Die Situation von Frauen in der Türkei: eine Bilanz zum 8. März

Ecehan Balta

Dieser Artikel erschien zuerst in türkischer Sprache am 4. März 2020 auf der Website von „Sosyalist Alternatif”, der Schwesterorganisation der SLP in der Türkei und Kurdistan.

Link zum Originalartikel auf Türkisch: https://www.sosyalistalternatif.com/8-marta-dogru-turkiyede-kadinin-duru...

 

Wie auf der ganzen Welt arbeiten Frauen in der Türkei verglichen mit Männern mehr und verdienen weniger. Beispielsweise bekommen Frauen durchschnittlich 20 % weniger Gehalt als Männern obwohl sie gleiche Ausbildung haben. 

Während sich die Krise des Kapitalismus vertieft, tritt die Verarmung von Frauen in eine brutale Phase. Sogar in höchst „entwickelten kapitalistischen“ Ländern sind Arbeitslosengeld sowie eine universelle soziale Absicherung, die auch Frauen einschließt, nicht vorhanden. Zudem wird die stetig wachsende Nachfrage nach einem sicheren und gesicherten Arbeitsplatz nicht erfüllt. Im Gegenteil: die allgemeine Unsicherheit über fehlende Jobsicherheit und Prekarität steigt. Einerseits sind eine Verarmung von Frauen und Armut als zunehmend weibliches Phänomen zu sehen, andererseits beobachten wir einen Anstieg der Zeitnot von Frauen infolge steigender Ausbeutung der Arbeitskraft.

In dieser neuen Stufe der Kapitalakkumulation, besteht darüber hinaus eine übermäßige Ausbeutung der Reproduktions- und Kinderbetreuungsarbeit. Ökonomische und ökologische Krisen haben weltweit zur Folge, dass Frauen mehr arbeiten müssen, um Alters- sowie Kinderbetreuung zu gewährleisten, um sich um das Essen zu kümmern und um Wasser aus der Ferne in die Wohnung zu tragen. Frauen verschwenden ihre Zeit mit Wassertransport aus Wasserquellen, die Dutzende Kilometer entfernt sind, mit der Arbeit als Haushälterin (oft pro Dienstleistung), und als Arbeiterinnen in der Landwirtschaft (meistens unentgeltlich), weil es nicht als ernste Arbeit gezählt wirdNicht zuletzt auch dienen sie zur Vermehrung von Arbeitskräften infolge einer Politik, die Bevölkerungswachstum forciert. Das wird als „pronatalistische“ Politik bezeichnet.

Weltweit führen der Pronatalismus und häusliche Arbeit ohne soziale Sicherheit zu einer strengeren Kontrolle über den weiblichen Körper und die Arbeitskraft. Die Kontrolle weiblicher Körper benötigt die Religion sowie den Konservatismus. Neoliberalismus nimmt dabei Hilfe von konservativsten Versionen der Religionen.

Geschichte, soziale und kulturelle Bedingungen jedes Landes bestimmen Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Bis in die 70er Jahre wurde die Entwicklung der Türkei durch die Landwirtschaft geprägt und war daher auf unbezahlte Familienarbeit angewiesen. Bis vor den 2000er Jahren, als die Türkei zum EU-Beitrittskandidaten wurde, dominierte eine antinatalistische Bevölkerungspolitik. In den 2000er Jahren, bevor der Neoliberalismus weltweit gescheitert ist, brachten heftige Kämpfe von Frauen relativ erfolgreich in kurzer Zeit konkrete Verbesserungen. Dank dieser Kämpfe besitzt die Türkei bei verschiedenen Themen Gesetze und Verordnungen (zumindest auf dem Papier), welche Errungenschaften von Frauen darstellen. Im Jahr 2011 war die Türkei das erste Land, das die Istanbul-Konvention ratifiziert hat, ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Doch wir stehen an dem Punkt wo die Auslegung und Umsetzung dieser Gesetze immer noch unter dem Regime des Patriarchats stattfindet und sich so jene Errungenschaften nicht darin wiederspiegeln.

Gewalt an Frauen

Wie in der ganzen Welt stellt Gewalt an Frauen ein Mittel, ein Schlüsselinstrument dar, um weibliche Körper zu kontrollieren. Laut einer Studie von KSGM (Allgemeine Direktion über die Lage der Frauen) vom Jahr 2008 ist jede Frau in der Türkei zumindest einmal sexueller, physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt gewesen. Diese Anzahl ist höchstwahrscheinlich noch niedriger als die Realität, wenn man auf Unsicherheiten (die bei der Unterscheidung zwischen Gewaltarten entstehen) Rücksicht nimmt, die meisten Frauen benennen psychische Gewalt, Vergewaltigung in der Ehe oder ökonomische Gewalt nicht eindeutig als Gewalt. Zahlreiche Berichte von STK (Organisation der Zivilgesellschaft) haben eine stetige Zunahme der Gewalt an Frauen seit 2008 bis heute bestätigt. 

Ein anderer kritischer Punkt ist Frauenmord. Zu diesem Thema fehlt die wissenschaftliche Forschung. Trotzdem beträgt, Debatten im Parlament zufolge, die Zunahme der Frauenmorde zwischen den Jahren 2003-13 1.400 %. Im Jahr 2003 wurden 83 Frauen von Männern ermordet, diese Zahl ist 2016 auf 329 angestiegen, und 2019 auf 474. 

Anmerkung der Übersetzerin: In der Türkei sind Gewaltexzesse an Frauen keine Seltenheit. Besonders 2019 machten grausame Frauenmorde - wie der an der 20-jährigen Kunststudentin Ceren Özdemir - Schlagzeilen und sorgten für Empörung in der türkischen Öffentlichkeit. Nach Angaben der Plattform "Wir werden Frauenmorde stoppen" wurden vergangenes Jahr mit 474 Morden an Frauen ein Höchstwert erreicht. Trotz der schockierenden Zahlen scheint die konservative AKP-Regierung wenig Interesse an einer Gewaltbekämpfung zu haben, das zeigt sich besonders an der derzeitigen Debatte um die Istanbul-Konvention: https://www.dw.com/de/frauenschutz-in-der-t%C3%BCrkei-eine-bombe-f%C3%BCr-die-familie/a-53456994

Frauen im Mittelpunkt des sozialen Elends des Kapitalismus 

Durch das Zusammentreffen des Neoliberalismus und der ökonomischen Krise einschließlich der pronatalistischer Bevölkerungspolitik wird eine autoritärere und konservativere Politik unvermeidbar. Eine Sparpolitik aufgrund der ökonomischer Krise hat zur Folge, dass zuallererst Ausgaben für Bildung und Gesundheit reduziert werden.

Im Jahr 2018 geben 12 von 100 Frauen an, dass medizinische Kosten für Reproduktionsgesundheit nicht von Krankenkassen abgedeckt werden. [1]

2019 betrug die Inflation bei Nahrungsmitteln wie Gemüse 94 %. 60 % von Frauen sind ohnehin unterernährt. Hohe Preise erschweren den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Aus den genannten Gründen kam es zu einem rasanten Anstieg der Müttersterblichkeitsrate.

Abhängig davon wurde wie auf der ganzen Welt auch in der Türkei die pränatale medizinische Versorgung reduziert und die Rate an Hausgeburt stiegen an. In Asien versterben 920 von 100.000 Frauen, in der Türkei hingegen 400, an Ursachen, die in Verbindung mit einer Schwangerschaft stehen.

Die größte Heuchelei ist, dass diejenigen, die Frauen sagen, sie sollen Kinder gebären, gleichzeitig eine Politik vertreten, die Ausgaben für soziale Sicherheit verringert, um Arbeitskosten herabzusetzen und um die Bindung von Frauen an ihre Familie zu verstärken. Diejenigen, die die Körper von Frauen unter Kontrolle halten und das „Leben des Fetus“ schützen wollen, missachten das Leben von Frauen, anstatt den Gesundheitsschutz von Frauen zur Priorität zu machen.

Die größte Farce, die die Herrschenden betreiben, ist die Darstellung des weiblichen Körpers im Rahmen religiöser Lehre und Ethik, angefangen bei der Debatte um Abtreibung. Der Slogan „Mein Körper, meine Entscheidung!“, den die Frauenbewegung seit Jahren auf der ganzen Welt verwendet, hat noch eine andere, kraftvolle Aussage: universelle Menschenrechte von Frauen. 

Anstieg der Arbeitslosigkeit ist ein anderes wichtiges Merkmal dieser Periode und hat enorme Auswirkungen auf Frauen. 

In der Türkei ist die nicht-landwirtschaftliche Arbeitslosenquote (junge Frauen betreffend) 35,4 %. Zusammen mit den Schwierigkeiten beim Zugang zu Nahrungsmitteln nimmt die Arbeitssuche von Frauen parallel zur Arbeitslosenquote zu.

Die gewaltsame Beseitigung demokratischer Rechte, Unterdrückung und die Frauenbewegung

Der Prozess der Einschränkung der Grundrechte und -freiheiten nimmt seit 2013 aus Angst vor einem möglichen neuen Aufstand zu, insbesondere nach der Unterdrückung des Gezi-Aufstands. Nach dem „Staatsstreich“ vom 15. Juli 2016 hat der zweijährige Ausnahmezustand (OHAL) dies verstärkt, und die nach dem Ende des Ausnahmezustands im Jahr 2018 erlassenen Gesetze führten dazu, dass der Ausnahmezustand wie gewohnt fortgesetzt wird. Gouverneure sind nunmehr dazu berechtigt beinahe alle Demonstrationen zu verbieten, abseits davon werden z.B. Versammlungen oder Filmfestivals von LGBTQ-Gruppen nicht erlaubt. Außerdem kündigte das Gouverneursamt von Istanbul an, dass alle Aktivitäten unter dem Titel "Nein zum Krieg" verboten seien. Das zeigt uns wie gefährlich die politische Lage in der Türkei ist.  

Trotz dieser Untersagungen und des Ausnahmezustands stellt die Frauenbewegung, eindrucksvoll bewiesen durch die 8. März-Demonstrationen mit Zehntausenden Teilnehmerinnen, nicht nur die Hauptkraft der Opposition dar, sondern ermutigt auch alle anderen Oppositionsbewegungen. Anfang 2019 scheiterte jedoch die Initiative Kadınlar Birlikte Güçlü („Frauen sind zusammen stark“), die das Potenzial hatte, diese Hoffnung einen Schritt vorwärts zu bringen, aus diversen, aber auch aus subjektiven Gründen innerhalb der Frauenbewegung. 

Frauen und die Zerstörung des Krieges

Der Krieg, den die Türkei in Syrien führt, liegt begründet in einem Albtraum und gleichzeitig einem imperialistischen Traum der Türkei. Ihr Albtraum wäre die Gründung eines autonomen Kurdischen Staates an der Südgrenze der Türkei. Ihr Traum ist hingegen eine imperiale Macht in der Region, durch die neo-osmanische Strategie mithilfe von dschihadistischen Gruppen in Syrien, zu werden.

Eine der Hauptfolgen des Syrienkrieges ist das Flüchtlingsproblem. Dem Krieg in Syrien entkommen Menschen, die in der Türkei Zuflucht suchen wollen. Der schlechten Lebensbedingungen und rassistischen Angriffe in der Türkei entkommen diejenigen, die in Europa Zuflucht suchen möchten. Europa hingegen drängt Flüchtlinge zwischen zwei Grenzen, in dem sie die europäischen Grenzen schließt. 

Krieg macht Frauen, die darin leben und ihm entkommen, das Leben extrem schwer. Verantwortung in der Kinderbetreuung sowie Vergewaltigungen, die nach dem Bosnienkrieg als Kriegsverbrechen bezeichnet wurden, nehmen massiv zu. Neben Vergewaltigungen durch Soldaten ist Frauenhandel eine andere Dimension von Gewalt. [2] Neben dem Kampf gegen Krieg sollte eine sozialistische feministische Bewegung den Aufbau und die Verstärkung von solidarischen Netzwerke für Flüchtlingsfrauen erneut auf die Tagesordnung setzen.

 

www.sosyalistalternatif.com

 

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[1] Diese Zahlen sind Daten von TDHS 2018 und stammen aus der Präsentation von Meltem Çiçeklioğlu auf der Arbeits- und Gesundheitskonferenz für Frauen, die vom 21. bis 23. Februar 2020 von TTB und der Ärtzekammer von Izmir organisiert wurde.

[2] Hinweis der Übersetzerin: Mehr zu diesem Thema in dieser Reportage: https://www.dw.com/de/syrische-fl%C3%BCchtlinge-verkaufen-ihre-t%C3%B6ch...