Indien: Vergewaltigung ist alltäglich

Frauenunterdrückung in Indien ist tief im feudalen Kastensystem und Kapitalismus verwurzelt
Shital Alhat & Sarika Chavan (Aktivistinnen aus Pune, CWI-Indien)

Massenvergewaltigungen in Delhi haben vor kurzem große Proteste ausgelöst, die sogar von den Medien aufgegriffen wurden. Das Parlament musste darauf Bezug nehmen und die Regierung war gezwungen ein paar Gesetze zum Schutz von Frauen vor Sexualverbrechen zu erlassen. Und doch sind solche Fälle nichts Ungewöhnliches. In der Zeit nach dem Massenaufschrei, zwischen 1. Jänner und 15. Februar 2013, wurden 181 Fälle von Vergewaltigung gemeldet. Die Opfer reichten von einem vierjährigen Kind bis hin zu einer 60jährigen Frau. Letztes Jahr gab es in Maharashtra (westliche Region in Indien) einen Fall von „Ehrenmord“, bei dem ein Vater seine Tochter tötete, weil diese einen jungen Mann aus einer anderen Kaste heiraten wollte. Zwei Jahre davor wurde dieselbe Region vom brutalen Khairlanji-Massaker erschüttert, wo eine Dalit Familie (d.h. Familie aus niedriger Kaste) von Menschen aus oberen Kasten ermordet wurde. Zuvor wurden die Frauen dieser Familie nackt vorgeführt und vergewaltigt.

In allen Teilen des Landes gibt es religiöse und kulturelle Bräuche, die Verbrechen gegen Frauen vorschreiben bzw. rechtfertigen. Die Zahl derartiger Verbrechen ist verstörend. Ein Bericht von 2012 schätzt, dass es rund 100 Millionen Fälle von Morden an weiblichen Kindern gibt, wobei 1 Million Mädchen ihren ersten Geburtstag nicht erleben. Laut Statistik kommen auf 1000 Männer nur 940 Frauen. Das Leid von Frauen in Indien erinnert an das dunkelste Mittelalter. Die Gründe dafür sind vielfach und komplex.

Bestimmte von Stämmen dominierte Gebiete, besonders jene in den Randzonen des Landes, haben noch andere kulturelle Eigenheiten. Soziologische Studien über diese Stämme zeigen, dass Frauen dort gleichgestellt bzw. höhergestellt als die Männer des Stammes sind. Sie feiern die Geburt von Mädchen und es gibt mehr Frauen als Männer. Warum dieser Unterschied zu anderen Regionen? Ein Blick auf ihr soziales Leben zeigt, dass Frauen dort einen höheren Grad an Unabhängigkeit (inklusive sexueller Unabhängigkeit) haben. Sie können ihre Partner auswählen. Das wirtschaftliche Leben basiert hauptsächlich auf Gemeineigentum über die Ressourcen der Umgebung. Sie sind nicht Teil des hinduistischen Kastensystems und viele folgen in der Vererbung der mütterlichen Linie einer matrilinearen Gesellschaft (Vererbung über die mütterliche Linie, Anm.). D.h. diese Faktoren führen zu einer Gesellschaft mit mehr Gleichberechtigung.

Brahmanische Texte (religiöse Texte des Hinduismus, geschrieben von Brahmanen, einer höhergestellten Priesterkaste) schreiben ungebundenen Frauen niedrigeren Status zu und halten fest, dass diese geschützt und kontrolliert werden müssen. Das hat viele Bräuche initiiert, die die Versklavung von Frauen institutionalisierten. Trotz sporadischer Reformen hält sich der orthodoxe Brahmanismus hartnäckig.

Die Kontrolle über die weibliche Sexualität war Schlüssel für die „Reinheit“ des Kastensystems. Die Massenvergewaltigungen an Dalit-Frauen und Ehrenmorde sind Zeugnis dieses grausamen Systems. Muslimische und christliche Frauen leiden aber genauso.

Der indische Kapitalismus wuchs nicht gegen das feudale Kastenwesen, sondern mit dem Kastensystem. Dieses bot dem Kapitalismus bereits unterdrückte Massen – und Frauenunterdrückung war Teil davon. Die Globalisierung hat nur eine schöne Oberfläche, über das verfallene soziale System gelegt. Unter dieser modernen Oberfläche ist das soziale Leben immer noch von patriarchalen Familienstrukturen geprägt. Laut Umfragen kommen 99 % der Prostituierten aus wirtschaftlich rückständigen Klassen. Gleichzeitig beuten Werbung und Marketing den weiblichen Körper skrupellos aus. Frauen sind ein wichtiger Teil der ArbeiterInnenklasse und arbeiten vorwiegend in schlecht organisierten Niedriglohnsektoren. “Gleicher Lohn für gleiche Arbeit” wird nicht angewandt. Hausarbeit ist einzig und allein die Arbeit der Hausfrau und wird natürlich nicht bezahlt.

Trotzdem haben die Frauen Indiens einen mutigen Kampf gegen ihre Ausbeutung geführt. Die Kämpfe gegen Frauenunterdrückung werden täglich in vielen Haushalten auf individueller Ebene geführt. Diese Kämpfe können in Zukunft als starke Bewegung auf kollektiver Ebene aufbrechen, wenn sie mit dem Kampf gegen das Kastensystem und den Kapitalismus verbunden werden. Sie haben das Potential, Frauenunterdrückung samt Kastensystem und Kapitalismus hinter sich zu lassen und den Weg für eine sozialistische Gesellschaft zu ebnen.

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