Filmkritik: Der Vorleser

Die oscargekrönte Verfilmung des Romans von Bernhard Schlink "Der Vorleser" läuft seit Februar in Österreichs Kinos. Behandelt wird darin die Geschichte der 36 jährigen Analphabetin Hanna und des 15 jährigen Schülers Michael, die im Deutschland der Nachkriegszeit eine intensive Beziehung beginnen. Immer wieder bittet sie ihn, ihr aus verschiedensten Büchern vorzulesen. Sie verlieren sich jedoch aus den Augen, und er beginnt, Jus zu studieren. Die beiden sehen sich bei Hannas Prozess wieder, bei dem sie als ehemalige KZ- Aufseherin zu lebenslänglicher Haft verurteilt wird.
Der Film zeichnet ein vielschichtiges Bild der Charaktere und setzt sich intensiv mit der Schuldfrage auseinander. Auch klassische Gut-Böse-Klischees werden in Frage gestellt. Hanna ist keine Sadistin, wusste aber genau was sie tat, als sie 300 jüdische Frauen in einer brennenden Kirche einsperrte. Sie ist keine überzeugte Nationalsozialistin, trotzdem schämt sie sich für ihren Analphabetismus mehr als für den Tod von Hunderten Menschen, den sie verschuldet hat.

Kontroversen

Der Film ist zurzeit Gegenstand zahlreicher kontroverser Diskussionen. Der US- Journalist Ron Rosenbaum schreibt zum Beispiel: "Die essenzielle Botschaft, die dieser Film vertritt, ist jene, jedem Deutschen in der Nazizeit eine Absolution zu erteilen, je etwas von der Endlösung gewusst zu haben." Doch Rosenbaum kann sich mit dem Film jedoch nicht genau beschäftigt haben, denn an keiner Stelle wird jemand juristisch oder moralisch von Schuld freigesprochen.
Dennoch wirkt die Gewichtung der Schwerpunkte fragwürdig. Wie kann die Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben den Tod so vieler Menschen aufwiegen? Denn die lebenslängliche Haftstrafe bekommt Hanna nur aus folgendem Grund: Als ihr der Bericht über das Massaker vorgelegt wird, den sie angeblich geschrieben haben soll und der sie dadurch als Hauptverantwortliche belastet, zieht sie es vor, ihren Analphabetismus zu verheimlichen und die Höchststrafe zu bekommen.

Fehlgeschlagene Entnazifizierung

Im "Vorleser" werden Hannas Komplizinnen, alle ebenfalls KZ-Wärterinnen, die sich genauso schuldig gemacht haben, zu lächerlich kurzen Haftstrafen verurteilt. Dies ist nicht so weit von der damaligen Wirklichkeit entfernt. Von 13.000 in Österreich nach dem Kriegsverbrechergesetz Verurteilten befanden sich zum Zeitpunkt des Abschlusses des Staatsvertrages nur noch 14 (!) in Haft. In Österreich wurde noch mehr als in Deutschland eine gründliche Entnazifizierung verabsäumt. Hauptschuld tragen daran SPÖ und ÖVP, die bereits früh das WählerInnenpotential der "Ehemaligen" erkannten und für sich nützen wollten. Für KZ-Schergen wurden sogar Pensionen und Entschädigungen gezahlt. Demgegenüber kam niemand auf die Idee, die 120.000 vertriebenen Juden und Jüdinnen wieder in die Heimat zu bitten. Ganze Opfergruppen sind bis heute von jeglicher Entschädigung ausgeschlossen.

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