Braucht der Kapitalismus den Gesundheits- und Sozialbereich?

Till Ruster

Zu Arbeitsbeginn halbwegs gesund, erholt, gut ernährt und sauber sein: Das ist der Anspruch, den die Unternehmen an die Beschäftigten haben, damit sie ihre Arbeit leisten und Profite für sie erwirtschaften können. Die Arbeitsfähigkeit muss also nur soweit wie nötig vorhanden sein, das ist etwas ganz Anderes als das Erholungsbedürfnis... der Beschäftigten.

Die Arbeitskraft muss „wiederhergestellt“ werden, oder „reproduziert“, wie Marx das nennt. Das muss nach jedem Arbeitstag passieren, aber auch wenn Arbeitskraft durch Pension oder Tod entfällt. Kindererziehung und Bildung gehören also auch dazu. Marx schreibt dazu im Kapital Bd 1:

„Der Wert der Arbeitskraft schließt aber den Wert der Waren ein, welche zur Reproduktion des Arbeiters oder zur Fortpflanzung der Arbeiterklasse erheischt sind. Wenn also die naturwidrige Verlängerung des Arbeitstags (...) die Lebensperiode der einzelnen Arbeiter und damit die Dauer ihrer Arbeitskraft verkürzt, wird rascherer Ersatz der verschlissenen nötig, also das Eingehen größerer Verschleisskosten in die Reproduktion der Arbeitskraft, ganz wie der täglich zu reproduzierende Wertteil einer Maschine um so größer ist, je rascher sie verschleißt. Das Kapital scheint daher durch sein eigenes Interesse auf einen Normalarbeitstag hingewiesen.”

In der Geschichte des Kapitalismus wurden bestimmte Teile dieser „Reproduktionsarbeit“ professionalisiert. Zum Einen, weil die Arbeiter*innenbewegung hier wichtige Fortschritte zB bei Krankenversicherungen erkämpft hat. Aber auch, weil es unter bestimmten Bedingungen effizienter und damit billiger für die Kapitalist*innen war. Wenn zB ein Arbeitskräftemangel entsteht, lohnt es sich auch für das Kapital, über Pflegeheime oder Kindergärten „Haushaltsaufgaben“ zu kollektivieren und so vor allem Frauen für den Arbeitsmarkt „frei“ zu spielen. So entsteht ein Bereich der bezahlten Reproduktionsarbeit, obwohl der allergrößte Teil weiter unbezahlt und vor allem von Frauen erledigt wird. Der professionelle Gesundheits- und Sozialbereich ist aus Sicht von Arbeiter*innen und Frauenbewegung eine Errungenschaft, die es zu verteidigen und auszubauen gilt. Aus Sicht der Kapitalist*innen ist er ein notwendiges Übel, das möglichst auf ein Minimum beschränkt werden sollte und sehr abhängig ist von der allgemeinen wirtschaftlichen Lage.
Genau diesen Widerspruch hat Corona noch einmal deutlich gemacht: Kindergärten werden nicht wieder eröffnet, weil das für Kinder und Eltern das Beste ist, sondern weil die Arbeitskraft der Eltern sonst nur eingeschränkt zur Verfügung steht. So lange Viele in Kurzarbeit waren, blieben sie daher auch geschlossen. Mit steigenden Arbeitslosenzahlen kann sich das schnell ändern und zu (weiteren) Einsparungen bei u.a. Kindergärten führen.

 

Zur Vertiefung empfiehlt sich natürlich „Das Kapital“, in dem Marx sich ausführlich mit den Reproduktionskosten auseinandersetzt. Für den Einstieg ist es aber vielleicht besser, sich an die wesentlich kürzere Darstellung seiner ökonomischen Theorie in „Lohn, Preis und Profit“ von 1865 zu halten.

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