Ist Chile die Lokomotive der lateinamerikanischen Wirtschaft?

Tiger in Lateinamerika?
Michael Gehmacher

Chile Anfang der 70er Jahre: Die regulär gewählte Volksfrontregierung unter Allende geht  daran, das soziale Elend der ArbeiterInnenklasse und der verarmten Schichten zu bekämpfen und amerikanische Konzerne zu verstaatlichen. 1973 putscht der Militärchef Pinochet mit Unterstützung des CIA den Traum vom parlamentarischen Weg zum Sozialismus hinweg und verwandelt das Land in eine Folterkammer. Wirtschaftlich wird Chile zum Versuchsfeld des Neoliberalismus.
Pinochets Wirtschaftsberater war Milton Friedman. Dieser Ökonom empfahl eine wirtschaftliche Roßkur,  deren Auswirkungen die arbeitende und verarmte Bevölkerung zu erleiden hatte. Binnen kürzester Zeit kam es zu einer radikalen Veränderung der Einkommensverteilung. Unter der Regierung Allende, der Unidad Popular hatten die Angestellten und ArbeiterInnen 1972 einen Anteil von 62,9 % am Volkseinkommen, 37,1 % gingen an die Besitzenden. Nach einem Jahr Militärdiktatur sank der Anteil der Lohnabhängigen auf 38,2 % (1974), während der Anteil der Besitzeinkommen auf 61,8% gestiegen ist. Friedman bezeichnet in seinen Büchern jeden staatlichen Eingriff in die „freie Marktwirtschaft” als den Beginn von staatlicher Willkür und Diktatur. Das hinderte ihn allerdings nicht, mit einem hochgerüsteten und allgegenwärtigen Polizeistaat gemeinsame Sache zu machen. Schließlich müsse ja die Macht der Gewerkschaften gebrochen werden ...

Der Diktator im Hintergrund

Obwohl Pinochet nach einem Referendum als Staatschef zurücktreten mußte, bleibt sein  Erbe in vielen Bereichen weiter bestehen. Der General befiehlt weiterhin die Streitkräfte. Und auch an der neoliberalen Politik hat sich nichts geändert. In den westlichen Medien wird das als Fortdauern des „chilenischen Wirtschaftswunders“ gefeiert. Tatsächlich befindet sich Chile - nach depressiven Entwicklungen in den 70er Jahren - nun in einer Phase des Wirtschaftswachstums.  Chile ist nach Argentinien das zweit- »reichste« Land Latein Amerikas. Vom Fernsehen bis zum öffentlichen Verkehr, fast alles, was ein Staat privatisieren kann, ist in Chile privatisiert. Offiziell sind »nur« 4 Prozent der Bevölkerung arbeitslos. Die Investitionen aus dem Ausland nehmen zu  (so will z.B. der deutsche Krupp-Konzern ein großes Stahlwerk errichten), und im »Dienstleistungsbereich« entstehen ständig neue Jobs.

Schattenseiten des Wirtschaftswunders

Angesichts der offiziellen Zahlen, auf denen die Propaganda der  Konzentrationsregierung (Christdemokraten, Sozialisten und die Chilenische Zentrumspartei PPD) aufbaut, könnte man meinen, Chile strebte einer heilen Zukunft entgegen. Doch die Schattenseiten des »chilenischen Wirtschaftswunders« sprechen eine andere Sprache:
Die Mindestpension liegt bei 1.500,- Schilling, der Durchschnittslohn eines/r ArbeiterIn beträgt  4.700,- Schilling, 50 Prozent aller Beschäftigten verdienen noch weniger.  Dem stehen Lebenshaltungskosten gegenüber, die fast so hoch wie in Österreich sind.
Trotz einer Periode langanhaltenden Wachstums in den 80er Jahren ist die Einkommensverteilung sehr ungleich geblieben. Vom Aufschwung profitierten die oberen Einkommensschichten. Die offiziell (!) als arm Gezählten fielen nur von 44% 1987 auf 40,1% 1990. Im selben Jahr erhielten die ärmsten 20% der Bevölkerung ganze 4,1% des Volkseinkommens.

Von der Hand in den Mund

Was der „weltweite Trend“ zur „Dienstleistungsgesellschaft“ wirklich bedeutet, zeigt sich  hier drastisch: Kinder, die im Supermarkt arbeiten und nur Trinkgeld  bekommen, die  »Kleinunternehmer«, die mit Süßigkeiten an jeden vorbeifahrenden Bus springen, um ihre Waren anzubieten und die Autowäscher, die an den großen Kreuzungen stehen, um ein  paar Peso-Münzen zu ergattern. Sie alle leben von der Hand in den Mund.
Die Gesundheitsversorgung besteht aus freiwilligen Versicherungen bzw.  Krankenkassen auf betrieblicher Ebene oder verschiedenen Gutscheinen, die man sich kaufen muß und die man beim Arzt  oder im Krankenhaus wieder einlöst - wer krank ist, zahlt (drauf)!
Der öffentliche Verkehr ist total privatisiert. In der Hauptstadt  Santiago kostet  jede Busfahrt  5,- Schilling, wobei man durch die Größe der Stadt (achtmal so groß wie Paris) schon mit 2 bis 3 Fahrten rechnen muß, um vom Wohnort zum Arbeitsplatz zu kommen. Sozialtarife oder Freifahrten für SchülerInnen oder StudentInnen gibt es nicht. In dieser Situation nehmen  die Attacken auf die chilenische ArbeiterInnenklasse weiter zu. Bergwerksschließungen stehen auf der Tagesordnung, die spärlichen Sozialleistungen werden jetzt auch noch gekürzt. All das in einer Situation, in der die Allmacht des Militärs nach wie vor spürbar ist. Da Generäle oder rechte Politiker mit einem neuen Militärputsch drohen werden lästige Präsenzdiener heimlich erschossen.

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