Europa: Die Rückkehr des schwarzen Freitags!

Vor dem dem Abschwung?
Sonja Grusch

Die "Nichtraunzerzone" lautet das Motto einer Kampagne verschiedener österreichischer Unternehmer. Als Hauptursache für
die Probleme der Wirtschaft wird das Nörglen und Raunzen der Bevölkerung - also die angeblich falsche Einstellung der ArbeitnehmerInnen - erkannt. Keinen anderen Ansatz verfolgen im Grunde die großen Wirtschaftsforschungsinstitute -
wie z.B. das IHS und das WIFO in Österreich - oder die Regierungen der verschiedenen EU-Staaten: Jede Kraft, die auf
ökonomische und soziale Probleme hinweist, wird sofort des "Krankjammerns" bezichtigt. Für die Millionen Arbeitsloser,
für die Menschen, die auch in den reichen Städten Europas in Armut leben, ist aber nicht "alles gut". Im Gegenteil: Selbst für jene, die noch Arbeit, Wohnung und Einkommen haben nimmt der Kampf um eine gesicherte Existenz immer härtere Formen an.
Die europäische Wirtschaft befindet sich, ebenso wie die Weltwirtschaft in einer angespannten Situation. Seit Anfang der 90er Jahre brechen die Widersprüche des Kapitalismus an immer neuer Stelle auf - in Form der Asienkrise, der Russlandkrise, der Krise in Lateinamerika und der Türkei. Auch die Konjunktur in den USA - lange Zeit die Lokomotive der Weltwirtschaft - stagniert. Nur Zweckoptimisten sehen die Lösung - wie schon in den letzten 20 Jahren - auch heute noch in den "neuen, aufstrebenden Märkten". Doch ob diese nun Südkorea, Argentinien, Tiger oder Drachen hießen, das Wirtschaftswunder zerplatzte in all diesen Staaten nach wenigen Jahren des - überhitzten - Wachstums wie eine Seifenblase. Tatsächlich drücken auch heute die überschwänglichen Hoffnungen auf Regionen wie China vor allem das Unvermögen der großen Wirtschaftsblöcke - USA/NAFTA, Japan/Südostasien und die EU - aus, der Weltwirtschaft neue Impulse geben zu können.
Seit Juli 2000 wurden als Folge der Einbrüche an Börsen und Aktienmärkten sowie der Serie von Bilanzfälschungen weltweit 11 Billionen Dollar an Börsenkapitalisierung vernichtet, vier Billionen davon in Europa. Auch wenn hier viel fiktives Kapital, "Spielgeld" betroffen war, so hat der Niedergang an den Börsen doch sehr reale Auswirkungen auf Produktion und Handel.
Der Welthandel hat sich 2001 verlangsamt. Lag er 2000 noch bei +12,7 %, gab es 2001 einen Einbruch auf schwache 0,3 %. Für 2002 wird der Welthandel zwar wieder etwas stärker wachsen (Prognosen rechnen mit rund3%), aber die langfristige Verlangsamung in diesem Bereich, zeigt eines der Hauptprobleme des Kapitalismus auf: Es wird weltweit zuviel produziert, bzw. es sind Überkapazitäten vorhanden. Selbstverständlich nicht im Verhältnis zu dem was die Menschen brauchen würden, aber zuviel im Verhältnis dazu, was sie sich leisten können. Der drohende Krieg der USA gegen den Irak und in Folge davon ein Flächenbrand in der Region hätte - durch ein Ansteigen des Ölpreises - weitere negative Folgen auf die Weltwirtschaft. Öl ist nach wie vor einer der wichtigsten Rohstoffe. In den 70er Jahre war das Ansteigen des Ölpreises der Auslöser für die erste Nachkriegsrezession, welche die gesamte Weltwirtschaft erfasste.

Europa: Ein schwaches Prozent

Europa ist einer der drei die Weltwirtschaft dominierenden Wirtschaftsblöcke. Während sich in den 80er Jahren die Blöcke zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Stufen des Konjukturzykluses befanden und damit wechselweise die Rolle einer Lokomotive der Weltwirtschaft übernahmen, verläuft die Entwicklung nun wesentlich synchroner ab. Japan ist seit über 10 Jahren in einer Rezession, die USA verzeichnet - ebenso wie Europa - drastische Einbrüche beim Wirtschaftswachstum. In ganz Europa kommt es zu einer Deindustrialisierung und damit zu Arbeitsplatzvernichtung. Für 2002 wird das Wachstum in der EU bei maximal einem Prozent liegen. Insbesondere die deutsche Wirtschaft, die größte europäische Volkswirtschaft, die rund 35 % der Wirtschaftsleistung des Kontinents auf sich vereint, steckt in ernsten Schwierigkeiten. Erst jüngst mußten die Prognosen erneut auf ein "Wachstum" von 0,2 % für das Jahr 2002 nach unten korrigiert werden. Jedes Jahr verzeichnet die Bundesrepublik einen neuen Rekord an Unternehmenspleiten, heuer werden es rund 40.000 werden. Seit Beginn der Kursverluste an den Börsen im Frühjahr 2000 kam es in Deutschland zu den größten Vermögensverlusten seit dem 2. Weltkrieg.

Die Nörgler sind schuld!

Tatsächlich sind die als "Raunzer" beschimpften KonsumentInnen/ArbeitnehmerInnen die Opfer dieser Entwicklung und auch die Hauptbetroffenen jeder Krise im Kapitalismus. Unternehmer, auch wenn sie Bankrott machen, können doch im Regelfall ihre Schäfchen ins Trockene bringen. Oft hört man von Pleitenmanagern, die bald im nächsten Unternehmen ihr Glück versuchen dürfen und Ex-Unternehmer, die in Armut leben sind wohl weit seltener, als solche, die in Luxus schwelgen. Weit höher ist das Risiko von ArbeitnehmerInnen, Jugendlichen, Frauen und PensionistInnen. 60 Millionen Arme gibt es laut einem Bericht der Caritas in Europa, das sind 18 % der Bevölkerung, und entspricht etwa der EinwohnerInnenzahl von Frankreich. Der Anteil an Armen ist von Land zu Land unterschiedlich und reicht von 8 % (Dänemark) bis zu 23 Prozent (Portugal). In Österreich sind es immerhin 13 %. Besonders betroffen sind alleinstehende bzw. alte Frauen. Bei den über 65 liegt die Armutsrate für Frauen in Österreich bei rund 25 %, bei alleinlebenden Frauen sind 31 % betroffen. Es sind also nicht nur Randgruppen der Gesellschaft betroffen (wo sie gerne von Regierungen ignoriert werden) sondern immer breitere Bevölkerungsschichten. Selbst Berufstätige können immer schlechter von ihrem Einkommen leben, die "working poor" (Menschen mit Job UND zuwenig Geld) nehmen zu. Die Einführung neuer Beschäftigungsformen wie Geringfügiger Beschäftigung, freie DienstnehmerInnen und Leiharbeit haben sich als klarer Nachteil für die Beschäftigten herausgestellt. Sie werden von der Wirtschaft als LohndrückerInnen mißbraucht und haben selber nur ungenügende soziale Absicherung.
Es ist zynisch all diesen Menschen vorzuwerfen, daß sie ihr Geld mit zu vollen Händen auszugeben, ebenso wenn man ihnen rät am besten noch Kredite aufnehmen um noch mehr zu kaufen und die Wirtschaft zu beleben. Es ist mehr als arrogant sich über mangelnde Flexibilität lustig zu machen, wenn sich Menschen weigern, ihre Pensionen und ihre Gesundheit dem Aktienmarkt, privaten Fonds und Versicherungen anzuvertrauen. Es ist deshalb notwendig für die ArbeiterInnen und Gewerkschaftsbewegung auch einen ideologischen Kampf gegen Kampagnen wie die "Nichtraunzerzone" zu führen. Es gilt in diesem Zusammenhang aber nicht nur das Recht auf Soziale Sicherheit zu verteidigen, sondern auch die tatsächlichen Ursachen der Krise - das Versagen des Kapitalismus - aufzuzeigen.

Hält der Stabilitätspakt?

Die soziale Krise und der vermehrte Protest dagegen - Demonstrationen, Streiks, Proteststimmen bei Wahlen - setzen die Herrschenden verstärkt unter Druck. Im Gegensatz zu den 90er Jahren, wo das Paket "EU-Stabilitätspakt - EURO" von den verschiedenen Regierungen gemeinsam genutzt wurde, um in den einzelnen Staaten Sozialabbau voranzutreiben, tritt nun - in der Krise - wieder die nationalstaatliche Ebene stärker in den Vordergrund. "Deutschland am Rande der Rezession" schrieb die Financial Times und die EU-Komission hat gegen Deutschland ein Strafverfahren wegen Bruches der Maastrichtkriterien eingeleitet. Heuer wird die größte Wirtschaft Europas mit 3,8 % das höchste Defizit seit 25 Jahren haben und damit deutlich über den Vorlagen des Stabilitätspaktes (die jährliche Neuverschuldung/Defizit darf nicht mehr als 3% betragen) liegen. Auch in anderen Staaten werden die Doktrin des Stabilitätspaktes gebrochen, Frankreich wird eine Verwarnung von der EU bekommen, weil das Defizit knapp unter drei Prozent liegt. Selbst in den USA wird es heuer erstmals seit langem wieder ein Budgetdefizit geben. Das spiegelt aber KEINEN grundsätzlichen Kurswechsel wieder. Es hat keine Verschiebung der Prioritäten stattgefunden und die Regierungen haben sich nicht vom Neoliberalismus losgesagt. Es findet nicht einmal ein Revival der Wirtschaftspolitik der 70er Jahre statt, als mittels Staatsintervention und staatlichen Aufträgen die Wirtschaft angekurbelt wurde. Heute gibt es direkte Steuererleichterungen für Unternehmen und Besserverdienende sowie direkte Zahlungen an Unternehmen. In den USA wird durch die Explosion der Rüstungsausgaben der Militärsektor nun mit einer Milliarde Dollar pro Jahr gesponsert - während gleichzeitig noch immer kein Geld für ein brauchbares Gesundheitswesen investiert wird.
Der nationale Druck, unter dem Regierungen stehen, bringt sie zunehmend in zwischenstaatliche Konflikte, bzw. zur Frontstellung einzelner Regierungen zu dem Regelwerk und den Institutionen der EU. Aber auch Spannungen zwischen den Wirtschaftsblöcken nehmen zu. Als Folge des Absinkens der Leitzinsen in den USA auf einen historischen Tiefstand von 1,25 % (niedrigstes Niveau seit über 40 Jahren) entbrannte auch in Europa die Diskussion über Zinssenkungen. Die Deutsche Regierung forderte dies sogar in ihrem neuem Regierungsübereinkommen von der Europäischen Zentralbank. Die hohen Zinsen führen zu einer Stärkung der europäischen Währung im Vergleich zum Dollar und damit zu einer Verteuerung der Exporte. Die sinkenden Exporte der EU (von 11,6 % Exportwachstum 2000 auf geschätzte 2 % für dieses Jahr) sind eine der Ursachen für das schleppende Wachstum der europäischen Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund sind auch die wachsenden Handelskonflikte zwischen USA und Europa zu verstehen. Während mittels Welthandelsorganisationen gemeinsam versucht wird, den Handel weltweit zu liberalisieren und Märkte in Afrika, Asien und Lateinamerika zwangszuöffnen, werden gleichzeitig die eigenen Märkte gegen die Importe von außen durch Zölle und Einfuhrbeschränkungen geschützt.

Die Osterweiterung

Auch an anderen Fragen zeigen sich die unterschiedlichen Interessen der nationalen Kapitalfraktionen. Besonders deutlich wird dies rund um die Frage der Osterweiterung. Einerseits brauchen die EU-Staaten die Osterweiterung dringend. Das Wachstum in dieser Region hat sich zwar ebenfalls verlangsamt - ein gewaltiges Ost-Westgefälle wird deshalb auch in Zukunft weiter fortgeschrieben Trotzdem ist der osteuropäische Wirtschaftsraum zur Zeit etwas dynamischer als der Westen: Für die 10 Beitrittsländer wird das Wirtschaftswachstum 2002 bei durchschnittlich 2,1 % liegen, die EU kommt auf maximal 1 %. Die EU erhofft sich durch den Beitritt dieser Staaten Impulse für die europäische Wirtschaft. Es sind neue Märkte auf denen vielleicht ein Teil der Überproduktion abgesetzt werden kann. Immerhin wird die Bevölkerung der EU, und damit potentielle KonsumentInnen, um 20 % erhöht. Andererseits bedeutet die Erweiterung der EU aber auch zusätzliche Konkurrenz und Kosten v.a. im Agrarbereich. Die Frage der Finanzierung wird daher zu einem der Hauptstreitpunkte in der EU werden. Bei der jüngsten "Einigung" zwischen Deutschland und Frankreich wurde die Entscheidung im Wesentlichen um Jahre hinausgezögert in der - unrealistischen - Hoffnung, dass bis dahin die Wirtschaft größere Spielräume zulassen wird.
Besonders deutlich zeigen sich die Schwachpunkte der Erweiterung im Zusammenhang mit den Beitrittswünschen der Türkei. Diese will seit 1987 der EU/EG beitreten, wird aber auf Distanz gehalten. Die Frage von "Menschenrechten" ist nur ein Vorwand (immerhin hat auch Österreich die Europäische Menschenrechtskonvention nicht unterschrieben). Tatsächlich glaubt die EU, nicht noch eine strukturschwache Wirtschaft, sowie weitere nationale "Sonderinteressen" (bei der Türkei vor allem Fragen der geostrategischen Orientierung), bei den bereits bestehenden EU-internen Spannungen, verkraften zu können.

Krise der Politik

Wirtschaft und Politik sind keine voneinander trennbaren Kategorien. Die nationalen Regierungen sind der verlängerte Arm der Wirtschaft und machen Politik im Interesse der Profitmaximierung. Das haben nicht zuletzt Privatisierungen, Sozialabbau sowie Deregulierung & Flexibilisierung deutlich gemacht. Aber eben weil dieser Zusammenhang immer offensichtlicher geworden ist, steigt die Ablehnung gegen das Establishment und die etablierten Parteien. Das zeigen die im Gesamttrend sinkende Wahlbeteiligungen, das Erstarken von (scheinbarer) Oppositionsparteien und die fehlende Begeisterung und Identifikation mit den Parteien, die letztlich gewählt werden. Insbesonders die extreme Rechte konnte in der jüngeren Vergangenheit von diesem Unmut profitieren. Sie hat die bestehenden sozialen Probleme und die Korruption des Establishments genutzt und mit Rassismus und rechtsextremen Populismus gepunktet. Haider, Berlusconi, Le Pen und Pim Fortyn haben letztlich alle die gleiche Taktik erfolgreich angewendet. Es werden aber nicht nur die Parteien des Establishments, sondern auch der Kapitalismus an sich zunehmend hinterfragt. Auf der Homepage der Financial Times gibt es einen Button "Crisis of Capitalism" (Krise des Kapitalismus), der die Stimmung zusammenfasst. Es wäre verfrüht, von einer allgemeinen, antikapitalistischen Stimmung zu sprechen, aber dass der Kapitalismus nicht die Lösung ist, wird immer offensichtlicher. Diese Stimmung drückt sich auch in Wahlerfolgen linker Formationen aus und insbesondere in den antikapitalistischen Massendemonstrationen und der Zunahme von Streiks.

Hoffnung in Neokeynsianismus und eine Reformierung der EU

In dieser neuen - antikapitalistischen - Bewegung wird viel über Lösungen und Alternativen diskutiert. Wie kann die Wirtschaftskrise und insbesondere ihre Folgen für die Menschen bekämpft werden? Ein wichtiger Punkt ist die Frage, ob die EU und damit der Kapitalismus reformiert werden kann um sich an den Bedürfnissen zu orientieren. Wir beantworten diese Frage von einem grundsätzlich anderen Ansatz her: Der Kapitalismus funktioniert auf der Basis von Profitstreben, nicht von menschlichen Bedürfnissen. Die neoliberale Politik ist nicht das Ergebnis von Unvernunft oder Bösartigkeit, sondern von innerkapitalistischer Notwendigkeit. Weil es seit den 80er Jahren eine immense Überproduktion an Waren und Kapital gab, weil die Konkurrenz stieg und es für die Unternehmen immer schwerer wurde Profite zu machen, musste man um Profite zu sichern zu neoliberaler Politik greifen. Wenn heute aus den Reihen der Gewerkschaft eine Rückkehr zur Wirtschaftspolitik der 70er Jahre gefordert wird, werden die Rahmenbedingungen und die Veränderungen, die seither stattgefunden haben, außer Acht gelassen. Das bedeutet nicht, dass keine Reformen (z.B. mehr Geld für den Sozialstaat), dass keine Umverteilung (z.B. Steuerreformen die die Unternehmen belasten), das keine Wiederverstaatlichung (z.B. von schon privatisierten) mehr möglich ist. Das bedeutet aber, dass derartige Schritte auf wesentlich härteren Widerstand von Seiten des Kapitals stoßen würde als in den 70er Jahren und den Kapitalismus an sich in Frage stellen würde.

Für die vereinigten sozialistischen Staaten von Europa

Bei einer Fortführung des Kapitalismus sind immer wiederkehrende Krisen mit allen ihren Folgen - Arbeitslosigkeit, Armut bis hin zu Krieg und Zerstörung - nicht zu verhindern. Zur Zeit sieht es nicht nach einer Erholung sondern eher nach einer Krise wie in den 70er oder sogar 20er/30er Jahren aus. Auch damals waren die Methoden der Herrschenden der Rückzug des Staates, Kürzungen bei Sozialleistungen, ein "ausgeglichenes" Budget und die Liberalisierung der Märkte. Ein Szenario wie in der Zwischenkriegszeit erscheint heute mehr denn je als eine realistische Gefahr. Die Alternative dazu ist nicht der Rückzug auf kleine nationalstaatliche Inseln, sondern der Sturz des Kapitalismus. Die antikriegs- und antikapitalistische Bewegung sowie die zunehmenden Klassenkämpfe geben hier die Richtung vor. Ein vereinigtes Europa zum Wohle der ArbeiterInnenklasse, der Jugendlichen, Frauen und PensionistInnen ist möglich. Erreicht werden kann das aber nicht durch eine Reformierung der EU, sondern durch die vereinigten sozialistischen Staaten von Europa.

Mehr zum Thema: 
Erscheint in Zeitungsausgabe: