Probleme des Aufbaus neuer ArbeiterInnenpartein

Lehren aus der Geschichte, den jüngsten Erfahrungen aus Italien und Deutschland, und die neuesten Entwicklungen in Brasilien.
Peter Taaffe, CWI- England & Wales

Eine der zentralen Fragen der weltweiten ArbeiterInnenbewegung – vielleicht überhaupt die bedeutendste – ist in den meisten Ländern das Fehlen einer unabhängigen politischen Stimme in der Form einer (oder mehrer) MassenarbeiterInnenpartei(en). Der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch der schrecklichen stalinistischen Regimes bedeutete auch das Ende der Planwirtschaft. Das war ein bedeutender Punkt in der Geschichte, ganz besonders für das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse. Gemeinsam mit dem langen Aufschwung der 1990er Jahre und dem härter werdenden neoliberalen kapitalistischen Druck bedeutete dies die Verrottung der Sozialdemokratie und der “Kommunistischen” Parteien. Die früher von Lenin und Trotzki als „bürgerliche ArbeiterInnenparteien“ bezeichneten Organisationen verloren ihre proletarische Basis und wandelten sich endgültig in bürgerliche Parteien. Das bedeutet, dass zum ersten Mal seit Generationen – in Großbritannien sind es mehr als 100 Jahre – die ArbeiterInnenklasse völlig ohne eigene politische Plattform dasteht.

Aber das ist nicht das erste Mal in der Geschichte, das MarxistInnen mit so einer Situation konfrontiert sind. Weder Marx noch Engels glaubten, dass die ArbeiterInnenbewegung allein durch Agitation, Propaganda, oder auch durch ihre mächtigen theoretischen Ideen ein sozialistisches Bewusstsein erreichen würde. Praktische Erfahrungen würden, gemeinsam mit den Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus, die besten LehrerInnen für die ArbeiterInnenklasse sein. Aus diesem Grund bemühte sich Marx, ohne die eigenen Ideen zurückzustellen, die verstreuten Kräfte der ArbeiterInnenbewegung zu vereinigen. Zum Beispiel durch die...

Erste Internationale

Die MarxistInnen schlossen sich mit englischen GewerkschafterInnen und sogar mit AnarchistInnen in der Ersten Internationale zusammen. Marx ging immer von dem bestehenden Niveau der Organisation und des Bewusstseins der ArbeiterInnenklasse aus, während er sich durch seine persönliche Intervention bemühte, sie auf eine höhere Ebene zu heben. Die Erste Internationale meisterte diese gewaltige Aufgabe, aber nach der Niederschlagung der Pariser Kommune und der Sabotage und Störung durch die von Bakunin geführten AnarchistInnen hatte sich die Kraft der Ersten Internationale erschöpft. Diese Erfahrungen waren trotzdem notwendig für den Aufbau der Zweiten Internationale, mit der Entwicklung von Massenparteien, die Aufnahme des Sozialismus durch diese ins Programm, etc.

Engels und die Labour Party

Grundlegend den selben Zugang wie Marx übernahm Engels während des „langen Winterschlafs“ der britischen ArbeiterInnenklasse im späten 19. Jahrhundert. Geduldig propagierte er die Idee einer „unabhängigen Partei der arbeitenden Menschen“, im Gegensatz zu manchen sektiererischen, und selbst „marxistischen“ Gruppen zu jener Zeit. Er stellte sich nicht auf die Basis der „Social Democratic Federation“ welche sich formal zum „wissenschaftlichen Sozialismus“ bekannte und über 10.000 Mitglieder zählte, aber in Wahrheit einen stark ultimatistischen und sektiererischen Zugang zu anderen Kräften, besonders in Bezug auf die Bündelung der Kräfte für eine unabhängige ArbeiterInnenpartei, vertrat. Es gab keinen bedeutenderen Theoretiker in der Geschichte als Marx und Engels und trotzdem beharrte Engels darauf, dass, wenn man das Bewusstsein und die Organisierung der englischen ArbeiterInnenklasse bedenkt, ein ernsthafter Schritt vorwärts mehr bringen würde als ein dutzend Programme. Diese Erkenntnis wurde später durch die Labour-Party mit Massenbasis bestätigt. Sozialistische Massenparteien, mit einem klaren marxistischen Programm und tiefen Wurzeln in der ArbeiterInneklasse können sich nicht entwickeln, wenn die ArbeiterInnen nicht zuvor die Erfahrung ihrer „eigenen“ Partei durchmachen.

Lenin übernahm den selben breiten Zugang zur Labour Party als diese sich gründete, selbst als diese kein sozialistisches Programm hatte. Er argumentierte: „Die Labour Party mag zwar den Klassenkampf nicht anerkennen, aber der Klassenkampf wird die Labour Party erkennen.“ Dies wurde wiederum durch den Linksruck und die revolutionäre Stimmung in Großbritannien nach der Oktoberrevolution bestätigt. Dies drückte sich dadurch aus, dass die Labour Party durch den berühmten „Artikel Vier“ ihrer Statuten ein sozialistisches Gesicht annahm. Dies wurde erst durch den „bürgerlichen Entristen“ Blair 1995 wieder abgeschafft.

Seit damals ist die Degeneration von “New Labour” offensichtlich und nicht wieder rückgängig zu machen. Das stimmt trotz der verzweifelten Hoffnungen von Leuten wie Tony Benn, die auf kleinen Inseln des Reformismus im großen New-Labour-Meer des Neoliberalismus sitzen. Diese Degeneration ist nicht nur auf einer ideologischen Ebene, sondern hat auch ganz reale Auswirkungen auf die Kämpfe der ArbeiterInneklasse. Die Bourgeoisie war sehr erfolgreich damit, den Zusammenbruch des Stalinismus für eine weltweite ideologische Konterrevolution zu nutzen. Ihre enthusiastische Umarmung des Marktes hat es der Bourgeoise erleichtert, ihr neoliberales Programm im Sinne von Thatchers Mantra „Es gibt keine Alternative“ zu verkaufen. Anders als in den 1980ern werden diese Ideen heute von FührerInnen der Sozialdemokratie und dem rechten Flügel der Gewerkschaften begeistert aufgenommen.

Der Platzhirsch

Als es noch bürgerliche ArbeiterInnenparteien gab war die herrschende Klasse zumindest gezwungen, ab und zu über ihre Schulter zu schauen. Diese Parteien versicherten, dass die Bourgeoisie nicht „zu weit“ gehen würde – aber auch nicht mehr. Wenn man heute auf Deutschland blickt, sieht man diesen Punkt bestätigt. Die Gründung der von Oskar Lafontaine geführten „Linken“ hatte trotz aller Unzulänglichkeiten einen gewissen Einfluss auf die SPD. In eine bürgerliche Koalition mit Merkels Christdemokraten verwickelt sah sich die SPD mit einem massiven Verlust an Stimmen und Mitgliederzahlen konfrontiert. Auf der anderen Seite hat die "Linke" der SPD Unterstützung weggenommen und steht in Umfragen jetzt bei etwa 12%. Das hat wiederum dazu geführt, dass sich Teile der SPD gegen einige der „eigenen“ Reformen – im besonderen die brutalen Angriffe auf die Arbeitslosen – stellen, die sie selbst in der Regierung Schröder beschlossen haben.

In Großbritannien hat sich Gordon Brown jetzt Thatchers Mantra zu eigen gemacht. „Was habt ihr für eine Alternative zu New Labour?“ fragt er die Gewerkschaftsspitzen. Sie antworten, in dem sie sich wie ein verzweifeltes Opfer an Browns Bein hängen während er auf die ArbeiterInnenklasse und die Gewerkschaften selbst einschlägt. Wahlen sind in Großbritannien, da sich die drei wichtigsten Parteien kaum mehr von einander unterscheiden, zu einer Farce geworden.

Dies fällt mit der Dominanz einer rechten bürokratischen Kaste an der Spitze der Gewerkschaften zusammen. Die Gewerkschaftsführung hat sich zum Beispiel in den letzten Regionalwahlen und den Kämpfen bei der Post als große Bremse für die Kämpfe der ArbeiterInnen erwiesen. Aber die große Unzufriedenheit von unten wird nicht zu lassen, dass sich diese Situation ohne größere Auseinadersetzung betrieblicher oder politischer Art fortsetzen wird. Ohne einer ernst zu nehmenden linken Alternative, das gilt auch für die Gewerkschaftslinke, wird Brown die Gewerkschaften, und besonders ihre Führung, weiter traktieren, er ist sich ja bewusst das New Labour Platzhirsch ist.

Mit einem ähnlichen Dilemma sieht sich zur Zeit die französische ArbeiterInneklasse konfrontiert, die einen Kampf gegen Sarkozy führt, der versucht ihre Rechte anzugreifen. In den letzten fünfzehn Jahren hat jeder Versuch der Bourgeoisie die ArbeiterInneklasse direkt zu konfrontieren mit einer teilweisen Niederlage oder zu mindest einem Rückzug für sie geendet. Aber durch die Angst getrieben gegenüber ihren europäischen und internationalen kapitalistischen Konkurrenten ins Hintertreffen zu kommen fühlen sie sich gezwungen, dieses Mal Zugeständnisse von den ArbeiterInnen zu erzwingen. Der Magel eines starken Attraktionspunktes in der Form einer MassenarbeiterInnenpartei ist unzweifelhaft ein Faktor, der die französische ArbeiterInnenklasse schwächt.

Sarkozy konnte die letzten Wahlen mit einer Kampagne gegen die eigene Regierung gewinnen, welche seiner Aussage nach einer “bewegungslosen Gesellschaft” vorstehen würde. Er konnte das nur deshalb machen, weil er von Ségolène Royals mittlerweile bürgerlichen „Sozialistischen“ Partei keinerlei Widerstand erwarten musste. Im Wahlkampf legte sie noch Lippenbekenntnisse zur 35-Stunden-Woche ab, nahm diese Aussagen aber gleich nach der Wahl zurück. Selbst 1995, als die französischen ArbeiterInnen den „Juppé-Plan“ der Bourgeoisie besiegen konnte war der Mangel an einer politischen Alternative offensichtlich. Die KapitalistInnen konnten zwar zum Rückzug gezwungen werden, da es aber keine Alternative in Form einer politischen Massenpartei gab, wurden aus den Ereignissen nicht die entsprechenden Schlüsse gezogen.

Lehren aus Brasilien

So eine Situation gibt es in Brasilien nicht, da sich, im Rahmen der Proteste gegen das Lula-Regime, das nach den Wahlen von 2002 stramm nach rechts marschierte, die Partei des Sozialismus und der Freiheit (P-Sol) gründete. Die Gründung und Entwicklung dieser Partei ist von enormer Bedeutung für Brasilien und es gibt auch eine Reihe bedeutender Lehren für die internationale Bewegung. Die Gründung von P-Sol war ein Resultat der Wut der ArbeiterInnen im öffentlichen Dienst über den Betrug durch Lulas Arbeiterpartei (PT) im Dienste des brasilianischen Kapitalismus.

Zuvor hatten Teile der brasilianischen Linken, selbst solche, die sich als trotzkistisch bezeichnen, gehofft, Lula würde eine “linke” Regierung an die Macht bringen. Und das trotz der Tatsache, dass Lula bereits vor den Wahlen seine Kapitulation vor dem „Washingtoner Abkommen“ erklärte – das heißt vor Neoliberalismus, Privatisierung und Prekarisierung der Arbeit im Sinne des internationalen Kapitals niederkniete. Zuvor hatten Blair und Mandelson ihn noch attackiert – jetzt erntete Lula von allen Seiten Lob. Lula stand zu seinem Wort und erwies sich als treues Werkzeug für den brasilianischen Kapitalismus und Imperialismus. Die Angriffe auf die ArbeiterInnen und Angestellten im öffentlichen Dienst führte allerdings zu einer starken Opposition innerhalb der PT. Am stärksten wurde diese von einigen Parlamentsabgeordneten der PT wie z.B. Heloisa Helena, Baba und Luciano Genro ausgedrückt. Sie wurden geschlossen aus der PT ausgeschlossen, da sie gegen Lulas Pensionsreform Widerstand leisteten.

Wenn man bedenkt, dass Lula – im Gegensatz zu Blair – ursprünglich selbst aus der ArbeiterInnenklasse kommt, so wirkt sein Betrug noch um ein vielfaches größer. Die P-Sol organisierte in ihren Reihen bedeutende Teile der kämpferischen und revolutionären brasilianischen Linken. Bei ihrer Gründungskonferenz 2004 zeigte sich die Partei klar links und sozialistisch, da auch ein großer Teil den KonferenzteilnehmerInnen aus einem trotzkistischen Hintergrund kamen. Der Trotzkismus hat eine lange Tradition in Lateinamerika, im besonderen in Brasilien und Argentinien. Dies wurde durch zwei vorherrschende Strömungen reflektiert, nämlich durch das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale (USFI) und den „morenoistischen“ Organisationen, die von Nahuel Moreno geführt wurden. Der „Morenoismus“ und die dazugehörende internationale Organisation, der Liga Internacional de los Trabajadores (LIT – Internationale Arbeiterliga) stellt eine Reaktion auf Mandel dar. Dieser kombinierte linken Radikalismus – zum Beispiel die katastrophale Unterstützung sogenannter Stadtguerillas – mit rechtem Opportunismus, was zum Zusammenbruch des USFI in Brasilien führte. Einge seiner ehemaligen Anhänger nahmen als Minister in Lulas Regierung teil. 

In der morenoistischen Tradition findet man eine Reihe bewundernswerter, selbst-aufopfernder ArbeiterInnen, von denen viele große Opfer gebracht haben. Manche haben sogar mit ihrem Leben für die Sache der ArbeiterInnenklasse gezahlt. Dies trifft besonders auf Brasilien und Argentinien zu. Gleichzeitig drückten die Morenisten ihre Opposition zu Mandels Opportunismus ausgesprochen hart aus. Moreno selbst machte viele gravierende „ultralinke“ Fehler, was sich zum Beispiel an der Überbewertung der MAS in Argentinien in den 1980ern zeigte. Obwohl die MAS zu einem bedeutenden politischen Faktor heran wuchs überbewertete Moreno ihre Fähigkeit, die „Macht zu ergreifen“. Nach seinem Tod machten seine ErbInnen ebenfalls viele Fehler, wobei der schlimmste die Bewertung des Zusammenbruchs des Stalinismus war. Sie stellten diesen einseitig als einen „Fortschritt“ dar. Das tat so nicht einmal die internationale Bourgeoisie. Sie erklärte nur in einem Editorial des Wall Street Journal: „Wir haben gewonnen“.

Das Resultat war das Auseinanderbrechen des Morenoismus in verschiedene Organisationen und Internationalen, die sich gegenseitig wütend um die immer kleiner werdende Basis von morenoistischen AktivistInnen schlugen. Wenn sie mit Meinungsverschiedenheiten in den eigenen Reihen konfrontiert waren diskutierten sie diese nicht – wie es im Komitee für eine ArbeiterInneninternationale (CWI) üblich ist – sondern verhängten im Stile der britischen SWP (in Österreich Linkswende, Anm. d. Übersetzers) Ausschlüsse, oder besser „Einladungen die Organisation zu verlassen“.

Schnelle Erfolge

Die meisten derjenigen, die die P-Sol gründeten kamen aus einem trotzkistischen Hintergrund und waren vorher in der PT organisiert. Bei den Präsidentschaftswahlen 2006 bekam Heloisa Helena, die aus der Tradition des Mandelismus kommt, als Alternative zu Lulas angeblicher „Linken“ fast sieben Millionen Stimmen. Dieser spektakuläre Erfolg einer so jungen Partei – sogar noch erfolgreicher als die PT bei den ersten landesweiten Wahlen, an der sie 1982 teilnahm – war eine klare Bestätigung für die Position von Socialismo Revolucionario (SR - Sektion des CWI in Brasilien) und das CWI, die immer für eine neue Massenpartei argumentiert hatten. Konsequenterweise waren die Mitglieder von SR die Pioniere beim Aufbau der P-Sol – am Anfang stellte SR der P-Sol ihre Ressourcen und Büros zur Verfügung – und hatten auch eine Vertretung im Nationalkomitee (Bundesvorstand) der Partei. Außerdem sicherte die neue Partei allen Plattformen und Tendenzen ihre Rechte zu, was ihre klar demokratische Struktur garantierte. 

Diese Partei wurde jedoch nicht, ähnlich wie die “Linke” in Deutschland, zu einer Zeit des verschärften Klassenkampfes gegründet, wie es zum Beispiel die Situation bei der Gründung der PT in den 1980ern oder der COSATU, des zu Beginn sozialistischen und revolutionären südafrikanischen Gewerkschaftsbundes, der Fall war. Das drückte der P-Sol einen gewissen Stempel auf: sie war und bleibt eine kleine MassenarbeiterInnenpartei. Die neuen Massenparteien, die nach der Oktoberrevolution gegründet wurden waren größtenteils Abspaltungen von den alten Organisationen der ArbeiterInnenklasse, der Sozialdemokratie, und nahmen die Mehrheit der aktiven ‚ArbeiterInnen der alten Parteien mit. Selbst dann bekam die an Mitgliedern geschrumpfte Sozialdemokratie immer noch eine gewisse Unterstützung von den weniger aktiven ArbeiterInnen. Bei Zeiten war es sogar die Mehrheit der ArbeiterInnen, die sich aus historischer Trägheit und mangelndem Bewusstsein über die Notwendigkeit einer neuen revolutionären Partei, an die alten Organisationen klammerten. Das erforderte, wie Lenin und Trotzki argumentierten, die Taktik der Einheitsfront um im Rahmen der Bewegung jene ArbeiterInnen, die noch an der Sozialdemokratie hingen zu erreichen und zu beeinflussen.

Auf jeden Fall entwickelten sich die neuen Formationen, die Kommunistischen Parteien, in einer revolutionären Periode, waren meist sehr groß, hatten eine aktive Basis und tiefe Wurzeln in der ArbeiterInnenklasse. Dies trifft auf die „Linke“ in Deutschland nicht zu, da sie zu diesem Zeitpunkt vor allem ein Wahl-Phänomen ist. Besonders in Berlin und Ostdeutschland war nur eine kleine Zahl an ArbeiterInnen und Jugendlichen bereit, sich der Partei anzuschließen. In diesen Gegenden wird die Linke misstrauisch betrachtet. Das kommt aus ihrer Verbindung mit dem Stalinismus und ihre Koalitionen in Berlin und anderen Gebieten, wo sie Angriffe auf den Lebensstandard der ArbeiterInnenklasse durchführt. Die P-Sol war in der ersten Zeit ihres Bestehens anders. In ihr waren sowohl eine Reihe trotzkistischer Organisationen als auch eine bedeutende Schicht „unabhängiger“ ArbeiterInnen organisiert.

Gleichzeitig verlor die Regierung Lula einen großen Teil ihrer Basis, in dem sie sich weiter nach rechts entwickelte. Der von der PT unterstützte Präsident des brasilianischen Senats, Renan Calheiros wurde wegen eines Korruptionsskandals zum Rücktritt gezwungen. Es wird behauptet, dass er Zahlungen an eine Journalistin arrangierte, mit der er eine Affäre und eine drei Jahre alte Tochter hatte. Brasilien ist an Korruption gewöhnt, was in bürgerlichen Parteien bekannterweise an der Tagesordnung ist. Aber Renans Fehlverhalten war „ein Skandal der zu weit ging“. Der öffentliche Druck zwang Lula zum Handeln und Renan wurde aus dem Amt entlassen.

Lulas Regierung wurde seit Mai 2005 von Anklagen wegen Korruption erschüttert. Ursprünglich fügten diese Skandale ernsthaften Schaden zu, aber Korruption ist in Brasilien so weit verbreitet und so alltäglich, dass die Menschen von ihren PolitikerInnen gar nichts anderes mehr erwarten. Gegen etwa 30 % der Kongressabgeordneten sind Strafverfahren anhängig. Viele bewerben sich nur deshalb um ein Mandat, um der Verfolgung durch die Behörden zu entgehen! Einer Studie zur Folge liegen die Kosten für Korruption bei 0,5% des Bruttoinlandsproduktes. Es gab eine Zeit, in der die PT anders wahrgenommen wurde, mit der sozialistischen Vision von einer neuen Gesellschaft. Jetzt hat sie wie ihre Gegenstücke, die Spitzen der ehemals sozialdemokratischen und ehemals kommunistischen Parteien, den Kapitalismus akzeptiert und auch die damit einhergehende Philosophie angenommen.

Die brasilianische Bourgeoisie hat sich mit der Regierung Lula versöhnt, da diese ihren Job – die Profite der Kapitalisten zu verteidigen – richtig macht. Das Kreditwesen und die Binnennachfrage boomen, während Millionen armer BrasilianerInnen „zum ersten Mal in ihrem Leben Konsumenten werden“, so schreibt die Financial Times. Was passieren würde, wenn die US-amerikanische Wirtschaft in eine Krise kommen würde, was Rückwirkungen auf China, einen bedeutenden Absatzmarkt für brasilianische Produkte, hätte, ist eine andere Frage. Selbst eine Verlangsamung des brasilianischen Wirtschaftswachstums wäre für Millionen eine Katastrophe, besonders für die Armen, welche sich von der Regierung Luls eine Erleichterung ihres tagtäglichen Alptraums erhofft hatten. Die Landwirtschaft, der Dienstleistungssektor und selbst die Industrie haben auf der Basis des weltweiten Aufschwungs ein Wachstum erlebt. Auch der Binnenkonsum stieg durch Verbesserungen bei den Mindestlöhnen und der sozialen Sicherung an. Dazu kommt eine „Kredit-Injektion“ in die Wirtschaft, die sich seit 2004 verdoppelt hat. Das sind etwa 35% des BIP. Eine Verlangsamung der Weltwirtschaft oder gar eine Rezession hätten verheerende Auswirkungen auf die Millionen, deren Hoffnungen durch das derzeitige Wachstum und die Schaffung neuer Arbeitsplätze – wenn auch schlecht bezahlter – genährt worden sind.

Die Regierung behauptet, es wären über 1,2 Millionen neue Jobs in den zwölf Monaten bis zum Juli 2007 geschaffen worden. Das bedeutete, dass die ärmsten Schichten der Bevölkerung und auch Teile der ArbeiterInnenklasse von der Lula Regierung profitiert haben. Konsequenterweise ist deshalb die Unterstützung der Regierung bei Wahlen noch nicht ganz verdampft. Die Bourgeoisie unterstützt Lula als die „beste Option“ und die Mehrheit der ArbeiterInnen und armen hat ihre Unterstützung für die Regierung noch nicht zurückgezogen. Auf der anderen Seite fühlt vor allem die Mittelklasse die Krise am akutesten, besonders in der Flugzeugbauindustrie. In ihrer Mehrheit steht sie gegen die Regierung. Die wirtschaftliche, soziale und politische Situation ist weiterhin sehr unbeständig. 

Um sich von ihrer wichtigen, aber doch beschränkten Basis, von 6% der WählerInnenstimmen weiterzuentwickeln, sollte sich die P-Sol so positionieren, dass sie die „schweren Reserven“ der ArbeiterInnenklasse, die sich noch immer vorsichtig hinter Lula scharen, gewinnen kann. Diese werden Lula verlassen, sobald Brasilien von den anstehenden sozialen und wirtschaftlichen Erschütterungen betroffen sein wird. Wenn die P-Sol es aber nicht schafft, die entsprechende Politik – Strategie und Taktik – zu ergreifen, ist es nicht sicher, ob sich diese Schichten ihr dann auch zu wenden werden.

Die Koalitions-Falle

Die Entwicklung der Rifondazione Communista (PRC) in Italien enthält viele Lehren und Warnungen an die P-Sol in Brasilien. Die Gründung der PRC bedeutete für die italienische ArbeiterInnenklasse einen gewaltigen Fortschritt, organisierte aber am Anfang nur die fortgeschrittenste Schicht der AktivistInnen. Die Partei versuchte besonders unter der Führung von Bertinotti nicht ernsthaft, die Basis der Linken Demokraten (DS – die ehemals kommunistische Partei) zu untergraben, selbst als deren Führung sich stark nach rechts entwickelte. Einer der Gründe für diesen Fehler war die unsichere Position der PRC, besonders ihre Orientierung auf Wahlen auf Kosten einer Politik des Klassenkampfes. Mehr noch – anstatt den unnachgiebigen Klassenkampf der ArbeiterInnen gegen den Kapitalismus zu unterstützen, rutschte die PRC in den Koalitionssumpf ab. Sogar bevor der „nationale Block“ gebildet wurde, teilte sich die PRC auf regionaler Eben bereits die Macht mit bürgerlichen Parteien. Das führte logischerweise zu Angriffen auf ArbeiterInnen und Gewerkschaften auf regionaler Ebene, wofür in den Augen der ArbeiterInnen die PRC verantwortlich war.

Von da weg war es kein großer Schritt hin zur Koalition mit den bürgerlichen Parteien um Prodi auf Bundesebene. Ursprünglich war die Unterstützung für die „Olivenbaumregierung“ von 1996 „von außerhalb“. Sogar ohne Ministerposten und dem dazu gehörenden Pomp erntete die PRC einen großen Teil der Wut der Menschen für ihre Zusammenarbeit bei den Gesetzen gegen ArbeiterInnenrechte und Gewerkschaften. Dies bereitete der Rückkehr Berlusconis den Weg. Jetzt sind sie in Italien schon weiter gegangen und haben sich auch formal der Prodi-Regierung angeschlossen. Diese greift wie Lula in Brasilien die Pensionen, das Bildungssystem und alle bisherigen Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse an. Unter dem Kommando von Bertinotti, dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses, häutet sich die PRC als spezifische ArbeiterInnenpartei um zu einem „roten Ding“ zu werden, was eine Maskerade für die Gründung einer weiteren liberalen, kapitalistischen Partei ist.

Der Prozess in der PRC ist noch nicht abgeschlossen, ist aber eine große Warnung an die P-Sol und alle neuen Organisationen der ArbeiterInnenklasse, die mit einer Koalition liebäugeln. Ohne einem klaren Programm werden sich neue Formationen ersticken, noch bevor sie zu einem Anziehungspunkt für weite Teile der ArbeiterInnenklasse werden können. Die P-Sol hat diesen Punkt noch nicht erreicht. Aber der starke Druck der bürgerlichen Gesellschaft sich „anzupassen“ und Wahlergebnisse der Intervention bei Streiks und Klassenkämpfen vorzuziehen, hat bereits gewissen Einfluss auf die Führung der P-Sol gewonnen.

Rechtsentwicklung

Während des Präsidentschaftswahlkampfes wurde diese Tendenz besonders durch das Herunterspielen der “radikalen” Politik, und besonders durch die Spitzenkandidatin Heloisa Helena, ausgedrückt. Das wurde gemacht um eine möglichst hohe Stimmenanzahl zu erreichen. Sie sprach sich sogar gegen Abtreibungen aus, was sie jedoch in Konflikt mit der Mehrheit der P-Sol Mitglieder brachte. Heloisas Position traf auf den erbitterten Widerstand der Mehrheit der Delegierten auf dem letzten Kongress der P-Sol. Aber eine Gruppe um sie herum, besonders Leute wie die Parlamentsabgeordnete aus Rio Grande Del Sul, Luciana Genro, versuchen die P-Sol in Richtung einer „praktischeren“ Politik zu treiben. Sie werden von Flüchtlingen aus der PT unterstützt, die jetzt die Reihen der P-Sol füllen.

Gemeinsam haben sie erfolgreich die Führung der P-Sol nach rechts gedrängt, was auf der anderen Seite wieder zum Aufbau einer linken Opposition geführt hat, in der auch Socialisomo Revolucionário arbeitet. Diese Opposition hat auf dem letzten P-Sol Kongress fast ein Viertel der Stimmen erhalten. SR versucht davon ausgehend eine Einheitsfront der besten linken Kräfte – einen „Block der Vier“ – innerhalb der P-Sol aufzubauen. Das hat SR mit anderen, über ganz Brasilien verstreuten Gruppen zusammengebracht, die alle aus einem trotzkistischen Hintergrund kommen.

Es gibt einige historische Parallelen zu dieser Entwicklung. Nach Hitlers Sieg 1933, gegen den die Kommunistische Partei keinen ernsthaften Widerstand geleistet hatte, kam es zu einer tiefen Vertrauenskrise innerhalb der bestehenden Internationalen. Trotzki betonte damals die Notwendigkeit einer neuen – der „Vierten“ Internationale. Daraus ergab sich der von Trotzki als „außerordentlich wichtig“ bezeichnete „Block der vier Parteien“. Diese vier Parteien waren die trotzkistische Internationale Linke Opposition, die deutsche Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) und zwei niederländische Parteien, nämlich die Revolutionäre Sozialistische Partei (RSP) und die Unabhängige Sozialistische Partei (OSP). Sie unterzeichneten eine Deklaration über eine „neue Internationale“ im Sinne der Prinzipien von Marx und Lenin.

Dieser frühe “Block der Vier” setzte sich höhere Ziele als der jetzige “Block der Vier” in der P-Sol, aber die grundlegenden Fragen sind die selben: Wie maximiert man das Potenzial der Linken in der ArbeiterInnenbewegung. Der historische Block wurde wegen der Schwäche der Führung der nicht-trotzkistischen Parteien nie in eine gefestigte Organisation umgewandelt. Die Organisationen im Falle von Brasilien stehen sich politisch deutlich näher und es bestehen, wenn politische Klarheit gefunden wird - alle Chancen auf die Bildung einer bedeutenden politischen Kraft innerhalb der P-Sol.

Die P-Sol zeigt, wie auch das Baispiel der frühen “Experimente” der PRC in Italien, dass anhaltender Erfolg und Mitgliederwachstum nicht garantiert ist, wenn die sich die neue Partei nach rechts entwickelt. Aber die Linke ist in der P-Sol bedeutender und hat mehr Potenzial als in der PRC. Die „trotzkistischen“ Organisationen haben in der PRC seit ihrer Gründung nämlich konsequent eine grundlegend falsche Politik verfolgt. Das USFI war, vom alten Livio Maitan geführt, von Bertinotti nicht mehr zu unterscheiden – lange Zeit waren sie sogar beide in der selben „Fraktion“ und konnten logischerweise auch keine dauerhafte Unterstützung aufbauen. Andere haben eine ultralinke, rein propagandistische Rolle als allwissende, außenstehende KommentatorInnen eingenommen.

Brasiliens “Block der Vier”

Die aktuell in der P-Sol organisierte linke Opposition ist deutlich stärker. Die Einheitsfront der Organisationen, der „Block der Vier“ in der P-Sol, schließt GenossInnen von Alternativa Revolucionária Socialista (Revolutionäre Sozialistische Alternative ARS), aus Belem im Norden des Landes ein. Eine weitere Organisation in Sao Paulo ist CLS (Kollektiv Sozialistische Freiheit), das sich aus ArbeiterInnen mit viel Erfahrungen im Klassenkampf sowohl in Sao Paulo, als auch in Minas Gerais, einem sehr wichtigen Staat, wo die CLS eine starke Basis in der sozialen Bewegung, vor allem in der Landlosenbewegung und Druckereiarbeitern hat, zusammensetzt. Zwei weitere Organisationen nehmen an dem Block teil. Wir hoffen, dass sich der Block mit einer Serie von Treffen und öffentlichen Veranstaltungen konsolidiert und damit später weitere oppositionelle Gruppen in der P-Sol anziehen kann. 

Zur selben Zeit vollzieht sich eine Umgruppierung der marxistisch-trotzkistischen Linken. Bei ihrem letzten Kongress, an dem auch RepräsentantInnen der anderen Gruppen im Block teilnahmen, setzte sich SR die Aufgabe, gemeinsam mit diesen GenossInnen eine numerisch stärkere und deutlich einflussreichere marxistische Kraft aufzubauen. Zur Zeit gibt es wenige frische Schichten von ArbeiterInnen in der P-Sol. Man wird dieses Problem aber nicht dadurch lösen können, dass man sich nur auf parteiinterne Aktivitäten beschränkt. Das wichtigste ist die Teilnahme an den stattfindenden Klassenkämpfen. Aber die P-Sol hat ihr Potenzial noch nicht ausgeschöpft. Der Zusammenbruch der PT und des „Lulaismus“ wird die Hoffnungen vieler Menschen von der PT auf die P-Sol übertragen. Eine der Hauptaufgaben einer neuen ArbiterInnenparteien ist, dass sie der ArbeiterInnenklasse und der Linken eine Möglichkeit bietet ihre zerstreuten Kräfte zu eingen.

Solche neuen Parteien sind eine Arena für Diskussionen und Debatten und das Ausarbeiten einer Politik, die der ArbeiterInnenklasse in der Zukunft den Erfolg sichert. Die Existenz eines lebendigen marxistisch-trotzkistischen Rückgrats ist lebensnotwendig für den Erfolg solcher Parteien. Ohne dieses Rückgrat können solche Parteien, die P-Sol inkludiert, stagnieren, schrumpfen und von der politischen Bühne verschwinden, selbst wenn sie anfänglichen Erfolg hatten. Das scheint in Brasilien unwahrscheinlich, wenn man den Einfluss des Marxismus auf die Partei bedenkt.

Die Aufgabe für MarxistInnen in Brasilien, die sich so auch MarxistInnen auf der ganzen Welt stellen wird, ist in den Prozess des Aufbaus der P-Sol zu intervenieren, sie von Reformismus und Zentrismus – revolutionär in Worten aber reformistisch in den Taten – zu säubern, in dem die besten Kräfte der Linken in der P-Sol zusammengeführt werden. Der erste Schritt zu diesem Ziel ist der Aufbau einer mächtigen trotzkistischen Organisation, mit klarer Perspektive, Taktik, Strategie und Organisationsform.

Der Kapitalismus bewegt sich auf die Krise zu, das bedeutet aber nicht automatisch, dass die Linke daraus gewinnen wird. Damit das möglich wird müssen neue MassenarbeiterInnenparteien aufgebaut werden. Die Entwicklung der P-Sol muss von MarxistInnen auf der ganzen Welt auf das genaueste beobachtet werden, um damit für ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern die Lehren zu ziehen.

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