Internationaler Tag der Arbeit - 1. Mai 2022

Arbeiter*innen aller Länder vereint euch gegen den zerfallenden Kapitalismus!
Internationale Redaktion der ISA

"Die Lasten des Krieges werden die besten Kräfte der Völker jahrzehntelang aufzehren, die Errungenschaften der sozialen Reformen gefährden und jeden Schritt nach vorn behindern. Kulturelle Verwüstung, wirtschaftlicher Niedergang, politische Reaktion - das sind die Früchte dieses furchtbaren Konflikts der Nationen. So offenbart der Krieg die nackte Gestalt des modernen Kapitalismus, der nicht nur mit den Interessen der werktätigen Massen, nicht nur mit den Erfordernissen der geschichtlichen Entwicklung, sondern auch mit den elementaren Bedingungen des menschlichen Miteinanders unvereinbar geworden ist."

Vor über 100 Jahren, 1915 auf der Grundlage eines Entwurfs von Leo Trotzki verfasst, war dies Teil des Manifests, das von den Delegierten der "Zimmerwalder Konferenz" verabschiedet wurde, einer kleinen Gruppe von internationalen Sozialist*innen, die sich gegen den Ersten Weltkrieg aussprachen. Diesem Treffen waren sowohl die "Internationale Sozialistische Frauenkonferenz" als auch die Konferenz der "Sozialistischen Jugend" vorausgegangen. Im Einklang mit den Prinzipien des revolutionären Sozialismus brachen sie mit den reformistischen Sozialdemokrat*innen, die die kapitalistischen Klassen ihrer eigenen Länder im Krieg unterstützten. Obwohl in Zimmerwald nur 38 Delegierte anwesend waren, wurden einige von ihnen später für ihre Rolle in Revolutionen berühmt, die eine Welt ohne Krieg anstrebten, indem sie dessen Ursache - den Kapitalismus - beseitigten. 

Das Manifest, das für eine andere Epoche gedacht war, ist für den Internationalen Tag der Arbeit 2022 nach wie vor von großer Bedeutung. Aber wenn damals der "moderne Kapitalismus" mit den elementaren Bedingungen des menschlichen Miteinanders unvereinbar geworden war, so hat er heute eine so katastrophale Situation geschaffen, dass er mit einer menschenwürdigen Existenz zunehmend unvereinbar geworden ist. 

Pandemie offenbart ein krankes System 

Dies ist keine Übertreibung: Die Welt hat gerade erst die schlimmste Pandemie seit der Grippeepidemie überstanden, die 1918 und 1919 die Welt heimsuchte. Das Zimmerwalder Manifest stellte sogar fest, dass statt der "bei Kriegsausbruch verkündete Verbesserung der Wohlfahrt - Not und Entbehrung, Arbeitslosigkeit und hohe Preise, Unterernährung und Epidemien die tatsächlichen Ergebnisse sind".

Trotz aller Fortschritte der modernen Wissenschaft und der Opfer, die das Gesundheitspersonal auf der ganzen Welt gebracht hat, hat Covid Millionen von Menschen das Leben gekostet, zusätzlich zu anderen globalen Epidemien wie Cholera, die kaum wahrgenommen werden, weil sie hauptsächlich die armen Länder betreffen. Sogar mehr als am verheerenden Covid, sterben jedes Jahr Menschen an armutsbedingten und völlig vermeidbaren Krankheiten. 

Während der Pandemie hat der Kapitalismus den Gipfel der zynischen Gier erreicht. Die Erforschung und Herstellung der Impfstoffe wurde mit staatlichen Mitteln finanziert, während private Unternehmen unglaubliche Gewinne mit dem Verkauf und Vertrieb der Impfstoffe erzielten. Anstatt die Patente vollständig und unverzüglich aufzuheben, haben die nationalen Regierungen einen Impfstoff-Nationalismus betrieben - die Menschen in den Industrieländern wurden größtenteils geimpft, während die ärmeren Teile der Welt ungeschützt blieben, was das ständige Auftauchen neuer, möglicherweise noch gefährlicherer Viren fast unausweichlich machte. 

Eine Welt des Krieges

Nun hat der Wettbewerb zwischen den imperialistischen Mächten, angetrieben durch den "Neuen Kalten Krieg", den größten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Mit der von vielen längst vergessenen Drohung eines umfassenderen Krieges einschließlich des Einsatzes von Atomwaffen. Sollte diese Drohung tatsächlich wahr gemacht werden, könnte dies zur Zerstörung der Welt wie wir sie kennen führen. 

Wie die ISA in ihrer jüngsten Erklärung zum Krieg in der Ukraine sagte: "Ein Hauptmerkmal ist eindeutig der zunehmende imperialistische Militarismus, begleitet von aufflammenden Nationalismus und einer raschen Aufspaltung der Welt in zwei imperialistisch geführte Lager in einem neuen, gar nicht so kalten Krieg." Die menschlichen Kosten sind bereits entsetzlich. In weniger als zwei Monaten ist die Zahl der militärischen und zivilen Todesopfer bereits fast halb so hoch wie die Zahl derer, die in den fünf Jahren des Krieges im ehemaligen Jugoslawien starben. Fünf Millionen Ukrainer*innen sind ins Ausland geflohen, und noch einmal so viele sind "Binnenflüchtlinge". Wie auch immer die Kämpfe ausgehen, die Region wird nie wieder so sein, wie sie vorher war. 

Während die Aufmerksamkeit auf die Ukraine gerichtet ist, erwähnen die globalen Medien kaum, dass im Jahr 2022 weitere 21 Länder von Bürgerkriegen, Drogenkriegen, terroristischen Aufständen oder ethnischer Gewalt heimgesucht werden. Während der US-Imperialismus und die NATO den Krieg in der Ukraine als einen Krieg zur Verteidigung der "Demokratie" gegen den russischen Autoritarismus darstellen, unterstützen sie und ihre Verbündeten viele diktatorische Regierungen anderswo, einschließlich derer, die Kriege im Jemen, Irak, Syrien, Libyen, Äthiopien und anderswo führen. 

Unterdessen geht der heldenhafte Widerstand des Volkes von Myanmar gegen das Militärregime weiter, das vom chinesischen und russischen Imperialismus unterstützt wird. Bereits im Jahr 2021 erreichten die weltweiten Ausgaben für Waffen mit 2,1 Billionen Dollar ihren bisherigen Höchststand - 62 % davon entfielen auf nur fünf Länder: die USA, China, Großbritannien, Russland und Indien. In diesem Jahr sind sie sogar noch weiter gestiegen.

Klimakrise verschärft sich 

Kaum ein halbes Jahr ist seit dem COP26-Klimagipfel in Schottland vergangen, bei dem die Weltmächte wieder einmal dramatisch versagt haben, eine echte Lösung für die drohende Klimakatastrophe zu finden. Jetzt hat der Krieg in der Ukraine selbst die leeren Versprechungen, die sie damals gemacht haben, auf dramatische Weise über den Haufen geworfen. 

Die Hauptstrategie der westlichen imperialistischen Mächte, um sich von den russischen Energielieferungen zu lösen, zielt nicht auf die rasche Entwicklung grüner Energie ab, sondern auf die Suche nach alternativen Kohlenwasserstoffquellen und eine verstärkte Abhängigkeit von Kernenergie. Letztere wird wahrscheinlich an Bedeutung gewinnen, da die Staaten als Reaktion auf Putins Drohungen ihre eigenen Atomwaffenarsenale aufbauen. Hinzu kommt die bereits durch den Krieg verursachte Umweltzerstörung, insbesondere die Gefahren, die durch die Kämpfe um die ukrainischen Kernkraftwerke einschließlich Tschernobyl entstanden sind. Die Waldbrände, die Russlands Wälder verwüsten, und das Schmelzen des Permafrosts haben infolge des Krieges dramatisch zugenommen, da Feuerwehrleute und Rettungsdienste in die Ukraine entsandt wurden, um dort zu kämpfen. 

Das beschleunigte Schmelzen der Arktis schafft einen weiteren Konfliktherd, denn die Kapitalist*innen stehen Schlange, um die Kohlenwasserstoffressourcen auszubeuten, die unter dem einstigen Eis begraben sind. Die USA, Kanada, das Vereinigte Königreich, Schweden, Russland und China haben ihre Basen in der Region verstärkt, oft begleitet von einer Aufstockung der militärischen Streitkräfte.   

Wirtschaftskrise

Kurzfristig hat der Krieg auch die Weltwirtschaft in Mitleidenschaft gezogen. Wirtschaftsexperten waren der Meinung, dass die Wirtschaft die Krise 2020-21 überwinden würde. Doch schon vor der Ausbreitung von Omikron in China mit seinen "Zero-Covid"-Lockdowns, von denen 400 Millionen Menschen betroffen sind, und der sich entwickelnden Krise auf dem Immobilienmarkt waren sie besorgt über Inflation und Zahlungsausfälle. 

Jetzt kommen noch die durch den Ukraine-Krieg verursachten Energie- und Nahrungsmittelprobleme hinzu. Der Anstieg der Lebensmittelpreise war ein wichtiger Faktor, der zum "Arabischen Frühling" führte - bereits massive Preissprünge bei Weizen haben in Ländern wie Peru, Sri Lanka, Irak, Sudan und der Mongolei Hungerrevolten und Unruhen provoziert oder angeheizt.

Die internationalen Institutionen beeilen sich, ihre Wirtschaftsprognosen für das kommende Jahr nach unten zu korrigieren. Führende Volkswirtschaften wie Deutschland befinden sich Berichten zufolge bereits in einer Rezession oder stehen kurz davor. Für die russische Wirtschaft, je nach Maßstab die sechst- oder elftgrößte Volkswirtschaft der Welt, wird ein BIP-Rückgang vorhergesagt, der sogar noch größer ist als 1993, als das Land ins Chaos stürzte, als die sowjetische Planwirtschaft durch den "freien Markt" ersetzt wurde. Die brutale Zerstörung der ukrainischen Städte bedeutet, dass das BIP des Landes auf die Hälfte seines früheren Wertes einbrechen könnte. Natürlich sind es nicht die Reichen, die unter dieser Krise leiden - der Reichtum der Superreichen der Welt wächst weiter, während einfache Arbeiter*innen, Jugendliche, arme Landwirt*innen und Arbeitslose höhere Preise zahlen müssen und niedrigere Löhne erhalten als vor der Pandemie/dem Krieg.

Besonders hart trifft die derzeitige Situation Frauen. Aus der Ukraine gibt es schreckliche Berichte über Vergewaltigungen und anschließende Ermordungen von Frauen in Städten wie dem verwüsteten Butscha. Hunderte von Kindern sind bei den Kämpfen ums Leben gekommen. Menschenhändler nutzen die Flüchtlingsströme, die vor dem Krieg fliehen, aus, um die Nachfrage nach kriminellem Sexhandel und Sklaverei zu decken. All dies geschieht, bevor die weitreichenderen Auswirkungen des Krieges im eigenen Land spürbar werden, wenn Frauen die schwerste Last der Wirtschaftskrise, der in die Höhe schießenden Lebensmittelpreise und der weiteren Kürzungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und soziale Unterstützung zu tragen haben werden. In Somalia ist bereits ein deutlicher Anstieg der Zahl der Frauen und Kinder zu verzeichnen, die wegen Unterernährung in die Gesundheitszentren kommen, da der Krieg die Weizenlieferungen in das Land reduziert hat. 

Arbeiter*innen alles Länder vereinigt euch!

Das Zimmerwalder Manifest endete mit dem Aufruf "Arbeiter aller Länder vereinigt euch", in dem sie aufgefordert wurden, für die Emanzipation der unterdrückten Nationen und versklavten Klassen durch unversöhnlichen proletarischen Klassenkampf und für den Sozialismus einzutreten. Dies war ein klarer Aufruf an die Arbeiter*innen in aller Welt, die Politik der meisten sozialdemokratischen Führer*innen abzulehnen, die ihre eigenen kapitalistischen Klassen im Krieg unterstützten. Es blieb den russischen bolschewistischen Revolutionär*innen überlassen, den Sturz des russischen Kapitalismus anzuführen, so dass sich das Land aus dem Krieg zurückzog, während die deutschen und österreichischen Sozialdemokrat*innen die Revolutionen zum Sturz des Kaisers verrieten. Wenn diese zu ihrem logischen Ende geführt worden wären, indem sie den Kapitalismus stürzten, hätte das das Schicksal der Menschheit im 20. Jahrhundert grundlegend verändert.

Als Ergebnis des Kampfes der Arbeiter*innenklasse im vergangenen Jahrhundert wurde viel erreicht, vom Sturz von Diktaturen über die Befreiung von Ländern aus imperialistischer Herrschaft bis hin zu bedeutenden Fortschritten bei der Bereitstellung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung und Bildung. Der jahrzehntelange entschlossene Kampf für die Rechte von Frauen und der LGBT-Community hat zu einigen bedeutenden Erfolgen geführt. Aber da der Kapitalismus wieder einmal mit mehreren existenziellen Krisen konfrontiert ist, sind all diese Errungenschaften unter Beschuss geraten. Die sozialdemokratischen Parteien, die einst eine Massenbasis in der Arbeiter*innenklasse hatten, sind nun vollständig in das kapitalistische System integriert - einige der schärfsten Kriegstreiber*innen kommen heute aus der Führung der Sozialdemokratie und der Grünen. Die Führung der meisten neuen linken Formationen sind ebenfalls dem Appell ihrer eigenen kapitalistischen Klassen erlegen, die eine oder andere "Seite" im Krieg zwischen den imperialistischen Mächten zu unterstützen. 

Es ist jedoch klar, dass sich innerhalb der globalen Arbeiter*innenklasse tiefgreifende Veränderungen anbahnen. Diese Periode des Krieges ist nicht einfach eine Wiederholung der Periode zu Beginn des Ersten Weltkrieges, die dazu diente, die Kämpfe von Arbeiter*innen zu unterdrücken. Trotz des Krieges beginnen in vielen Ländern neue Schichten, aktiv zu werden und sich zu organisieren. Eine neue junge Generation wächst heran, die keine Perspektive für eine menschenwürdige Zukunft hat, und die zunehmend Erfahrungen mit international vernetzten Massenkämpfen wie der feministischen, der LGBT-, der #BLM- und der Klimabewegung macht. 

Vor allem die Beschäftigten in der Logistik, im Gesundheits- und Bildungswesen, im Einzelhandel, im Transportwesen und in anderen "systemrelevanten Bereichen" haben neues Selbstvertrauen gewonnen. Überall auf der Welt beobachten wir eine Zunahme von Arbeitskämpfen, von Streiks, Arbeitsniederlegungen, aber auch von Arbeitsverweigerung aufgrund der unerträglichen Bedingungen, die auch "Great Resignation" genannt wird. 

Die Arbeiter*innenklasse betritt trotz ihrer Organisations- und Führungskrisen erneut die Bühne der Geschichte. Sozialist*innen sollten und werden in diesem Prozess die aktivste Rolle spielen, indem sie Solidaritätsaktionen organisieren, Vorschläge machen und bei der Entwicklung von Forderungen und Taktiken helfen, insbesondere um sicherzustellen, dass die Arbeiter*innenklasse zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen handelt. Dafür braucht es eine kämpferische und demokratisch rechenschaftspflichtige Führung, die vom kapitalistischen Establishment unabhängig ist. Wir tun dies, um dazu beizutragen, dass Kämpfe in Siege verwandelt werden.  

Am wichtigsten ist jedoch, dass wir die Lehren aus der Vergangenheit ziehen müssen. Der Zimmerwalder Aufruf, für den Sozialismus zu kämpfen, war keine leere Phrase, um den Krieg zu beenden. Solange der Kapitalismus fortbesteht, wird es neue Krisen, neue Kriege geben. Wir müssen für eine neue, demokratische sozialistische Gesellschaft kämpfen, in der die Ressourcen der Welt in gesellschaftlichem Besitz sind und unter demokratischer Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung geplant werden, in der alle demokratischen Rechte - Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Wahlfreiheit - gewährleistet sind, in der Nationen und ethnische Gruppen das Recht auf Selbstbestimmung als Teil einer globalen demokratischen sozialistischen Föderation haben.

Um dies zu erreichen ist es notwendig, eine revolutionäre sozialistische Alternative aufzubauen, und wir nutzen den diesjährigen Internationalen Tag der Arbeit, um uns nicht nur erneut für diesen Kampf zu verpflichten, sondern um alle Arbeiter*innen, Frauen, Jugendlichen und diejenigen, die uns zustimmen, aufzurufen, sich uns beim Aufbau der Internationalen Sozialistischen Alternative anzuschließen. 

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