Pflege im Kapitalismus: Prothesen und Profite

Die Arbeiter*innenbewegung muss jeden Versuch von Staat und Kapital, die Pflege zu privatisieren, bekämpfen.
Florian Klabacher, Pflegehelfer

Nur durch den Sturz des kapitalistischen Systems können wir Pflege nach den Bedürfnissen der Menschen organisieren.

„Die Maßnahme ist Teil der Pläne zur Anhebung des faktischen Pensionsantrittsalters. Ziel ist die Erhaltung der Erwerbsfähigkeit und die Verlängerung der gesunden Lebensjahre“. Dieses Zitat zur „Gesundheitsvorsorge Aktiv“, die die bisherige Kur ersetzt, erklärt, warum es im Kapitalismus überhaupt Pflege gibt. Es geht nicht ums Wohlbefinden. Das Kapital braucht „Menschenmaterial“ in Form von Arbeitskräften, mit dem es Profite erwirtschaften kann. Der Staat hat die Aufgabe, das kapitalistische System langfristig abzusichern. Also auch, sicherzustellen, dass die benötigten Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Eine dieser Aufgaben ist die „Reparatur“ „beschädigter“ Arbeitskräfte durch das Gesundheitssystem. Hier spielt Pflege eine wichtige Rolle – als eine Leistung, für die der Staat im Sinne des Kapitals Gelder verwendet, wenn auch gegen den Widerstand von Teilen des Kapitals, die diese Ausgaben lieber über Subventionen oder Steuergeschenke einstreifen möchten.

In der Entwicklung der Pflege spielen militärische Fragen eine zentrale Rolle. Im 19. Jahrhundert lösten Kriege zur Durchsetzung nationalstaatlicher Interessen Entwicklungsschübe in der Pflege aus. Denn es zeigte sich, dass Sanitätswesen und Pflege von Verwundeten entscheidend für die Frage von Sieg und Niederlage waren. So war Florence Nightingale, zentral in der Entwicklung einer modernen Pflegeausbildung, zuallererst für den britischen Imperialismus von großer Bedeutung: Sie reorganisierte im Krim-Krieg das Sanitätswesen des britischen Militärs und brachte seine Reform auf Schiene. Von ihrem Krankenpflegebuch „Notes on Nursing“ erschienen zwei Schwerpunktausgaben: Eine für professionell Pflegende und eine in einfacher Sprache „…for the labouring classes“ („für die arbeitenden Klassen“) - also für Frauen, die Angehörige pflegen.

Das deutet eine wichtige Unterscheidung in der Pflege an: Auch Menschen, für die das Kapital keine Verwendung (mehr) hat, brauchen Pflege: Menschen, die körperliche, seelische oder geistige Beeinträchtigungen haben, die wegen ihres hohen Alters oder Verschleißerscheinungen im Produktionsprozess nicht mehr profitabel verwertbar sind. Hier Staatsgelder zur Verfügung zu stellen, ist nicht im Interesse des Kapitals. Dementsprechend prekär ist die Lage. Lange Wartelisten für Heim- bzw. Betreuungsplätze (nicht nur für Ältere, sondern besonders auch für Menschen mit Beeinträchtigungen), fehlende Anpassungen beim Pflegegeld (auf der anderen Seite größere Hürden für den Zugang dazu dank SPÖVP 2015) usw. sorgen dafür, dass Pflegearbeit und -kosten auf Pflegebedürftige und Angehörige abgewälzt werden. Die Legalisierung der 24-Stunden-Pflege ohne Qualifikation 2007 ist Sinnbild dafür. Der Mangel an leistbarer, qualifizierter Pflege und das Chaos, das daraus entsteht, werden nicht bekämpft, sondern einfach hingenommen. Dabei entsteht ein undurchsichtiger und sehr lukrativer Markt: Über 800 Agenturen vermitteln über 60.000 24-Stunden-Pflegekräfte in Österreich und können in dieser rechtlichen Grauzone mit undurchsichtigen Verträgen ordentlich Profite machen.

Fürs Kapital werden eigentlich schon „unverwertbare“ Pflegebedürftige damit doch wieder interessant, auch wenn sie sich keine Plätze in luxuriösen Heimen leisten können – trotz der eher niedrigen Renditen und dank der Sicherheit, dass es genug „Kund*innen“ gibt und der oft schwachen gewerkschaftlichen Organisation. In Deutschland hat die Pflegeversicherung (neben der weiterhin Selbstbehalte zu zahlen sind) in den 1990ern zu einer Beschleunigung der privaten Investitionen in den Pflegesektor geführt. Sie stellt sicher, dass Steuergelder in die Kassen von Pflegekonzernen fließen und schafft einen Markt für aufgestautes Kapital, welches sonst keine profitablen Ventile findet. Dieselbe Logik stand auch hinter der Pensionsreform 2003: Das „3-Säulen-System“ öffnete vor allem privaten, profitorientierten Anbietern einen Markt. Durch das Ausbluten der öffentlichen Säule und der betrieblichen Säule wurden die Menschen mehr und mehr in den privaten Markt gezwungen, und mussten dafür beim Finanzcrash 2007-8 zahlen. Es liegt auf der Hand: Alles, was einem System überlassen wird, das auf Profit basiert, muss profitabel gemacht werden. Die Erfahrung aus den USA zeigt: Private Vorsorgemodelle können für die Anbieter profitabel sein, weil sie teuer sind – sie können aber auch profitabel sein, weil sie zwar leistbar, dafür aber grottenschlecht sind. Am privaten Markt muss alles in billigstmöglicher Qualität zum teuerstmöglichen Preis verkauft werden. Auch Gesundheit.

Von den 850 Alten-/Pflegeheimen in Österreich werden knapp 450 von privaten Trägervereinen geführt. Der private Pflegebereich gibt auch Religionsgemeinschaften die Möglichkeit, ihren Einfluss auszubauen (Caritas, Diakonie,…). Die Auslagerung bringt eine Spaltung der Beschäftigten, die oft die gleichen Tätigkeiten zu unterschiedlichen Löhnen und Arbeitsbedingungen in unterschiedlichen Kollektivverträgen erledigen (Sozialwirtschaft, Konfessionelle Pflegeheime, Landesbedienstete,…) und getrennt verhandeln. Das schwächt unsere Verhandlungsposition. Caritas & Co gehorchen letztlich den gleichen kapitalistischen Prinzipien wie die Regierungsparteien: Das wird gerade bei den aktuellen Kollektivvertragsrunden wieder deutlich, wo die Geschäftsführung die Regierungsmaßnahmen ausnutzt, um die Beschäftigten auszupressen.

Private Pflegeheime arbeiten im Auftrag der Länder und bekommen einen Fixbetrag pro Pflegebett und Monat bezahlt. Möglichkeiten, bei den Ausgaben zu sparen, um die Profitspanne zu erhöhen gibt es viele, wie Personal, Pflegematerial, Investitionen wie nötige Renovierungen und Ausbesserungen, Qualität von Nahrungsmitteln. Das nutzen Konzerne wie SeneCura, Teil der französischen Orpea-Gruppe, die jährlich €2,8 Mrd. umsetzt. Die bürgerlichen Medien informieren über das „Problem“, dass Menschen, die „zu lange“ leben eine Belastung für die Gesellschaft sind. Das Kapital bemüht sich gleichzeitig, aus ihren Gebrechen noch Gewinne zu schlagen. Goldman Sachs stellt sogar die Frage, ob die Heilung von Patienten ein nachhaltiges Geschäftsmodell ist, weil keine wiederkehrenden Einnahmen, wie bei chronischen Therapien, möglich sind.

Dieser Zynismus ist die eine Seite der Pflege-Privatisierung. Die andere Seite ist die, mit der keine Profite zu machen sind. V.a. Frauen werden gezwungen, das fehlende öffentliche Angebot mit unbezahlter Angehörigenpflege zu Hause zu ersetzen: Während des Wartens auf einen Vollbetreuungsplatz, zusätzlich zur nicht ausreichenden mobilen Betreuung, bei „blutigen Entlassungen“ aus Krankenhäusern usw.

Während wir gegen jede Form der Pflegeprivatisierung auftreten, muss uns klar sein: Staatliche Pflege im Kapitalismus ist nicht die Lösung der Probleme. Wer einmal mit dem aktuellen Pflegeschlüssel in öffentlichen Pflegeheimen gearbeitet hat oder ohne Zusatzversicherung zur Notaufnahme in ein überfülltes Krankenhaus musste, weiß das. Je deutlicher die Krise des Kapitalismus, umso härter die Angriffe auf den gesamten öffentlichen Pflege-, Gesundheits- und Sozialbereich. Der Staat gibt gerade so viel Geld aus, wie nötig ist, um das System mehr schlecht als recht am Laufen zu halten. Alles, was darüber hinausgeht, musste und muss von der Arbeiter*innenbewegung erkämpft und verteidigt werden.

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