähr 80 Prozent.
Zwar sind organisierte, „traditionelle“ Kirchen in vielen Ländern auf dem absteigenden Ast, aber dafür wachsen andere Kirchen und Religionen schnell. Die katholische Kirche wird von Sex-Skandalen geschüttelt und verliert in vormaligen Hochburgen wie Spanien, Italien und Irland viele AnhängerInnen, so dass die Beteiligung an den wöchentlichen Messen auf unter 20 Prozent gefallen ist. Die Church of England und anglikanische Gemeinden weltweit sind am Punkt der Aufnahme schwuler und lesbischer Priester und bezüglich gleichgeschlechtlicher Ehen gespalten. In den USA sind 35 episkopale (= anglikanische, d.Ü.) Kirchen zur Position von Nigerias Bishop Akinola übergelaufen, der sich offen gegen schwule Ehen ausgesprochen hat.
Gleichzeitig gewinnen evangelikale Kirchen (fundamentalistische Christen, A.d.Ü) viele neue Mitglieder, vor allem in Afrika, Lateinamerika, Westeuropa und Teilen Asiens. Evangelikale, Charismatiker (v.a. Freikirchen, A.d.Ü) und Pentekostale (Pfingstbewegung, A.d.Ü) machten im Jahr 2000 rund 8 Prozent der europäischen Bevölkerung aus, was fast einer Verdoppelung des Anteils in den 70er Jahren entspricht. In den brasiliansichen Favelas breitet sich die Pfingstbewegung rapide aus. In Südkorea wächst sie um 3.000 Leute pro Monat – in Seoul sind 5 Prozent der Stadtbevölkerung Mitglied.
Auch der Islam wächst schnell, vor allem im Nahen Osten, in Asien, im subsaharischen Afrika und in Minderheitengemeinden in den westlichen Industrienationen. Die in Ostlondon geplante „Mega-Moschee“ wird 12.000 Menschen fassen – das fünffache der St Paul’s-Kathedrale.
Etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Russen bezeichnen sich als russisch-orthodox, ein großer Anstieg seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Und: „Wenn die derzeitige Entwicklung anhält, wird China das größte christliche Land der Welt werden – und vielleicht auch das größte muslimische“, schrieb der Economist am 3. November 2007.
Auch in Indien steigt die Anzahl von Christen, teilweise aufgrund von Übertritten ehemals unterdrückter Hindus, den so genannten „Unberührbaren“. Als Reaktion haben mehrere indische Bundesstaaten „Anti-Konvertierungs“-Gesetze erlassen.
Religiöse Ideen haben weiterhin starken Einfluß, auch in den USA, dem fortgeschrittensten kapitalistischen Land. Obwohl der Anteil der US-Bürger, die angeben, „keine religiöse Präferenz“ zu haben, bei 14 Prozent liegt (bei jungen Leuten sind es 20 Prozent), gehen geschätzte 40% der Bevölkerung jede Woche in die Kirche. Ungefähr die Hälfte denkt, ihr Land sei „von Gott besonders gesegnet“, und 48 Prozent meinen, „Gott schuf die Menschen in ihrer derzeitigen Form“ in den letzten 10.000 Jahren.
Des weiteren werden viele Regionen der Welt von religiösen Spaltungen und Konflikten - oder solchen, die mit Religion zu tun haben - heimgesucht. „Von Nigeria bis Sri Lanka, von Tschetschenien bis Bagdad wurden und werden Menschen im Namen Gottes abgemetzelt.“ (The Economist). Sektiererische Spaltungen zwischen schiitischen und sunnitischen Muslime sind im Irak seit der US-geführten Invasion explosionsartig gewachsen und haben enormes Blutvergießen verursacht.
Warum haben Menschen religiöse Überzeugungen?
Manche aufgeklärt-bürgerlichen Kommentatoren finden es unerklärlich, dass Menschen angesichts der Wunder der modernen Wissenschaft und unseres besseren Verständnisses der Natur noch religiöse Überzeugungen haben können, insbesondere fundamentalistische kreationistische Ideen. Aber es gibt viele Faktoren, die auf die Religiösität einwirken, darunter die Gesellschaft, Klasse, Geschichte, „Tradition und Kultur“, Identität und Politik.
Vor über 100 Jahren hat Karl Marx in brillanter Weise den Kern der Sache getroffen, als er Religion beschrieb als „Stoßseufzer der unterdrückten Kreatur, Herz einer herzlosen Welt, Seele in seelenlosen Zuständen.“
In unserer materialistischen Gesellschaft mit ihrem Ellenbogenkapitalismus – einer Welt voller Kriege, Armut, Analphabetismus und wirtschaftlicher Instabilität – bieten die Religionen vielen Menschen ein Schlupfloch. Die sonntäglichen Gottesdienste oder die freitäglichen Gebete bieten gemeinschaftliche Tröstung im Gegensatz zum grassierenden kapitalistischen Individualismus. In den heruntergekommenen Innenstädten und in Kleinstädten sind es häufig die Kirchen, welche den durch jahrzehntelange Sozialkürzungen hart getroffenen Familien konkrete Sozialhilfe leisten.
Die von evangelikalen Kirchen angebotene „Gewissheit“ ist angesichts der unberechenbaren Welt ein Grund für ihr starkes Wachstum. Für Muslime, die in der westlichen Welt leben und täglich mit Bigotterie, Diskriminierung, Repression und Superausbeutung konfrontiert werden, bietet ihre Religion eine Art Gemeinschaft und Identität. Junge muslimische Frauen tragen oftmals Kopftücher, die von der Immigrantengeneration ihrer Eltern noch abgelehnt wurden. In mehrheitlich islamischen Ländern wird der Islam als Trutzburg gegen die Ausbreitung der imperialistischen westlichen Macht und Kultur gesehen.
Der Zuwachs der Religionen, Kulte und Aberglauben ist auch eine Folge des Niedergangs des Organisationsgrades der Arbeiterklasse und der sozialistischen Bewegungen in den letzten Jahrzehnten, insbesondere nach dem Zusammenbruch des Stalinismus. Eine starke sozialistische ArbeiterInnenbewegung kann hingegen der Arbeiterklasse und den Armen eine brauchbare Alternative zu den blinden, anarchischen Kräften des Kapitalismus bieten und sie aus der sozialen, kulturellen und ideologischen Sackgasse des Profitsystems herausführen.
Neue Religionen und Mystizismen, wie die “New Age-Welle”, kamen in den westlichen Industrieländern auf und zeigten, wie groß die Entfremdung vom modernen Kapitalismus bei den Mittelklassen und den ArbeiterInnen ist – die Menschen suchten eine Alternative zum Profitsystem. Sogar im angeblich „kommunistischen“ China haben Kulte wie Falun Gong Wurzeln geschlagen. Diese Sekte traf den Nerv von Millionen ChinesInnen, denen es immer schlechter geht.
Das Wachstum des politischen Islam wird durch die schrecklichen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen verursacht, in denen Millionen Muslime leben. Massenorganisationen der ArbeiterInnen wie die kommunistischen Parteien versagten bei der Durchführung der sozialistischen Revolution im Nahen Osten und in Asien. Der politische Islam – der im kalten Krieg vielerorts durch die westlichen Mächte ermutigt und gefördert wurde und den auch die saudischen Öleinnahmen anheizten, um wahhabitische Auslegungen des Islams voranzutreiben – füllt teilweise die Lücke aus, die das Scheitern der Linken und des arabischen Nationalismus gerissen haben. Er ist eine opportunistische Ausdrucksmöglichkeit für wütende Muslime, welche durch die Armut und Unterdrückung, die sie durch diktatorische Regime und durch den Imperialismus erfahren, gedemütigt werden.
Wie entstehen Religionen?
In den frühesten menschlischen Gesellschaften (Jäger-und-Sammler-Wirtschaften) spiegelten „magisch-religiöse“ Überzeugungen den Versuch wider, Phänomene zu erklären, die einen großen Einfluß auf das Leben der Menschen hatten: Feuer, Wechsel der Jahreszeiten, astronomische Ereignisse, Naturkatastrophen, die Wanderungsbewegungen von Tierherden…
Als sich diese frühen Gesellschaften zu Klassengesellschaften entwickelten, entstand eine privilegierte Schicht von Priestern und Magiern. Besondere Institutionen, Ideen und Moralvorstellungen entstanden, um die neue soziale und wirtschaftliche Ordnung zu rechtfertigen. Religionen wurden zur ideologischen Rechtfertigung für die Verslavung der Mehrheit der Menschen, denen als „Belohnung“ für das auf der Erde erlittene Elend ein Leben nach dem Tode versprochen wurde.
Aber Marx wies auch darauf hin, dass Religion neben der Flucht vor dem Elend und der Armut auf der Welt auch ein Protest dagegen ist. Das Christentum war ursprünglich eine revolutionäre Massenbewegung gegen priesterliche Ausbeuter und das Römische Imperium. Aber die Elemente von Klassenzorn wurden bald entfernt, und als römische Staatsreligion wurde das Christentum dazu benutzt, die unteren Schichten zur Akzeptierung ihrer Lebensumstände zu bringen.
Die protestantische Reformation reflektierte die Erhebung der neuen Kapitalistenklasse gegen den im Niedergang befindlichen Feudalismus, zu dessen Hauptpfeilern die mächtige Kirche gehörte. Dennoch ließen die neuen europäischen kapitalistischen Mächte den Kirchen gewisse Macht und Einfluß, um die arbeitenden Massen dort zu halten, „wo sie hingehörten“. Und im aufkommenden Imperialismus wurde die christliche Ideologie benutzt, um die kolonialen Völker zu unterjochen.
Um ihre Macht und Privilegien zu verteidigen, schlugen sich die Kirchenspitzen offen auf die Seite der Ausbeuter und der Großkapitalisten. Die katholische Kirche unterstützte Mussolini in Italien und Hitler in Deutschland. Evangelikale Kirchen unterstützten in Lateinamerika in den 1970ern und 1980ern verschiedenste rechte Diktatoren.
Aber SozialistInnen erkennen an, dass es einen himmelweiten Unterschied gibt zwischen der Religion der Armen – beispielsweise der armen Muslime im Nahen Osten – und dem „Glauben“ der herrschenden Klassen – beispielsweise der diktatorischen arabischen Regimes. Für die herrschende Klasse dient Religion dem „Teile und Herrsche“ über die arbeitenden Menschen und der Ruhigstellung der Massen.
Religion und der Staat
Die heutigen Vertreter der herrschenden Klasse, wie George Bush und Gordon Brown, identifizieren ganz offen das Christentum mit dem Kapitalismus des „freien Marktes.“ Die etablierte Church of England wurde sogar als „die Tory-Partei beim Gebet“ bezeichnet. Und Bush hat Gott als einen seiner Gründe bezeichnet, den Irak zu überfallen.
Trotz der Tatsache, dass die „Gründerväter“ der USA die Trennung von Kirche und Staat in den Verfassungsrang erheben wollten, versucht Bush mit dem Banner der rechten christlichen Ideologie, seinen Unterstützerkreis zu verbreitern.
Er unterstützte eine Verfassungsänderung, die schwule Hochzeiten in den USA verbieten sollte. Während seiner Präsidentschaft wurden die Finanzhilfen für rechte christliche Organisationen massiv aufgestockt, unter anderem durch die Förderung von „glaubensbasierten“ Schulprogrammen und der bibelkreationistischen „Intelligent Design“-Bewegung. Letzten Juni legte Bush sein Veto gegen ein Gesetz ein, welches der Stammzellenforschung mehr Bundesmittel zur Verfügung gestellt hätte, und berief sich dabei auf seine christlich-“ethischen“ Sorgen – obwohl die Stammzellenforschung die Möglichkeit essentieller wissenschaftlicher Durchbrüche bietet, die zur Heilbarkeit mehrerer Krankheiten führen können. Die mächtige „religiöse Rechte“ der US-Christen wird jetzt auch in anderen Länderen kopiert, zum Beispiel durch die südkoreanische „Neue Rechte“-Bewegung mit 200.000 Anhängern, die einen rechtsgerichteten Präsidentschaftskandidaten unterstützt.
SozialistInnen sind gegen jedwede staatlichen Privilegien für irgendeine Religion, wie zum Beispiel die 26 Sitze im nicht gewählten House of Lords, welche Bischöfen der Church of England zugeteilt sind. Wir fordern die vollständige Trennung von Kirche und Staat und die Rücknahme aller Gesetze, die – wie diejenigen zur Blasphemie – Menschen im Zusammenhang mit Religion bestrafen.
Seit dem 11. September machen dem Großkapital nahestehende Parteien in den westlichen Industrienationen Stimmung gegen Muslime und gegen Immigranten, um sie als Sündenböcke für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme in der kapitalistischen Gesellschaft darzustellen. SozialistInnen kämpfen gegen jede Art von Diskriminierung, ob wegen Religion, Geschlecht, Rasse, Nationalität und so weiter. JedeR sollte das Recht haben, seine/ihre Religion zu praktizieren – oder gar keine. Der Ausgangspunkt für SozialistInnen ist der Kampf um die Einheit der ArbeiterInnen und für Sozialismus. Um die Gesellschaft zu verändern, muss sich die Arbeiterklasse, einschließlich der religiösen ArbeiterInnen, unter einem sozialistischen Programm vereinen.
Gleichzeitig kämpfen SozialistInnen gegen reaktionäre religiöse Führer und Gruppen, insbesondere, wenn diese die Rechte von Frauen und der Jugend attackieren. Die römisch-katholische Kirche wird von einem sehr konservativen Papst geführt, der Verhütungsmittel, Scheidung, Abtreibungen und gleiche Rechte für Schwule und Lesben ablehnt. Der russisch-orthodoxe Patriarch Alexei II. beschreibt Homosexualität als „Sünde und Krankheit“ - und die körperlichen Angriffe auf Schwule und Lesben nehmen in Russland zu. Frauen in „islamistischen Staaten“ wie Saudi-Arabien werdem besonders schlimm unterdrückt.
Religion und der Kampf der unterdrückten Massen
Religion hat soziale Wurzeln und reagiert somit auf die Klassenkämpfe. Die Kirchen können, insbesondere in der neokolonialen Welt, mit hineingezogen werden. In Lateinamerika ist die Befreiungstheologie ein Instrument für die niederen Ränge der katholischen Kirche, sich für die Interessen der Armen und Unterdrückten einzusetzen – in der sandinistischen Regierung im Nicaragua der 80er Jahre waren vier Priester. Für dieses Eintreten werden sie oft von den lokalen Regimes und von der Establishment-freundlichen vatikanischen Hierarchie angegriffen. Heutzutage sind „linkslastige amerikanische Evangelen“ „besorgter über Globalisierung“, kommentiert der Economist, und „Evangelikale unterstützen linke AktivistInnen in einigen der ärmeren Regionen Brasiliens.“
Junge buddhistische Mönche in Burma, die vor allem aus den ärmeren Bevölkerungsschichten kommen, waren bei den Protesten gegen das brutale burmesische Regime im September 2007 in vorderster Front dabei. Teile der buddhistischen Hierarchien wurden hingegen von der Militärjunta ins Regime kooptiert, was „die jüngeren Mönche empörte und entfremdete.“ (International Herald Tribune, 1. Oktober 2007)
Aber die Theologie der Befreiung und andere religiöse Ideologien haben die ArbeiterInnen nicht aus der sozialen und wirtschaftlichen Unterdrückung befreit. Und in den letzten Jahrzehnten sind vormals radikale christliche Organisationen „zunehmend von einer generellen Opposition zum Kapitalismus dazu übergegangen, seine Exzesse einzudämmen.“ (The Economist, 3. November 2007) Auch wenn viele Leute aus vollem Herzen die christlichen „fair trade“- (fairer Handel, A.d.Ü) und „ArbeiterInnenrechte“-Kampagnen unterstützen wollen – es braucht mehr als solche Flickenteppiche, um alle Übel des Kapitalismus zu heilen. Nämlich den Aufbau machtvoller unabhängiger Parteien der Arbeiterklasse und der Armen mit sozialistischen Programmen, welche ArbeiterInnen aus allen Schichten im Widerstand gegen den Kapitalismus vereinen.
Millionen von Muslimen sehen im politischen Islam eine Lösung für Arbeit und Unterdrückung. Er umfasst ein sehr breites Spektrum: Von der Hamas (Islamische Widerstandsbewegung) im Gaza-Streifen über die Hisbollah (Partei Gottes) im Libanon bis zur großkapitalistischen, „postislamistischen“ AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), die in der Türkei an der Regierung ist. Ein extrem entfremdeter Teil junger Muslime, davon einige auch in den westlichen Insutrieländern, orientieren sich sogar am Terrorismus so reaktionärer Gruppen wie Al Qaida. Islamistische Schulen in Pakistan, die Madrassas, welche vom Westen der Heranziehung neuer Generationen von „Jihad-Kämpfern“ beschuldigt werden, sind oftmals die einzige Möglichkeit für arme Familien, ihren Kindern eine reale Ausbildungsperspektive zu bieten.
Aber alle Formen des politischen oder „radikalen“ Islam werden sich als schwere Enttäuschung für die Massen herausstellen, weil sie keinen Bruch mit dem Profitsystem und der Klassenausbeutung darstellen. Die Massen führten Ende der 1970er eine Revolution im Iran durch, welche das verhasste Schah-Regime stürzte – und sahen sie in der Sackgasse der Mullah-Herrschaft enden. Das schreckliche Leben im Afghanistan der Taliban zeigte, dass der fundamentalistische Islam keine Lösungen bereit hält. Auf der anderen Seite des Spektrums setzt die „gemäßigt islamistische“ AKP-Regierung in der Türkei eine schonungslos neoliberale Politik, die vor allem die Armen trifft, durch.
Religion und Sozialismus
Vor neunzig Jahren wurde durch die Russische Revolution der erste ArbeiterInnenstaat geschaffen. Das war nur möglich, weil die Bolschewiki die Masse der vom Zarismus unterdrückten ArbeiterInnen und Bauern – aus verschiedensten Völkern, Millionen von ihnen religiös – für sich gewonnen hatten.
Im Vorfeld der Revolution entwickelte Lenin eine prinzipielle und feinfühlige Herangehensweise an Religion. Er schrieb 1905: „Der Staat darf sich nicht mit Religion beschäftigen, und religiöse Gesellschaften dürfen nicht mit dem Staat verquickt sein. JedeR muss absolut frei sein, die Religion auszuüben, welche er oder sie möchte, oder gar keine.“ Lenin verurteilte auch die „pseudo-revolutionäre Ansicht, dass Religion in einer sozialistischen Gesellschaft verboten würde.“ Solch eine Herangehensweise wäre eine Ablenkung vom politischen Kampf und würde die Religionen nur stärken.
Lenin stellte zwar klar, dass der Marxismus die materialistische Weltsicht vertritt, aber die Reihen der Bolschewiki waren auch für religiöse Mitglieder offen. An erster Stelle standen aber die konkreten Forderungen des Klassenkampfes. Dieser umfassende Ansatz Lenins und der Bolschewiki ermöglichte es der Oktoberrevolution, die religiösen und abergläubischen Bauernmassen aufzuwecken. Geschätzte 15 Prozent der Parteimitglieder in Zentralasien waren islamischen Glaubens.
Der obszöne Reichtum der russischen orthodoxen Kirche, deren Führer sich mit der gnadenlosen kapitalistischen Konterrevolution verbündeten, wurde in Staatshände genommen, um der ganzen Bevölkerung zu dienen. Das durch die noch junge Sowjetunion 1918 erlassene Dekret zur „Freiheit des Bewußtseins und der religiösen Organisationen“ schaffte die enormen Subventionen und Privilegien des zaristischen Regimes für die orthodoxe Kirche komplett ab. Ihr wurde der Status einer freiwilligen Gesellschaft gegeben, die für ihre Aktivitäten Beiträge ihrer Mitglieder annehmen konnte. Das Dekret gab auch vorher verfolgten religiösen Sekten größere Freiheiten. Die Bolschewiki führten auch Bildungskampagnen durch, in denen fortschrittliche Ideen, Kultur und Wissenschaft vermittelt wurden. Aber Lenin und Trotzki hatten immer sehr viel Gespür für die religiösen Gefühle der Armen und Unterdrückten.
Eine sozialistische Gesellschaft würde das Leben der Menschen verändern, und in der demokratisch geplanten Wirtschaft würde es riesige Fortschritte in Wissenschaft und Technik geben. Karl Marx sagte, Religion sei notwendig wegen der „unglücklichen Lebensumstände“ in der Klassengesellschaft. Er glaubte, dass solche Überzeugungen abnehmen würden, wenn die sozialen Bedingungen, die zu ihrem Aufstieg geführt hatten, ausgemerzt seien. Seine Voraussage war, dass in einer sozialistischen Gesellschaft der Hauptgrund für das allmähliche Verschwinden von Religion „die soziale Entwicklung, in welcher Bildung eine große Rolle spielen muss“ sein wird.
Während der stalinistischen Konterrevolution entwickelte sich in Russland aber ein monströser bürokratischer Staatsapparat, und es gab Repressalien gegen die orthodoxe Kirche und Gläubige allgemein sowie gegen wirkliche SozialistInnen. Der freie Austausch der Ideen, eingeschlossen religiöser, wurde nicht toleriert.
Während des zweiten Weltkrieges wurde hingegen eine Allianz zwischen dem Regime und den Spitzen der orthodoxen Kirche geschlossen. Stalin förderte einen plumpen russischen Chauvinismus – und die russisch-orthodoxe Kirche. In den Nachkriegsjahren hielt das stalinistische Regime seine Allianz mit den orthodoxen Hierarchien großteils aufrecht, was die Autorität der Kirche hob, und unterdrückte religiöse Oppositionelle.
Die Wiedereinführung des Kapitalismus in der ehemaligen Sowjetunion in den 1990ern brachte die Rückkehr der Macht und des Einflusses der Hierarchie der orthodoxen Kirche. Präsident Putin stützt sich auch auf die Kirche, um seine Herrschaft zu festigen. Diese versucht derzeit, ihren Religionsunterricht in den Schulen durchzusetzen, und schürt so Spaltungstendenzen im multi-religiösen Russland.
Die Geschichte der internationalen ArbeiterInnenbewegung lehrt uns, dass SozialistInnen im Kampf um die Abschaffung des Kapitalismus alles tun müssen, um alle Arbeiterinnen und Arbeiter einzubeziehen – dies gilt ganz besonders in Ländern, in denen Religionen Masseneinfluss haben. SozialistInnen können mit Gläubigen zusammen für gemeinsame politische Ziele kämpfen.
Heutzutage kämpfen SozialistInnen gegen religiöse Diskriminierung und Ungerechtigkeit, aber an die ArbeiterInnen wenden sie sich vor allem auf Basis gemeinsamer Klasseninteressen und des Kampf für Sozialismus.