Mo 03.10.2011
Ben Ali ist weg, aber die Revolution hat in Tunesien noch nicht gesiegt. Ein Interview mit linken AktivistInnen aus Tunesien, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben müssen.
Wie hat sich das Leben geändert?
A: Wenn man sich vor der Revolution über Politik unterhalten wollte, musste man einen sicheren Ort in irgendeinem Lokal oder Cafe finden, wo man sich leise flüsternd und immer in Angst vor Polizeiagenten austauschen musste. Nun versuchen schon fünfjährige Kinder genau zu verstehen, was um sie herum vorgeht und reden über Politik!
J: Die neu gewonnene Meinungsfreiheit lässt z.B. die politische Diskussionskultur sprießen, aber der revolutionäre Prozess ist noch nicht abgeschlossen: Das System, das Ben Ali geschützt hatte, ist immer noch an der Macht, und alles, was am 14. Januar [der Tag, an dem Ben Ali floh] gewonnen wurde, ist dadurch in Gefahr und kann jederzeit wieder verloren werden.
Was sind die Themen dieser Diskussionen?
G: Das Establishment versucht alle Diskussionen in eine technische Richtung zu drängen, also z.B über das Wahlsystem, oder sie versuchen einen Konflikt zwischen Säkularismus und Islamismus zu beschwören. Die Hauptsorgen der Menschen bleiben soziale Fragen wie die hohe Arbeitslosigkeit, und an diesen Punkten versuchen auch wir anzusetzen.
A: Schon während der Diktatur spielten MarxistInnen eine gewisse Rolle. In jedem Kampf, der sich gegen das Regime entwickelte, haben sie aktiv und offen z.B. für die Freilassung von politischen Gefangenen agitiert, oder für gewerkschaftliche Rechte und den Kampf gegen die Bürokratie. Deswegen genießen sie viel Respekt als ernsthafte KämpferInnen.
Wir fordern, dass die Schulden nicht zurückgezahlt werden, die Verstaatlichung von Banken & Medienkonzernen. Außerdem natürlich die Vergesellschaftung des gesamten Vermögens und aller Firmen, die in den Händen des Ben Ali/Trabelsi-Clans waren, die 49% der gesamten Wirtschaftsleistung Tunesiens ausmachen. Das wäre ein entscheidender Schritt hin zu einer sozialistischen Planung der Wirtschaft, in Verbindung mit demokratischer ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion.
Das Interview führten Stefan Müller und Sedef Yavuz