Justitia mit Augenbinde und Leine

Sonja Grusch

Die römische Göttin Justitia trägt Augenbinde. Diese soll ausdrücken, dass die Justiz gerecht und ohne Ansehen (im doppelten Wortsinn) der Person Recht spricht. Dass die Praxis anders ist, zeigen unzählige Statistiken: Migrant*innen werden öfter verurteilt als Österreicher*innen, Reiche seltener als Arme, Frauen härter als Männer, wenn sie “aus der Rolle” fallen. 
Politiker*innen betonen zwar die “Unabhängigkeit” der Justiz, doch tatsächlich gibt es neben legalen Weisungen auch weniger legale Einflussnahme. Wird (selten genug) gegen Vertreter*innen der Elite juristisch vorgegangen, ist die Empörung auf deren Seite groß. Es kann nur ein politisches Komplott dahinter stecken, wenn Politiker*innen ins Visier einer Untersuchung geraten. Gerade Law&Order-Vertreter*innen sind besonders wehleidig. 
Die aktuellen Skandale rund um hochrangige Vertreter*innen der ÖVP werden von dieser mit einer Offensive beantwortet. Die ÖVP-Spitzen überlegen laut, den Umbau u.a. der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) - “zufällig” jene Behörde, die gegen noch-Finanzminister Blümel ermittelt. Die Behörde könne aufgeteilt oder gleich ganz anders strukturiert werden. Auch Verfassungsgerichtshof und Medien werden “mitbedacht”. 
Wer nun glaubt, eine neu zu schaffende Bundesstaatsanwaltschaft wäre tatsächlich unabhängiger, ignoriert, wie Abhängigkeiten in einem System, wo Macht mit Geld zusammenhängt, funktionieren. Unabhängiger vom Ministerium, abhängiger vom Parlament ändert an den herrschenden Machtstrukturen wenig. Die strukturelle Ungerechtigkeit des Systems, in dem der Diebstahl von unbezahlter Arbeit ungestraft bleibt, während der Rückstand bei der Miete zur Delogierung führen kann - diese Ungerechtigkeit bleibt unangetastet. Dafür sorgen die Politiker*innen aller Parteien in diesem System in trauter Eintracht.

 

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