Der „Anschluss“, der nicht vom Himmel fiel

Die 1. Republik – Revolution und Reaktion in der Zwischenkriegszeit
John Evers

Österreich im März 1938: Hunderttausende Menschen am Wiener Heldenplatz sowie spontane Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung und erste Transporte in die Konzentrationslager. Doch „Anschluss“, Jubel und Terror fielen nicht vom Himmel.

Nur 20 Jahre vor dem „Anschluss“ schien man in der „Mitte Europas“ zunächst scharf nach links einzubiegen. Die österreichische ArbeiterInnenschaft war Teil einer internationalen Bewegung, die maßgeblich zur Beendigung des 1. Weltkrieges beigetragen hatte. Mittels selbst gewählter Räte kontrollierte sie bereits Teile von Wirtschaft, Politik und Armee. Die Gründung der bürgerlichen – eben nicht sozialistischen – Republik 1918 war demgegenüber eine bewusste Entscheidung der Führung der österreichischen Sozialdemokratie. Sie warnte ihre Anhänger nachdrücklich vor „revolutionären Abenteuern“, setzte zunächst auf einen nationalen Zusammenschluss mit Deutschland und versprach, später die Hülle dieser neuen Republik schrittweise mit „sozialistischem Inhalt“ zu füllen. Tatsächlich ermöglichte der Druck der Rätebewegung 1918/19 eine Reihe von grundlegenden sozialen und politischen Verbesserungen.

Gleichzeitig eröffnen revolutionäre Situationen aber immer nur sehr begrenzte Zeitfenster. Die Strategie der Sozialdemokratie scheiterte – trotz mehrerer Wahlerfolge in den kommenden Jahren – vollkommen. Bereits ab 1920 regierten rein bürgerliche Kabinette. Diese sahen ihr Hauptziel darin, den „revolutionären Schutt“ - also die Reformen der Jahre 1918-1920 - zu beseitigen. 1922 verordneten Völkerbund und Regierung gemeinsam ein extrem hartes Sparprogramm („Genfer Sanierung“) und manifestierten so die soziale Dauerkrise in der Ersten Republik. Die freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften überschritten bereits in diesem Jahr den Höhepunkt ihrer Entwicklung und rieben sich im folgenden Jahrzehnt in defensiven Lohnkämpfen auf.

Die Machtübernahme Mussolinis in Italien (ebenfalls 1922) war Vorbild für die Entwicklung des „Austrofaschismus“. Dieser wurde zunächst v.a. durch die (auch von Mussolini mit Waffen unterstützten) paramilitärischen Verbände der Heimwehren repräsentiert. Einige Jahre später strebten auch die Eliten des Landes ein Staatsmodell nach dem Vorbild des italienischen Faschismus an.

Am 15. Juli 1927 zündeten aufgebrachte Wiener ArbeiterInnen im Rahmen einer spontanen Demonstration den Justizpalast an. Grund war ein offensichtlich politisch motiviertes Fehlurteil. Die Polizei schoss in die Demonstration: 89 Tote, davon 85 tote DemonstrantInnen. Die Rolle der sozialdemokratischen Parteiführung beschreibt eine von der SPÖ betriebene Homepage treffend: „Die sozialdemokratische Führung sah an diesem 15. Juli ihre Hauptaufgabe darin, einen drohenden Bürgerkrieg zu verhindern: Wir sind nicht im Kampf besiegt worden, wir sind vielmehr dem Kampf ausgewichen, lautete die Devise. Im historischen Rückblick wird klar, dass das Schattendorfer Urteil den Auftakt zum Untergang der Ersten Republik darstellte und dass die reaktionären Kräfte den späteren Bürgerkrieg bereits an diesem Tag gewonnen hatten.“ (www.dasrotewien.at).

Die Führung der Sozialdemokratie setzte auf Zuwarten und Zurückweichen

1930 legten die Heimwehren mit dem Korneuburger Eid ein öffentliches Bekenntnis zu einer faschistischen Staatsform ab. Anfang der 1930er schlug die Weltwirtschaftskrise in Österreich voll durch. Gemeinsam mit Deutschland stand das Land im Zentrum von Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau in Europa. Letzterer wurde mit immer autoritäreren Methoden durchgezogen. Die Beteiligung der faschistischen Heimwehren an der Regierung (ab 1932) war ein bewusster Schritt der bürgerlichen Eliten. Sie mündete in der Ausschaltung des Parlaments (1933), dem Bürgerkrieg und der Proklamation einer neuen, autoritären Verfassung (1934). Die ArbeiterInnenbewegung verhielt sich quasi asymmetrisch, also zunehmend defensiv: Sie wich auf Geheiß der Parteiführung der Konfrontation aus. Bis Polizei, Bundesheer und Heimwehren schließlich im Februar 1934 die Gemeindebauten stürmten sowie Sozialdemokratie und Gewerkschaften verboten.

Das 1934 errichtete Staatsmodell war in der Praxis durch seine innere Schwäche und Zerrissenheit sowie den äußeren Druck durch den Nationalsozialismus geprägt. Als entscheidender Faktor für die Existenz des Austrofaschismus erwies sich letztlich die Unterstützung Mussolinis. Als der „Duce“ selbst in ein Bündnis mit Hitler eintrat (1936), sank Österreich zunehmend zum Vasallenstaat Deutschlands ab. Im Inneren bot vor allem die Unterdrückung der Linken den österreichischen Nazis ungeahnte Spiel- und Agitationsräume. Ein katholischer Funktionär des herrschenden Systems – Ernst Karl Winter – fasste die eigentliche Wirkung des Austrofaschismus 1936 bemerkenswert weitsichtig zusammen, als er schrieb, dass „die sicherste Immunisierung gegen das braune Gift bisher nicht der Katholizismus, nicht der Konservativismus, nicht der Faschismus, sondern schlicht und einfach gesagt: die marxistische Schule der Arbeiterschaft gewährleistet hat." Im Rahmen der österreichischen Eliten war diese Erkenntnis allerdings eine totale Außenseiterposition. Selbige tendierten nämlich spätestens ab 1936 immer mehr zum deutschen Konkurrenzmodell. Die austrofaschistische Führung um Kanzler Schuschnigg bemühte sich demgegenüber, zumindest äußerlich die Bewegungen in Italien und Deutschland mittels Beifügung einer „österreichischen Note“ zu imitieren. Schließlich sollten Schuschnigg & Co. kampflos vor dem rasant anwachsenden Nationalsozialismus im eigenen Staat zurückweichen.

1938 wurde mit Arthur Seyß-Inquart bereits Wochen vor dem Anschluss ein bekennender NS-Anhänger Innenminister und dann – ernannt von Bundespräsident Miklas – sogar letzter österreichischer Bundeskanzler. In den letzten Tagen der staatlichen Selbstständigkeit machte die illegale ArbeiterInnenbewegung noch einmal mobil. Ein Höhepunkt war eine österreichweite Vertrauensleutekonferenz in Wien Floridsdorf am 7. März 1938. Nur fünf Tage vor dem Ende wurde hier in aller Öffentlichkeit der Wille zum Widerstand demonstriert. Fatal war und blieb demgegenüber die politische Linie, die von den – illegalen – GewerkschafterInnen, SozialistInnen und KommunistInnen bis zuletzt vertreten wurde. Diese lautete: Gemeinsamer „nationaler“ Kampf mit dem austrofaschistischen Regime gegen den Nationalsozialismus sowie Verzicht auf alle weitergehenden Forderungen. Ein solcher Appell erwies sich freilich – wie in den Jahren zuvor – als Illusion und wirkte gleichzeitig lähmend bzw. geradezu demobilisierend. Während der „Anschluss“ 1938 schließlich von Hunderttausenden tatsächlich als einfache „Lösung“ aus der Lethargie und Krise der 20er und 30er bejubelt wurde, befand sich die einst so starke österreichische ArbeiterInnenbewegung in jeder Hinsicht am Ende einer langen Abwärtsspirale. Nicht wenige ihrer VertreterInnen sollten in der Folge ihr mutiges persönliches Engagement, aber auch die politische Linie des Zurückweichens bzw. der beharrlichen Suche nach illusorischen Kooperationen mit ihrem Leben bezahlen.

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