Vorurteile über das „österreichische Wesen“

Die ÖsterreicherInnen sind weder besonders gemütlich, brav noch angepasst!
Sonja Grusch

Verschiedenen Nationalitäten werden gerne bestimmte Verhaltensweisen zugeschrieben. So sind die SüdeuropäerInnen angeblich besonders „heißblütig“ (in der Liebe wie in der Politik) und die ÖsterreicherInnen dafür gemütlich, brav und angepasst. Damit wird dann gerne „erklärt“, warum es hierzulande weniger Klassenkämpfe und weniger heftige Proteste gibt. Die Vorurteile stimmen nicht – und wo ein Funken Wahrheit existiert, hat es nicht mit genetischer Veranlagung, sondern politischer Tradition zu tun.

„Uns geht’s zu gut.“ Die rund eine Million Menschen (12 %), die hierzulande von Armut bedroht sind, sieht das wohl anders. Fast 500.000 sind arm, 300.000 können ihre Wohnung in diesem Winter nicht ausreichend heizen. Armut in Österreich heißt, kaum soziale Kontakte zu haben, sich den Schulskikurs der Kinder nicht leisten zu können, beengt in miesen Wohnungen hausen oder sich nur billiges, schlechtes Essen leisten zu können. Armut ist nicht absolut, sondern relativ – wird deshalb aber nicht als weniger dramatisch oder stigmatisierend empfunden. Falsch ist auch der Gedanke, dass, wenn es nur „wirklich schlimm“ wird, dies die Grundlage für Widerstand wäre. Wäre es so simpel, dann gäbe es in den Hungerregionen Afrikas permanent revolutionäre Erhebungen. Tatsächlich ist extreme Armut sogar ein Hindernis für Widerstand, weil zuerst einmal das unmittelbare Überleben gesichert werden muss. Richtig ist aber, dass Menschen, denen etwas weg genommen wird sich – zu Recht – dagegen wehren. Und das sehen wir auch bei uns. Massenproteste in der Steiermark gegen die geplanten Kürzungen gerade im Sozialbereich und wütende Proteste in Oberösterreich und Wien gegen die jeweiligen „Spitalsreformen“ sind nur einige Beispiele dafür.

„Die Leute sind so obrigkeitshörig.“ Das Vertrauen in die etablierte Politik sinkt in der Alpenrepublik genauso wie überall sonst. Selbst Gebrauchtwagenhändlern wird mehr Vertrauen entgegen gebracht, als PolitikerInnen (nur 9%). Die Stimmung ist wohl eher „die da oben sind doch alle die gleichen Verbrecher“ als „die da oben wissen schon, was sie tun“. Und doch können „die da oben“ weitermachen wie bisher. Das liegt daran, dass es an Alternativen fehlt. Viele LehrerInnen wissen z.B. dass die GÖD-Führung konservative Standespolitik macht. Doch sie wissen auch, dass sie ohne Gewerkschaft noch schlechter dastehen angesichts der geplanten Angriffe der Regierung (Stichwort: Nulllohnrunde und längere Arbeitszeiten). Sie unterstützen daher die GÖD weiter – nicht weil sie an deren Unfehlbarkeit glauben oder irgendwelche Sympathien für Neugebauer & Co. haben, sondern weil sie keine Alternative sehen. BürgerInneninitiativen gegen Tiefgaragen, Blockaden gegen Abschiebungen, Proteste gegen Sparpakete – alles Beispiele dafür, dass der herrschenden Propaganda der Obrigkeit nicht geglaubt wird.

„Bei uns gibt’s keine Tradition, sich zu wehren.“ Auch hierzulande gibt es eine sehr kämpferische Tradition fernab von Walzerromantik und Weinseligkeit: Eine Revolution der ArbeiterInnen 1848. Streiks gegen den 1. Weltkrieg (1918) und eine revolutionäre Welle für die sozialistische Republik (1918). Bewaffneter Widerstand gegen den (Austro)faschismus (1934). Massenstreiks gegen die Etablierung der Sozialpartnerschaft (1948-51). Wilde Streiks (1970er) und große Bewegungen gegen die Privatisierungspolitik (1980er). Die „Widerstandsbewegung“ gegen blau-schwarz 2000 und die große Streikbewegung 2003 und die Massenproteste durch LehrerInnen, SchülerInnen und Studierende im Bildungsbereich 2009. Es gibt also kein österreichisches Bravheits-Gen. Was es allerdings gibt ist eine Gewerkschaftsführung, die in ihrer staatstragenden Rolle aufgeht und Arbeitskämpfe scheut wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser. Kaum eine Bewegung der letzten 100 Jahre, die nicht von der (sozialdemokratischen) Gewerkschaftsführung gebremst, gestoppt oder ganz verhindert wurde. Und doch, trotzdem und oft auch dagegen, hat die Wut von ArbeiterInnen immer wieder Ausdrucksformen gefunden. Die absolute Mehrheit hat die MetallerInnenstreiks für „gerechtfertigt“ gehalten, sehr viele wünschen sich, dass ihre Gewerkschaft endlich auch kämpferischer wird. Wo die Tradition tatsächlich fehlt ist bei der unabhängigen Organisierung. Perfide ist, dass auch viele „Linke“ mit dem Schreckgespenst der „Spaltung der Linken“ versuchen, Menschen bei der sozialdemokratischen Stange zu halten. Die Hauptaufgabe ist also nicht der Austausch der Gene, sondern das Über-Bord-werfen alter Vorurteile.

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