Vor 10 Jahren: Der „Arabische Frühling“

Die Lehren aus dem „Arabischen Frühling“ ziehen, um in der neuen Protestwelle erfolgreich zu sein!
Oliver Giel

Vor 10 Jahren begann eine Welle von Protesten, Aufständen und Revolutionen, die als „Arabischer Frühling“ in die Geschichtsbücher einging. Ausgehend von Tunesien verbreitete sich diese revolutionäre Welle über Nordafrika und die Arabische Halbinsel und inspirierte Proteste im Iran, in Israel, Spanien, China und Ostafrika. Wie heute in Peru, Belarus, Chile und Hongkong war sie für demokratische Rechte, gegen Korruption und Armut.

Die Bewegungen in so verschiedenen Ländern zeigen, wie eng verflochten die Lebensbedingungen auf der Erde sind. Nicht nur das Kapital globalisiert sich, sondern auch der Widerstand. Immer wieder erheben sich Menschen irgendwo auf der Welt, weil sie sehen, dass die Verhältnisse, unter denen sie leben müssen, ihnen keine Perspektive, keine Zukunft, kein Leben bieten können. Jedoch müssen solche Bewegungen immer dort scheitern, wo sie die Grundlage der Verhältnisse nicht beseitigen wollen oder können: Die Klassengesellschaft. Dies ist in der „Arabellion“ geschehen: In neun Ländern wurde die Regierung gestürzt, neue Verfassungen erkämpft, die Macht lag auf der Straße. 10 Jahre später ist davon nur noch wenig zu sehen: Nur in Tunesien konnten die demokratischen Errungenschaften erfolgreich verteidigt werden. In Libyen, Syrien und im Jemen gibt es blutige Kriege zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen. In Ägypten regiert nach einem kurzen islamistischen Intermezzo das Militär. Und auf der Arabischen Halbinsel hat das Saudi-Königreich die Revolution im Keim erstickt. Die imperialistischen Interventionen von Frankreich, den USA und Russland – vorgeblich zur „Unterstützung der Freiheitsbewegung“ oder zum „Kampf gegen Terrorismus“, je nach dem, was der jeweiligen Macht dem eigenen strategischen Ziel dienlicher scheint – haben den Boden bereitet für Gruppen wie den IS. Die Revolutionen wurden von der religiösen Rechten gekapert, weil die Arbeiter*innenbewegung zu schwach war, um die Führung zu übernehmen.

Im Zuge jeder Revolution entsteht ein Machtvakuum. Die alte Macht ist gestürzt, eine neue erst im Entstehen. Dieser Zeitpunkt ist der einzige – wirklich demokratische –, in dem die Massen selbst entscheiden können, wem die künftige Macht zu dienen hat. Gelingt es den Massen nicht, die Macht zu ergreifen und sie zu nutzen, wird das Machtvakuum gefüllt von Teilen der alten herrschenden Klasse, ausländischen Mächten oder kriminellen Banden. Daher brauchen die Revolutionär*innen eigene Machtmittel, eigene Medien, eigene Organisationen, eigene Parteien, eigene Gewerkschaften, eigene Machtorgane, mit denen sie die politische und die ökonomische Macht erobern und verteidigen können. All dies fehlte im „Arabischen Frühling“ – und so wurden auch die Ursachen der Aufstände nicht beseitigt.

Seit zwei Jahren flammen in Nordafrika und dem Nahen Osten Proteste und Aufstände wieder auf, auf einer breiteren politischen Basis: Im Libanon formiert sich Widerstand gegen religiöses Sektierertum, im von Krieg und Terrorismus geschundenen Irak gegen Gewalt an Frauen, im Iran besetzen Arbeiter*innen die Zuckerfabrik Haft Tappeh. Der Ruf nach politischen Freiheiten wird mit sozialen Forderungen verknüpft. Die 27 Millionen Jugendlichen in Nordafrika und dem Nahen Osten fordern in Zeiten einer sich auch durch Corona verschärfenden Krise eine lebenswerte Zukunft ein. Die Arbeiter*innenklasse setzt Schritte zur Organisierung, und bildet, etwa im Jemen, unabhängige Gewerkschaften oder im Libanon Fabrikkomitees. Und heute stehen die Frauen an der vordersten Front. Sie lassen sich weder mit nationalistischen und religiösen Phrasen abspeisen noch von der Repression des Staates oder islamistischen Banden einschüchtern.

Überall, wo diese Kämpfe wachsen, sinkt das Vertrauen nicht nur in die Herrschenden, sondern auch in die religiösen Institutionen. Das vergangene Jahrzehnt hat der Jugend gezeigt, dass sie vom politischen Islam nichts zu erwarten hat, außer rechte Schlägertruppen im Dienst der Herrschenden wie die Hamas in Palästina, die Hisbollah im Libanon oder die Dschandschawid im Sudan. Es wird daher für religiöse Rechte schwerer werden, diese von einigen als „2. Arabischer Frühling“ bezeichneten Proteste zu kapern. Dennoch werden einige der Herrschenden versuchen, sie als Werkzeug zur Errichtung einer konterrevolutionären Diktatur zu nutzen. Um dies zu verhindern, müssen die revolutionären Bewegungen die Lehren von vor 10 Jahren anwenden, dürfen niemandem vertrauen als sich selbst. Keine ausländische Macht und keine Fraktion der herrschenden Klasse wird sie aus Krieg, Terror und Krise führen.

Der „Arabische Frühling“ war kein isoliertes Phänomen. Beginnend mit der Wirtschaftskrise und der Occupy-Bewegung wehrten sich die Menschen global gegen die Grausamkeiten eines Systems, das nicht das ihre ist. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir heute.

 

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