Die Rückkehr des „erlaubten“ Kriegs und die neue Weltordnung

Was bedeuten die NATO-Bomben für unsere Zukunft?
Ken Horvath

In Europa herrscht Krieg. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde das „Ende der Geschichte” und ein Zeitalter des Friedens und der Stabilität prophezeit. Kriege sollten „verboten“ werden. Tatsächlich folgten dem Kalten Krieg zwischen NATO und Warschauer Pakt heiße Konflikte, neue Aufrüstung und Instabilität. Die NATO versucht seit zehn Jahren, als militärischer Arm des westlichen Imperialismus, eine neue Weltordnung zu konstruieren. Jedes Mittel scheint hierbei erlaubt: Von der Kriegspropaganda, die eine neue militärische Kategorie - jene des ”sauberen Krieges” - geschaffen hat, bis zu einem Bruch völkerrechtlicher Verträge und Grundlagen, wie es das seit dem II. Weltkrieg nicht mehr gegeben hat.
Der Niedergang des Stalinismus bedeutete einen ideologischen Sieg des Kapitalismus. Die USA verblieb als einzige Supermacht. Durch die Restauration des Kapitalismus in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion wurde die Herrschaft des Kapitals wieder global. Mit dem Wegfall der Sowjetunion haben sich auch die Führer nationaler Befreiungsbewegungen -wie die des ANC, der PLO u.a.- mit dem Imperialismus arrangiert, bzw. sich in dessen Werkzeuge verwandelt. Der Eindruck von der unüberwindbaren „Globalisierung“ wurde so verstärkt. Das siegreiche System schien leichtes Spiel zu haben. Doch die Bilanz sieht nach einem Jahrzehnt verheerend aus: Nicht nur die Rückkehr nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte prägte die 90er Jahre. Vor allem die Wirtschaft und das soziale Netz brach in den meisten „Reformstaaten“ völlig zusammen: Massenarbeitslosigkeit, Armut und Hunger sind die Folge.
Hand in Hand mit der ideologischen Offensive des Westens erlangten die USA auch die alleinige militärische Vormachtstellung: Zweimal Golfkrieg, Haiti, Somalia, Balkan, … Insgesamt brachten es die USA in einem Jahrzehnt auf 27 (!) Militärinterventionen. In den vier Jahrzehnten des Kalten Krieges war die USA im Vergleich dazu in „nur“ 12 Kriegen direkte Kriegspartei. US-Präsident Clinton hat im Jänner dieses Jahres eine Fortsetzung dieser Politik mit der Ankündigung, das nächste Verteidigungsbudget um 12 Milliarden Dollar zu erhöhen, deutlich gemacht. In den sechs darauf folgenden Jahren soll dieser Etat um insgesamt weitere 100 Milliarden  Dollar aufgestockt werden”. Der „Demokrat“ Bill Clinton knüpft damit an der Politik des ultrakonservativen US-Präsidenten Ronald Reagan an, der in den 80er Jahren versuchte, das größte Rüstungsprogramm seit Hitler umzusetzen.

Weltpolizei NATO

Eine konkrete Auswirkung der neuen Weltordnung ist, daß es der westliche Imperialismus nicht mehr nötig hat, die Zustimmung anderer Kräfte für seine Politik zu suchen. Der Imperialismus entzieht sich den Maßnahmen, die er selbst mitgeschaffen hat. Früher ging es darum, die Sowjetunion, ihre Verbündeten und China in der internationalen Politik zu ”disziplinieren”, bzw. einen manchmal notwendigen Konsens mit dem ”Ostblock” herzustellen. UNO, Sicherheitsrat mit Vetorecht und völkerrechtliche Verträge waren Ausdruck des „Gleichgewicht des Schreckens“ zwischen Ost und West. Dieses Gleichgewicht existiert nicht mehr. Die Rolle der NATO wurde und wird seit der Auflösung des Warschauer Pakts ”neu definiert”: Von einem Militärbündnis zur Weltpolizei. Diese ”Neudefinition” erfolgt stufenweise: Zunächst führte die NATO - und nicht UN-Blauhelme - verschiedene Operationen auf Grundlage ”großzügig” interpretierter UN-Resolutionen aus (wie z. B. im Golfkrieg). Inzwischen wird die UNO nicht mehr benötigt - die NATO kontrolliert sich selbst. Bestes Beispiel ist ihr Vorgehen am Balkan. Doch wer sollte sie auch kontrollieren?

Die UNO hat ihre ”Schiedsrichterfunktion” längst verloren. So sehr sich auch die verschiedenen UNO-Stellen bemühen, die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Institution für den Westen unter Beweis zu stellen - „UNO will Milosevic als Kriegsverbrecher anklagen“ (Kurier v. 25. 4. 1999) - mehr und mehr übernimmt die NATO ihr Aufgabenfeld und definiert dieses „neu”. Damit einher geht ein breiter Vertrauensverlust in die UNO, der auch rechten Populisten nützt: Die Forderung der US-Republikaner, UN-Zahlungen einzustellen, führen diesen Trend vor Augen.

Partnerschaft für den Frieden

Eine Institution, die schon jetzt eine Todgeburt darstellt, ist die NATO-“Partnerschaft für den Frieden“ (PfP), der die NATO, die Reformstaaten Osteuropas, Rußland, aber auch Staaten wie Österreich angehören. Die PfP ist eine Institution ohne Mitspracherecht für Nicht-NATO-Mitglieder und öffnet die Verteidungssysteme dieser Staaten für die NATO. Für die meisten Reformstaaten Osteuropas - sofern nicht in der „ersten Runde“ der Neumitglieder -  wird sie als Möglichkeit gesehen, in „das Vorzimmer“ der NATO zu gelangen. Rußland wurde sie als Möglichkeit einer gemeinsamen „Sicherheitspolitik“ angeboten - die prowestliche russische Regierung nahm dankend an. Angesichts des Jugoslawienkrieges steht sie vor den Trümmern ihrer Politik - und boykottiert zur Zeit alle Sitzungen. Potentielle „Gegenstimmen“, wie die Rußlands oder Chinas, müssen heute, weder im UN-Sicherheitsrat, noch anderswo mehr gehört werden. Zu groß sind wirtschaftliche Abhängigkeit und die Probleme im eigenen Land, als daß ein militärisches Eingreifen zu erwarten wäre. Der Weltsicherheitsrat und seine Veto-Regelung haben sich (spätestens seit April bewiesenermaßen) ad absurdum geführt. Alle potentiellen Gegner sind schwach oder abhängig – die Macht der NATO scheint gesichert. Und damit auch der alles bestimmende Part dieses Bündnisses: die USA.
Wie lange der Einfluß der USA auf Europa – auch militärisch – bestehen kann, wird von der wirtschaftlichen Entwicklung der drei großen Wirtschaftsblöcke (USA, EU, Japan/Asien) abhängen, sowie von der wachsenden Rolle des deutschen Imperialismus. Deutschland nimmt immerhin mit dem Jugoslawienkrieg zum ersten mal seit 1945 aktiv an einem Krieg teil. Die EU hat sich mit der WEU zwar einen Ansatz für ein Verteidigungssystem geschaffen - dieses ist aber nach wie vor als europäischer Arm der NATO definiert. Tatsächlich hat jede militärische Intervention in den letzten 10 Jahren zu Rissen und Spannungen im westlichen Bündnis geführt. Vor allem an der Jugoslawienkrise wurde das deutlich. Letztlich gelang es den USA immer, ihre Linie durchzuziehen. Im wesentlichen aufgrund der militärischen Schlagkraft der US-Streitkräfte und der Fähigkeit der US-Regierung zum entschlossenen und einigen Handeln. Unter den entsprechenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (Handelskriege) und einer wachsenden Rolle Deutschlands, könnten „europäische Interessen” (WEU) in Konflikt mit US-amerikanischen geraten.
Ein Auseinanderbrechen oder -driften der NATO ist ein mögliches Szenario. Jeder Staat hat seine eigenen Interessen, andere Einflußbereiche und Machtsphären. Das wird gerade bei jeder militärischen Auseinandersetzungen deutlich(er). Der Standard (24. / 25. 4. 1999) spricht von einer Allianz, wo „tiefe Meinungsverschiedenheiten“ zwischen Europäern und Amerikanern, sowie auch unter den europäischen Bündnispartnern, herrschen.
Zur Zeit beschwören die Herrschenden aller NATiOnen geradezu ihre Bündnistreue. ”No German Sonderweg” lautet in diesem Zusammenhang die Losung des deutschen Außenministers Fischer. Das ist zu einem großen Teil das Ergebnis des enormen Drucks von Seiten der Vereinigten Staaten. ”Null Möglichkeit, irgendetwas zu beeinflussen”, lautete das Resümee Fischers nach einem seiner ersten Staatsbesuche in Washington. Die Übermacht der USA nach 1989 hat dazu geführt, daß sie vor allem in Sachen Krieg mehr oder weniger schalten und walten kann, wie sie will. Sie trägt Kosten, sie stellt ihr überlegenes Militärinventar zur Verfügung, sie entscheidet. Der Rest der Welt scheint momentan dazu verbannt zu sein, in Abhängigkeit und Anerkennung dieser Weltordnung zuzusehen. Wie lange die USA dieses Übergewicht und die unangefochtene Führungsrolle noch halten können, ist eine der zentralen Fragen.
Krisenbewältigung als Konzept der Zukunft
Fünfzig Jahre nach ihrer Gründung will sich die Allianz ein neues strategisches Konzept zulegen. Das neue 27seitige Strategiepapier spricht eine deutliche Sprache: Es geht darum, „aktive Krisenbewältigung zu betreiben“, nicht mehr Verteidigungsbereitschaft, sondern um die Bewahrung „demokratischer Werte“ in und „über Europa hinaus“.
”Krisenbewältigung” nennt die NATO also ihren Zukunftsauftrag. Sie sieht sich heute mit einer Vielzahl von regionalen Krisen und Konflikten konfrontiert. Einige Konflikte bedrohen die Stabilität des Imperialismus nicht, andere schon. Bei letzteren wird unter dem Vorwand des „Weltfriedens“, „demokratischer Werte“, oder der „Menschenrechte“ eingegriffen. Es geht um beinharte Machtpolitik - nur so ist erklärbar, warum es offensichtlich wenig Rolle spielt, was in Eritrea passiert, was den KurdInnen widerfährt etc.. Im Gegensatz dazu befindet sich am Balkan zwar kein Öl, aber es liegt mit dieser Region ein Krisenherd mitten in Europa. Protektorate, Kontrollzonen und die Stationierung von „Schutztruppen“ sind die Ziele zur „Befriedung“ von Konflikten – eine (moderne) Form der Kolonialisierung.

Der Balkan als Bewährungsprobe

Tatsächlich hat die NATO bereits begonnen, ihr Konzept umzusetzen: Der Krieg am Balkan hat eine neue Ära eingeläutet. Es ist die erste Bewährungsprobe für die „neue NATO“ und gleichzeitig Ausdruck der neuen Welt“ordnung“. Der Vertrag von Rambouillet sah die Kolonisierung von Gesamt-Jugoslawien vor: „Das NATO-Personal soll sich mitsamt seiner Fahrzeuge, Schiffe, Flugzeuge und Ausrüstung innerhalb der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien inklusive ihres Luftraumes und ihrer Territorialgewässer frei und ungehindert sowie ohne Zugangsbeschränkung bewegen können“ (Apendix B § 8 des Vertrages). Mit dem Krieg im Kosova steht und fällt vieles, was unsere Zukunft ausmachen könnte: Die Nerven der NATO liegen „blank“ kommentiert die Presse. Der ehemalige EU-Koordinator für Wiederaufbau in Bosnien, Bildt, spricht von Bodentruppen oder einer Niederlage für die NATO: Bodentruppen seien „politisch notwendig, um die Verteidungsallianz zu retten“. Mißbräuchlich im Namen der Menschenrechte wird hier ein Angriffskrieg geführt; mit dem Ziel, „die Stabilität für den euro-atlantischen Raum zu sichern” (Der Spiegel). Die USA tragen bisher 80% der Kosten der wöchentlich 10 Milliarden Schilling teuren Militäraktion. Der Krieg ist teuer und schon entstehen Spannungen, wer die Rechnung bezahlen soll. Bereits jetzt beschwert sich der US-Verteidigungsminister Cohen über die „Mängel“, die sich während des Einsatzes bei den europäischen Militärs zeigten. Er verlangte „Umstrukturierungen in den Verteidigungshaushalten“ der Europäer, damit diese „glaubwürdig“ seien. Umgekehrt beklagen sich Deutschland und Österreich darüber, daß die meisten anderen Allianzmitglieder de facto keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Die ganze Diskussion ist ein Hohn angesichts dessen, daß die Armenhäuser Europas - Albanien und Makedonien - von der EU und der NATO gezwungen werden, die Auswirkungen der NATO-Schläge zu tragen.   
Kommt die NATO mit ihrem Vorgehen durch, so bedeutet das ein weiteres Verschieben der Kräfteverhältnisse zugunsten des Weltpolizisten USA und ihrer europäischen Hilfssheriffs. Der „Spiegel“ formuliert: „Die Diktatoren aller Länder blicken auf Kosovo” und stellt damit der NATO nicht nur einen Freibrief für ihr Handeln aus. Unterstellt wird, daß die Hauptleidtragenden der Schläge „die Diktatoren“ wären. Das Gegenteil ist der Fall: Opfer ist die Zivilbevölkerung. „Die Diktatoren“ werden politisch gestärkt, eingebunden oder durch neue ersetzt.
Doch noch ist für die NATO nichts gewonnen. Denn auch die Schwierigkeiten und Widersprüche, mit denen die Kriegsführer der Zukunft konfrontiert sein werden, werden uns dieser Tage vor Augen geführt. Die Interessen des Imperialismus sind alles andere als homogen. Griechenland und Italien haben z.B. andere Interessen am Balkan als die USA. So forderte erst kürzlich der italienische Staatschef Lamberto Dini ein Ende der Kriegshandlungen. Es wird immer offensichtlicher, daß die gewünschte uneingeschränkte militärische Allmacht eben ein Wunsch, aber nicht Realität ist. Zu wenig Inventar, Probleme bei Schlechtwetter, …. Die NATO hat sich mit ihrer Hoffnung auf einen schnellen Sieg offensichtlich verkalkuliert: Ohne den Einsatz von Bodentruppen scheint dieser Krieg nicht zu gewinnen zu sein. Ein Risiko, das kein NATO-Stratege eingehen wollte und die Allianz zerreißen könnte. Die Bandbreite eines solchen Einsatzes schwankt stark: Er würde vier Wochen bis sechs Monate (!) Vorbereitungszeit bedeuten und den Aufmarsch von 80.000 bis einer halben Million Soldaten notwendig machen. Ein solches Unternehmen würde eine massive Anti-Kriegsstimmung schaffen und könnte einen Flächenbrand am ganzen Balkan auslösen: „In Mazedonien brennen jetzt schon die Botschaften von NATO-Ländern“ („Format“). Einige europäische Regierungen (wie die deutsche) würden daran zerbrechen. Auf der anderen Seite: Scheitert die NATO jetzt, so würde das zumindest ein Aufschieben des geplanten Neukonzepts bringen, auch würde es einen Vertrauensverlust speziell für die USA bedeuten. Ein derartiger Einsatz ist für die nächste Zeit wäre so gut wie unmöglich

Und wie weiter?

Der Grat, auf dem die westliche Allianz unter US-amerikanischer Führung wandert, ist schmal. Die politisch und wirtschaftlich instabile Situation in vielen Regionen der Welt sorgt für Unruhe und Zündstoff. Eine Weltwirtschaftskrise würde viele schwelende Konflikte zum Ausbruch bringen und neue schaffen. Der Imperialismus braucht Waffengewalt, um sicherzustellen, daß am ideologischen Sieg von ´89 nicht gerüttelt wird. Krieg war schon immer - mit den berühmten Worten eines deutschen Generals - die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.
Die größte Stärke der NATO scheint derzeit jedenfalls die Schwäche ihrer Gegner zu sein. Milosevic und Co. sind zumeist keine „Gegner des Imperialismus“, wie es die Befreiungsbewegungen der Vergangenheit waren. Sie sind reaktionäre Regimes, die dem Imperialismus durch ihre Politik direkt in die Hände spielen.
Der imperialistischen Logik muß eine Bewegung der weltweiten Solidarität mit einem sozialistischen Programm gegenübertreten. Wir vertreten demgegenüber eine „sozialistische Logik“: Alles, was den Imperialismus schwächt und Gegenwehr gegen diese „Weltordnung“ unterstützt, unterstützen wir auch. Wir treten deshalb für die sofortige Auflösung der NATO und für den Austritt Österreichs aus der „Partnerschaft für den Krieg“ ein. Der Kapitalismus wird nie eine gerechte Weltordnung ohne Krieg und Unterdrückung schaffen können. Wir wollen in einer friedlichen Welt leben. Eine solche Welt müssen wir uns selbst erkämpfen.

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