In Europa kommt es zu einer neuen Welle von Arbeitskämpfen

Erneut beteiligen sich die Beschäftigten an einer Revolte gegen den „betagten und abgehalfterten“ Kapitalismus in Europa

Übersetzung des Leitartikels aus “The Socialist” (Ausgabe Nr. 837), der Wochenzeitung der “Socialist Party” (Scchwesterorganisation der SLP und Sektion des CWI in England und Wales)

 

Erneut beteiligen sich die Beschäftigten an einer Revolte gegen den „betagten und abgehalfterten“ Kapitalismus in Europa, so die ziemlich korrekte Beschreibung, mit der der Papst jüngst an die Öffentlichkeit getreten ist. Nach sechs Jahren, in denen wir uns nun schon in “der Großen Rezession” befinden, sind Austerität und Massenarbeitslosigkeit zu einem Dauer-Phänomen auf dem Kontinent geworden. In der EU suchen insgesamt 18 Millionen Menschen nach einer Erwerbstätigkeit und finden keine. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei unglaublichen 23 Prozent. In Griechenland und Spanien liegt sie bei 50 Prozent. In den ersten Jahren nach Krisenbeginn ist die ArbeiterInnenklasse in einem Land nach dem anderen auf die Straße gegangen und hat einen Kampf geführt, den man mit Fug und Recht als heldenhaft bezeichnen darf. Ziel war es, die Arbeits- und Lebensbedingungen zu verteidigen. Diese Bewegungen sind nicht deshalb gescheitert, weil es an der nötigen Entschlossenheit gefehlt hätte, sondern weil das vorhandene politische Führungspersonal versagt hat. Die ArbeiterInnen hatten nicht die demokratischen Strukturen bzw. Massenorganisationen der Arbeiterklasse zur Verfügung (es fehlten sowohl Gewerkschaften als auch Parteien), mit denen sie den nötigen Druck auf die amtierenden Vorstände hätten ausüben oder diese sogar ersetzen können.

Atempause

So kam es nach der ersten Runde im Kampf gegen die Austerität zu einer Atempause. Die Beschäftigten mussten Luft holen und die Lage zunächst einmal überblicken. Dass sich daraufhin in einigen Ländern Demoralisierung breitmachte, war unvermeidlich. Wir mussten sogar Tendenzen feststellen, die in Richtung Verzweiflung gingen. Auch spalterische Elemente gewannen an Raum. Diese Phase geht jetzt allerdings zu Ende. Die Hoffnung, dass die Krise nur von kurzer Dauer sein würde, schwindet, weil Europa erneut von einer Rezession betroffen ist und die ArbeiterInnen in mehreren Ländern zu der Schlussfolgerung gelangt sind, dass der einzige Ausweg darin besteht sich wehren zu müssen. Natürlich sind in einigen Ländern in gewissem Umfang weiterhin reaktionäre Aspekte vorhanden. Es ist noch nicht überall zu einem neuen Aufschwung an Kämpfen gekommen. Jedoch geben die mächtigen Kämpfe, die wir in Irland und Belgien erleben, der Aufstand an der Wahlurne, zu dem es beim Referendum in Schottland gekommen ist, und die bedeutenden politischen Entwicklungen in Spanien einen Geschmack davon, was uns auf dem gesamten Kontinent noch bevorsteht. Dies alles sind Beispiele dafür, wie schnell sich die Dinge entwickeln können, wenn der enormen Wut und Frustration, die unter der Oberfläche in der Gesellschaft gärt, erstmal eine Schneise geschlagen wurde. In Belgien hatte sich die kapitalistische Klasse bislang nicht getraut, in dem Ausmaß von Austeritätsmaßnahmen Gebrauch zu machen, wie es in den meisten anderen Ländern Europas geschehen ist. Man fürchtete die Antwort, die die ArbeiterInnenklasse darauf gegeben hätte. Jetzt aber versucht die neue Regierung nachträglich wie eine gedopte Margret Thatcher vorzugehen. Die Reaktion der Gewerkschaftsvorstände bestand in einer landesweiten Demonstration, an der sich nicht weniger als 150.000 Menschen beteiligten. In einem Land mit nur elf Millionen EinwohnerInnen war das die größte Demonstration seit 1986. Seitdem hat es drei regionale Generalstreiks gegeben, die jeweils über 24 Stunden gingen und am 15. Dezember in einen eintägigen landesweiten Generalstreik mündeten. Dabei hat es sich nicht um Generalstreiks nach dem Motto gehandelt: „Heute bleiben alle mal zu Hause“. Stattdessen ist es in einigen Betrieben zu Massenversammlungen gekommen, auf denen über die richtige Streiktaktik diskutiert wurde. In Presseberichten wird davon gesprochen, dass es allein in Ost-Flandern in 500 Betrieben zu Arbeitsniederlegungen mit Menschenketten und 10.000 Streikposten gekommen ist. In dieser historischen Epoche war es das erste Mal in Europa, dass Gewerkschaftsführungen zu einem Generalstreik aufgerufen haben, nicht nur um „Druck abzulassen“ sondern auch mit der Idee, tatsächlich eigene Forderungen durchzusetzen und sogar die Regierung zu Fall zu bringen. Die atemberaubende Antwort der belgischen ArbeiterInnenklasse zeigt, was möglich ist, wenn die Gewerkschaftsvorstände nur den kleinen Finger heben. Die Stimmung unter den Streikenden ist von der Entschlossenheit gekennzeichnet, den Kampf bis zu Ende zu führen. Es kann sein, dass die Gewerkschaftsvorstände versuchen werden, wieder Halt zu machen, weil sie Angst vor der Macht einer Bewegung bekommen, die sie selbst in Gang gebracht haben. Das wird allerdings nicht einfach sein. Die Schwesterorganisation der „Sozialistischen LinksPartei“ (SLP) in Belgien, die „Linkse Socialistiche Partij/Parti Socialiste de Lutte“, führt eine Kampagne für eine neue Runde an Maßnahmen und Aktionen im Neuen Jahr. Wir machen uns in Belgien dafür stark, diese Aktionen dann in einen 48-stündigen Generalstreik einfließen zu lassen.

Gefahren

Wir warnen aber auch davor, dass der Sturz der Regierung nicht automatisch das Ende der Austerität bedeutet. Die Gewerkschaftsvorstände hoffen, dass es wieder zur Regierung des alten Dreiecksbündnisses kommt, an der dann auch die Sozialdemokratie beteiligt ist. Eine solche Regierung würde die Kürzungen vielleicht behutsamer durchführen, grundsätzlich aber mit derselben Politik fortfahren, wie sie von den amtierenden Sensenmännern und -frauen derzeit betrieben wird. Für den Fall hätte es die neue Regierung jedoch mit einer ungemein stärkeren und viel entschlosseneren ArbeiterInnenklasse zu tun, die eine Regierung eben zu Fall gebracht hätte und von der nächsten keine Schlankheitskur massiver Austeritätsmaßnahmen akzeptieren würde. Damit die mächtige Bewegung der belgischen ArbeiterInnenklasse auch auf politischer Ebene ihren Ausdruck finden kann, wird die Frage nach einer neuen Massenpartei der ArbeiterInnen sehr bald und sehr dringend zu beantworten sein. Während die Gewerkschaftsvorstände in Belgien zum Handeln gezwungen worden sind, so haben sie in Irland – wie in vielen anderen Ländern auch – darin versagt, entsprechend vorzugehen. Was die großartige Bewegung gegen die Wasser-Abgaben in Irland allerdings klarmacht, ist, wie begrenzt die Schritte sind, zu denen sich die Gewerkschaftsvorstände (als Bestandteil des gesellschaftlichen Kampfes) überhaupt bereit erklären. Angesichts der ungeheuerlichen Wasser-Abgaben wird Irland momentan von riesigen Demonstrationen heimgesucht.
Wurde die irische Bevölkerung von den kapitalistischen Medien bis vor kurzem noch mit Hohn und Spott bedacht, weil sie doch so passiv sei wie eine Herde Schafe (mit dem Begriff „sheeple“ wurden die englischen Ausdrücke für „Bevölkerung“ [„people“] und „Schafe“ [„sheep“] miteinander verbunden), so ist man nun dazu übergegangen, die Menschen als „den Mob“ zu brandmarken. Der Grund dafür ist, dass die Leute es wagen, sich zu erheben.

Die „Socialist Party“, unsere Schwesterorganisation in Irland, und ihre drei Parlamentsabgeordneten haben eindeutig und klar dazu aufgerufen, die neue Abgabe massenhaft zu boykottieren. In Umfragen haben 60 Prozent der Befragten angegeben, dass sie die Steuer nicht zahlen werden.
Die Regierung ist durch die Intensität der Bewegung bereits derart aus den Fugen geraten, dass sie sich schon dazu gezwungen sah, die Abgabe zu senken und sie zu einem späteren Zeitpunkt einzuführen als eigentlich vorgesehen war.

Zuversicht und Selbstvertrauen

So etwas kann der Bewegung natürlich Zuversicht und Selbstvertrauen geben, dass auch ein vollständiger Sieg im Bereich des Möglichen liegt. Wie in Belgien steht auch in Irland die Frage nach einer politischen Alternative zur Austerität im Raum. Ein Zusammenbruch der Regierung ist jederzeit möglich. Die „Socialist Party“ und das Bündnis „Anti-Austerity Alliance“ (AAA) rufen dazu auf, bei den nächsten Wahlen KandidatInnen aufzustellen, die aus der Bewegung gegen die Wasser-Abgabe kommen. Sie sollen nicht nur für die Rücknahme dieser Sondersteuer stehen sondern für eine Regierung, die mit der Austerität und dem Kapitalismus bricht.

Auch in anderen Ländern kommt es dazu, dass sich neue Bewegungen entwickeln. In Italien hat ein Generalstreik gegen die Angriffe der Regierung Renzi stattgefunden. In Ungarn ist es zu Großdemonstrationen gekommen. In Nordirland besteht die Aussicht auf einen Streik im öffentlichen Dienst. Gleichzeitig gilt für beinahe jedes Land, dass die kapitalistischen Parteien immer weniger in der Lage sind, im Sinne ihrer Klasse effektiv „durchzuregieren“. Wer nämlich im Sinne des Kapitalismus handelt, zieht in zunehmendem Maß den Hass der Mehrheit auf sich. Die alten Schläuche, mit denen bisher Politik gemacht wurde, gibt es nicht mehr, sie sind zerstört worden. Das gilt auch für Großbritannien, wo die nächste Regierung wahrscheinlich aus einer zerbrechlichen Koalition des „kleineren Übels“ bestehen wird. Selbst im „ach so stabilen“ Schweden ist gerade eine Regierung zusammengebrochen – nach nur drei Monaten im Amt! Weil die bestehende Anhängerschaft der kapitalistischen Parteien bröckelt, gibt es enorm viel Platz für die Entwicklung neuer Kräfte, die Programme gegen die Austerität haben. So wird die linke Partei SYRIZA in Griechenland wohl die nächsten Wahlen für sich entscheiden, zu denen es schon in ein paar Wochen kommen kann, sollte das Parlament sich nicht auf einen neuen Präsidenten einigen können. Die kapitalistische Klasse versucht derart verzweifelt, dieses Szenario zu verhindern, dass sie einen Fond aufgelegt hat, um die griechischen Abgeordneten zu bestechen. Millionen von Euro sollen verhindern, dass es zu Neuwahlen kommt. Damit ist nicht gemeint, dass man Angst vor der Führung von SYRIZA hätte! Diese ist schließlich immer weiter nach rechts gerückt und versichert dem griechischen wie auch dem internationalen Kapitalismus ständig, dass sie keine Bedrohung darstellt. Angst hat man vielmehr vor einer mächtigen Bewegung, die anlässlich von Neuwahlen entstehen würde. Die griechische ArbeiterInnenklasse würde versuchen, sich das zurückzuholen, was ihr in den letzten Jahren geklaut worden ist. In einigen anderen Ländern hat das Fehlen einer linken Massenpartei zu einem Vakuum geführt, das von rechtsextremistischen und rechts-populistischen Kräften ausgefüllt wird. Sie waren zu einem gewissen Maß in der Lage, den entsprechenden Platz auf der Wahl-Ebene einzunehmen. Das war ihnen nur deshalb möglich, weil sie sich – mal mehr mal weniger – eine linke „antikapitalistische“ Rhetorik angeeignet haben. Von daher ist noch nicht einmal völlig auszuschließen, dass Marine Le Pen, die Chefin der extremen Rechten in Frankreich, die nächsten Präsidentschaftswahlen gewinnt.
Sollte ihr das gelingen oder sollte sie auch nur den Anschein machen, als sei sie sicher, dass ihr das gelingen könnte, dann würde dies zu Massendemonstrationen und sogar zu Streiks führen. Ein Vergleich zur riesigen Bewegung des Jahres 1934 wäre angebracht, als es in Frankreich gegen den Faschismus ging. Neue linke Bewegungen können sich sehr schnell entwickeln. PODEMOS existiert noch nicht einmal ein Jahr und führt in Spanien mit 28 Prozent Zustimmung schon die Meinungsumfragen an. Ähnliche Entwicklungen werden wir auch in anderen Ländern erleben, wenn die ArbeiterInnen und jungen Leute, die sich gegen die Austerität wehren, zu der Schlussfolgerung kommen, dass sie – wollen sie wirklich Erfolg haben – eine politische Stimme brauchen. Die Zukunft eines kapitalistischen Europas wird von Niedergang und Verfall gekennzeichnet sein. Die Euro-Krise ist noch nicht zu Ende. Im Gegenteil! Wenn die nationalen Spannungen zunehmen, wird die Lage explodieren. Und zu einem gewissen Zeitpunkt kann das zum Bruch der Eurozone führen. Die ArbeiterInnenklasse Europas ist unvorbereitet in die Große Rezession gerutscht. Auf den veritablen Krieg, den die herrschende Klasse gegen ihre Lebensbedingungen führt, war sie nicht gefasst. Und trotzdem hat sie sich beeindruckend gewehrt. Die Lehren, die aus diesen ersten Schlachten zu ziehen sind, sind allmählich verdaut. Langsam ist der Boden bereitet, auf dem nicht nur die nächste Runde an Kämpfen eingeläutet werden kann, sondern auf dem auch Millionen von Menschen zu verstehen beginnen, dass es eine Alternative zum Kapitalismus gibt: eine demokratische sozialistische Föderation Europas.