Entwicklungslinien von 100 Jahren europäischer Revolution

Wellen des Klassenkampfes
John Evers

Am Ende des 20. Jahrhunderts ist heute wenig die Rede davon, wie es begonnen hat: In Deutschland begann mit dem zweiten Flottengesetz die Hochrüstung, die in den Weltkrieg mündete. Streiks für den 8-Stundentag überzogen den Kontinent. In China führt der Boxeraufstand zur imperialistischen Intervention. Die Auswahl der angeführten Ereignisse ist weder willkürlich, noch zufällig. Sie entsprechen historischen Entwicklungslinien, die mehrere Jahrzehnte rund um die Jahrhundertwende, bzw. unser Jahrhundert prägten. Der Aufstieg der modernen ArbeiterInnenbewegung und die „Konjunktur des Klassenkampfes“ werden hier als ein bestimmender Punkt beleuchtet.
Der Gründer der österreichischen Sozialdemokratie – Viktor Adler – bezeichnete seine Bewegung 1888 als die „modernste aller kämpfenden Parteien“. Sie sei deshalb modern, weil sie mit der Illussion bricht, „als seien die bürgerlichen Freiheiten das letzte Wort der Geschichte“, und verlangt die Weiterentwicklung der Gesellschaft im Sinne der „Beseitigung nicht nur der politischen Beherrschung, sondern auch der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“. Und das sei nur durch die „Vergesellschaftung der Produktion möglich“.

Aufstieg der revolutionären Sozialdemokratie

Tatsächlich steckte die damals revolutionäre Sozialdemokratie noch in ihren Kinderschuhen: In Österreich wurde sie erst Monate noch Adlers Artikel gegründet, in vielen Ländern existierten noch einige Zeit länger keine größeren ArbeiterInnenparteien. Adler hatte allerdings mit seiner Analyse völlig recht: Die Sozialdemokratie war die modernste aller kämpfenden Parteien, weil sie als einzige eine Programmatik mit einer über die Alltagsarbeit hinausgehenden Perspektive verband. Diese Modernität versetzte sie in die Lage, ihre Politik nicht an den „Sachzwängen“ des Kapitalismus zu orientieren. Vielmehr konnte die Sozialdemokratie dadurch die ArbeiterInnenklasse „rücksichtslos“ für den Kampf um politische und soziale Veränderungen formieren und organisieren. Die Periode vom Zeitpunkt des Artikels Adlers (1888) bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs war geprägt vom fast geradlinigen Aufstieg sozialdemokratischer Parteien und vor allem auch vom Glauben an die Unaufhaltbarkeit dieses Aufstiegs. Die Veränderung der Gesellschaft wurde zunehmend wie ein Naturgesetz begriffen, als eine automatische Entwicklung.

Die Erfahrungen von 1905

Diese Logik wurde bereits durch die russische Revolution 1905 zerbrochen: Die erste ArbeiterInnenrevolution dieses Jahrhunderts fand im rückständigsten Land Europas mit der schwächsten Sozialdemokratie statt. Diese Revolution stellte nicht nur sofort die bestehende Ordnung radikal in Frage, sondern brachte sofort die fortschrittlichste Form der Selbstorganisation der ArbeiterInnenklasse, sowie der Verwaltung der Produktion, hervor: Die Räte (Sowjets). Im hochindustrialisierten Deutschland sollten diese Formen erst 13 Jahre später (1918) entstehen! Neben einer Reihe russischer MarxistInnen war Rosa Luxemburg eine der wenigen Persönlichkeiten, die die Dynamik und Tragweite der damaligen Revolution erkannte: Die russischen Ereignisse haben erwiesen, „daß die Revolution, die neue politische und soziale Probleme aufwirft, auch selbst in ihrem Schoß die Lösung dieser Probleme bringt.“ Letztlich bildeten die beiden Fragen – kontinuierlicher Aufstieg kontra revolutionärer Dynamik – den wesentlichen Widerspruch in der internationalen ArbeiterInnenbewegung. Konkret bedeute das eine Verschiebung der Gewichtung zwischen Reform und Revolution. Der Kampf um neue Reformen im System gewann immer mehr an Bedeutung, bis die Revolution und der Sturz der alten Herrschaft in Sonntags- und Feiertagsreden verbannt wurden. Schließlich setzte sich der Gedanke von einem durch Reformen gebändigten Kapitalismus durch - die Notwendigkeit einer Revolution erlosch damit.

Totaler Zusammenbruch

Der Ausbruch des 1. Weltkriegs bedeutete das jähe Ende des „kontinuierlichen Aufstiegs“. Die internationale Sozialdemokratie brach durch die Dynamik der Ereignisse wie ein Kartenhaus zusammen, die sozialdemkratischen Parteien mobilisierten an der Seite ihrer jeweiligen Herrschenden für den Krieg. Der „kontinuierliche Aufstieg“ endete in einer Sackgasse.

Russische Revolution 1917

Die russische Revolution von 1917 eröffnete demgegenüber nicht nur den alternativen Weg, sondern in mehrfacher Hinsicht auch eine neue Epoche: Die erfolgreiche Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse in einem Land löste unmittelbar eine revolutionäre Welle in ganz Europa aus und beschleunigte das Ende des Weltkrieges. Räterepubliken bildeten sich in Bayern und Ungarn, Massenstreiks lähmten Österreich und Italien. Das direkte Ergebnis dieser Entwicklungen bestand in weitgehenden sozialen und politischen Reformen. Unter dem Druck der (drohenden) Revolution gelang es der ArbeiterInnenbewegung binnen weniger Wochen, mehr Reformen umzusetzen, als in der gesamten Zeitspanne ihres bisherigen Bestehens. Anders herum betrachtet erwies sich der Einfluß der alten sozialdemokratischen Strömung allerdings stärker, als jener der neu entstandenen revolutionären Kräfte. Es gelang nicht, die russische Revolution zur Weltrevolution auszuweiten, sondern der Kapitalismus blieb dank der Sozialdemokratien bestehen. Im Gegenteil: die junge Sowjetunion wurde durch die „Enthauptung“ der Revolutionen durch die Sozialdemokraten im Westen in die totale Isolation gedrängt. Der Bürgerkrieg und die imperialistische Intervention führten zu einer regelrechten Verstümmelung vieler revolutionärer Errungenschaften und fast zum Sturz der Sowjetmacht. Der katastrophale Zustand der Sowjetunion nach dem Bürgerkrieg bildete auch den Ansatzpunkt für die Entwicklung der stalinistischen Bürokratie. Aus der Not der Isolation leitet Bucharin für Stalin das Dogma „vom Aufbau des Sozialismus in einem Land“ ab. Dieses Dogma bedeutete zunächst den Verzicht auf die internationale Revolution und mündete konsequent in der „Säuberung“ der russischen und internationalen kommunistischen Parteien von allen revolutionären Kräften.

Deutschland im Brennpunkt

Das Zentrum der internationalen Revolution verlagerte sich nach der Oktoberrevolution Richtung Westen. Nirgendwo sonst wie in Deutschland waren die Widersprüche in der politischen und sozialen Situation derart zugespitzt: Moderne überpropertional große Industrien, verlorene Weltmachtoptionen und ein extrem stark organisiertes Proletariat. Die Widersprüche strebten einer raschen Lösung zu: Bis zur sogenannten Ruhrkrise 1923 hatte das deutsche Proletariat den Schlüssel dafür unmittelbar in der Hand. Die junge kommunistische Partei – zum damaligen Zeitpunkt erst und einmalig gleich stark wie die Sozialdemokratie – war nicht in der Lage, die Chancen der aufstrebenden revolutionären Periode 1918-1923 zu nutzen. Es folgte eine kurze Zeit der relativen Stabilisierung, welche mit dem Beginn der Weltwirtschaftkrise jäh beendet wurde. Erst nach einer Periode der fortgesetzten Defensive und in weiterer Folge einer Kette von Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung konnte sich der Faschimus in Deutschland (sowie ein Jahrzehnt zuvor in Italien) als „Massenphänomen“ etablieren. Die Defensive der ArbeiterInnenbewegung fand schließlich ihren letzten Abschluß in der faschistischen Machtergreifung - in Deutschland fiel kein Schuß der Gegenwehr!

Die spanische Revolution

Die Machtergreifung des Faschismus in Deutschland war die größte Katastrophe für die ArbeiterInnenbewegung und die gesamte Menschheit in diesem Jahrhundert. Praktisch ganz Ost-, Süd- und Mitteleuropa befand sich in den 30er Jahren unter der Herrschaft faschistischer oder halbfaschistischer Regimes. Die Wahl einer Volksfrontregierung 1936 in Spanien ermutigte BäuerInnen und ArbeiterInnen im ganzen Land zu Land- und Fabriksbesetzungen. Der faschistische Putschversuch unter General Franco führte zur allgemeinen Volkserhebung gegen den General. Die Führungen der ArbeiterInnenorganisationen waren nicht in der Lage und nicht willens, die entstehende Dynamik der Revolution zu nutzen: Im Gegenteil, sie setzen auf ein Bündnis mit Teilen des Bürgertums im Inneren und den „demokratischen“ Staaten im Äußeren. Die Revolution wurde beschnitten und schließlich unterdrückt: Die Parteien der radikalen Linken wurden von der Volksfrontregierung verboten, das Privateigentum geschützt, Kollektivierungen rückgängig gemacht, die revolutionären Milizen aufgelöst. Die völlige soziale und politische Defensive brachte Franco schließlich den Sieg. Die Mitternachtsstunde des 20. Jahrhundert schlug: Nach 1914 lag die internationale ArbeiterInnenbewegung zum zweiten Mal am Boden - der 2. Weltkrieg begann. Es war vor allem ein Krieg, der gegen die Sowjetunion geführt wurde und der fast zu ihrer Vernichtung – im wahrsten Sinne des Wortes – geführt hätte. Spätestens hier ist es notwendig, die zweite und „lange Welle“ der russischen Revolution zu sehen: Diese besteht in der grundsätzlichen Existenz einer Systemalternative zum Kapitalismus – letzlich bis 1989. Sie stellte, ungeachtet der vielfachen „Zusammenarbeit“ zwischen Ost und West trotzdem ein ständiges Gefahrenpotential für den „Westen“ dar.

Die lange Pause nach 1945

Das Ergebnis des zweiten Weltkriegs war nicht die Vernichtung der stalinistischen Sowjetunion, sondern ihre Stärkung. Bei den „Gipfeltreffen“ von Jalta, Potsdam, Teheran usw. teilten die drei Supermächte - Britannien, USA und UdSSR - die Welt in Einflußzonen auf. Damit ging halb Europa für den Kapitalismus verloren. Als Gegenleistung „opferte“ Stalin die revolutionären Bewegungen in Italien, Griechenland usw. zugunsten „seiner“ westlichen Partner. Nur in Jugoslawien gelang das nicht, da die dortige Partisanenbewegung eine von der Moskauer Bürokratie zu unabhängige Rolle spielte. Gleichzeitig befand sich dadurch die europäische Revolution für eine ganze Periode in einer paralysierten Situation: Der Beginn des längsten Wirtschaftsaufschwunges im Westen führte in breiten Teilen der Bevölkerung zu Illussionen in die Stabilität und Entwicklungsfähigkeit des Kapitalismus. Die Systemkonkurrenz im Osten zwang den Imperialismus in Europa zu einer Fülle von sozialen und politischen Zugeständnissen. Gleichzeitig bot der Stalinismus durch seine Verbrechen ein abschreckendes Bild.
Das revolutionäre Zenrum verlagerte sich für eine ganze Periode Richtung „Peripherie“ – also in die sogenannte 3. Welt. China, Korea, Kuba, Vietnam usw. sind Beispiele für den Bereich der Welt, wo kein historischer Kompromiß mit dem Kapitalismus möglich war und selbst der Stalinismus angesichts der dort bestehenden Situation einen klaren Fortschritt darstellen konnte.

1968: Der Zyklus setzt wieder ein

Erst als sich in Folge der Verflachung und schließlich des Einbruchs der Konjunktur auch in Europa die gesellschaftlichen Widersprüche wieder zuspitzten, kehrte die Revolution nach (West-)Europa zurück. In der Zeit des wirtschaftlichen Booms in den Nachrkriegsjahren hatte die ArbeiterInnenklasse Selbstbewußtsein getankt und konnte ohne größere Kämpfe Zugeständnisse erreichen. Beginnend mit dem Mai 1968 in Frankreich setzte ein neuer Zyklus ein, der sich über das Ende der Diktaturen in Südeuropa (Spanien, Griechenland, Portugal) und die Machtübernahme durch sozialdemokratische Linksregierungen in Europa bis Anfang der 80er Jahre fortsetzte. Die 80er Jahre waren im Westen vom Versuch einer neokonservativen Wende – ausgehend von der Thachterregierung in Britannien – geprägt, deren Folge sicherlich in punktuellen Niederlagen, aber vor allem einer Welle von Klassenkämpfen bestand. Der britische Bergarbeiterstreik war der längste und erbittertste Arbeitskampf seit 1945, in Deutschland fanden Mitte der 80er Jahre große Bewegungen für die 35- Stundenwoche statt, und selbst hierzulande stieß der Versuch der Zerschlagung der Verstaatlichten auf für Österreich heftige Reaktionen.

Osteuropa

Prägendes Element waren allerdings zweifellos die Ereignisse in Osteuropa. Auch in den stalinistischen Staaten hatte es so etwas wie einen Zyklus der Bewegungen gegen die stalinistische Bürokratie gegeben. Die eine Linie reicht von 1953 (DDR), über 1956 und 1968 (Ungarn, CSSR) bis nach Polen am Anfang der 80er Jahre. Diese Linie beschreibt im wesentlichen Entwicklungen in die Richtung einer politischen Revolution gegen die Bürokratie, die relativ frei von proimperialistischen Elementen war. Die Niederlage der Solidarnosc durch die Ausrufung des Kriegsrechts 1981 markierte den Wendepunkt. Die Solidarnosc hatte als - gemessen an der Bevölkerung - größte Massenbewegung der Welt (10 Millionen Mitglieder) in den Augen der Bevölkerung ganz Osteuropas versagt. Die Massenbewegungen 1989 waren zwar fähig, die Bürokratie binnen weniger Tage zu stürzen. Sie waren aber nicht in der Lage, eine Systemalternative zu entwickeln – die Erfahrungen von 1981 hatte die Option einer revolutionären Massenorganisation verschüttet. Das Fehlen einer Organisation, die die Bewegung Richtung politischer Revolution führte, lies die Illusionen in die Marktwirtschaft oberhand gewinnen.

Wo stehen wir heute

Die Konterrevolution von 1989 – 1991 bedeutete wieder die weltweite Alleinherrschaft des Kapitalismus. Sie hat uns damit „strategisch“ wieder zum Ausgangspunkt vor 1917 zurückgeführt. Das Pendel machte international einen großen Schwenk nach rechts, die Neoliberalen gingen in die Offensive. Die traditionelle ArbeiterInnenbewegung und Linke – sei es in Form von klassischen sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien oder Befreiungsbewegungen in der „3. Welt“ – hörte defacto zu existieren auf. Gerade ein Jahrzehnt ist seitdem vergangen und vom damals proklamierten „Ende der Geschichte“ kann keine Rede sein: Verflachung des wirtschaftlichen Wachstums, eine drohende Weltwirtschaftskrise, steigende Sockelarbeitslosigkeit, Krieg in Europa (...) Heute ist der „Schwung“ nach rechts ist in vielen Bereichen beendet: Rechtsregierungen in Frankreich und Italien wurden durch Massenbewegungen gestürzt. Protest drückt sich auch beim Wahlverhalten in vielen europäischen Ländern nicht rechts sondern links aus. Vielerorts entstanden neue Formen und Kulturen des Widerstands – von der französischen Erwerbslosenbewegung bis zum internationalen Arbeitskampf der Liverpooler Hafenarbeiter. Es sind Bewegungen, die sich ähnlich der Sozialdemokratie in ihrer revolutionären Phase nicht um „Sachzwänge“ scheren, sondern ihre Interessen vertreten. Ein derartiges Verständnis wird der Ausgangspunkt der europäischen Revolution im 21. Jahrhundert sein.