Gute Realwirtschaft und böses Finanzkapital?

Warum eine Zähmung der Finanzwirtschaft nicht genügt
Helga Schröder

Als Ursache der Krise wird oft wild gewordenes Finanzkapital und „gierige“ Spekulation gesehen. Viele meinen, man müsse Spekulation eindämmen und das „Zocken“ beenden, um die Krise zu bewältigen. Ankurbelung der Realwirtschaft, Regulierung der Finanzwirtschaft wird gefordert. Doch hier herrscht ein Irrtum: Spekulative Blasen und das Aufblähen des fiktiven Finanzkapitals sind nicht Ursache der Krise, sondern deren Auswirkung.

Rudolf Hilferding erkannte in seinem 1910 publizierten Werk „Das Finanzkapital“ die steigende Rolle der Banken und Herausbildung von Monopolen und analysierte die Verflechtung der Banken mit der Industrie, ebenso wie Lenin in seinem Werk „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“. Auch heute sind Industrie- und Finanzkapital miteinander verflochten, oft in den selben Unternehmen. Rechtsextreme und Nazis trennen in „schaffendes“ und „raffendes“ Kapital, mit antisemitischer Begründung. Rechtspopulisten verurteilen die Auswüchse, indem sie zwischen „gutem“ (einheimischem, produzierendem) und „bösem“ (ausländischem Finanz-)Kapital unterscheiden.

Auch manche Linke trennen strikt zwischen Finanz- und Realwirtschaft. Mit Regulierung der Finanzwirtschaft erreicht man keinen „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“. Der Bankensektor ist nicht an sich „parasitär“, er ist im Kapitalismus auch für die Realwirtschaft unerlässlich und die Aufblähung der Finanzwirtschaft ist eine logische Entwicklung des Kapitalismus. Marx hat das bereits analysiert und mit dem Fieber verglichen, das Symptom und nicht Ursache einer Krankheit ist. Es spricht natürlich nichts dagegen, das Fieber mit Transaktionssteuern und Finanzmarktregulierung zu senken. Doch das bringt nur vorübergehende Linderung. Der Virus namens Kapitalismus bleibt. Das System Kapitalismus ist von Beginn an und von Grund auf widersprüchlich, weil es nicht um die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse, sondern um Profite geht, und führt deshalb immer wieder zu Krisen, auch wenn es eine Zeit lang so aussieht, als würde es gut funktionieren. Allein im 20. Jahrhundert gab es zahlreiche Krisen mit fatalen Folgen für viele Menschen. Nach dem 2. Weltkrieg funktionierte der Kapitalismus im Wirtschaftsaufschwung scheinbar gut. Das Währungssystem von Bretton Woods mit Golddeckung des Dollar und Währungsbindung an den Dollar schien Stabilität zu bedeuten und in den 50er und 60er Jahren konnten viele (nicht alle!) ihren Lebensstandard verbessern. Aber der Grund dafür war nicht das Funktionieren des Kapitalismus, sondern die Notwendigkeit des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg. Bereits ab den 70er Jahren kam es erneut zu Krisen (Japankrise, Asienkrise, Russlandkrise, Mexikokrise, Argentinienkrise etc. bis hin zur aktuellen, seit den 30er Jahren größten Krise).

Einer der systemimmanenten Widersprüche ist der zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung. Diejenigen, die produzieren, bekommen nur einen Teil der von ihnen geschaffenen Werte und es kommt zu einer Überproduktion, im fortgeschrittenen Stadium zu einer Überakkumulation: Es häuft sich Kapital an, das nicht mehr gewinnbringend investiert werden kann. In diesem Stadium befinden wir uns schon länger. Ende der 70er Jahre öffnete sich die Schere zwischen Profit- und Investitionsquote, die Überakkumulation wurde schlagend. Als Reaktion darauf begann ab den 80er Jahren eine Phase des Monetarismus/Neoliberalismus. Um neue Anlagemöglichkeiten zu finden, wurden Bereiche, die bisher ohne Gewinnziel staatlich betrieben wurden, privatisiert und Finanzmärkte dereguliert, um Kapital in neue Bereiche wie Pensionen, Gesundheit, Infrastruktur und Bildung profitträchtig investieren zu können. Neue Finanzinstrumente entstanden und blähten sich auf. Die Überakkumulation ist derzeit so vorangeschritten, dass die großen Gesellschaften in den USA, der Eurozone, Großbritannien und Japan auf einem Berg von etwa 7,75 Billionen Dollar an Kapital sitzen. Die Investitionsrate ist auf einem Tiefststand seit 60 Jahren. Das Unternehmensvermögen in der Eurozone beträgt zwei Billionen Euro, zuzüglich 750 Milliarden Pfund in Großbritannien (Wall Street Journal). Eine Besteuerung dieses Kapitals mit 50 % würde sofort dringende Investitionen in Bildung, Sozialleistungen, Gesundheit ermöglichen und die ständige Frage, woher denn das Geld kommen soll, zum wiederholten Male beantworten. Die Finanzwirtschaft entsteht also nicht aus „Gier“, sondern aus Mangel an profitablen Investitionsmöglichkeiten aufgrund der dem Kapitalismus immanenten Widersprüche und sie kommt ohne Realwirtschaft nicht aus. Denn Geld arbeitet nicht.

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