Ist der Islam antikapitalistisch?

Wo steckt in den Islam-dominierten Ländern das Potential, den Imperialismus zu besiegen?
Franz Neuhold

Oft wird dem Islam als Religion ein grundlegender Antikapitalismus unterstellt. Verantwortlich dafür soll das im Koran mehrfach beschriebene Zinsverbot sein. Die Idee: Wer Schulden hat, dürfe nicht ausgepresst werden. Daraus folgt die Annahme, islamisch geprägte Länder könnten keinen modernen Kapitalismus mit Kreditsystem entwickeln. Dies ist aus mehreren Gründen falsch. Erstens sind vom Zinsverbot weder Handelsspannen, Erlöse aus Vermietung, ausgezahlte Dividenden noch Rohstoffe oder Gold betroffen. Zweitens gibt es mehrere Umgehungsmöglichkeiten: Konsumkredite werden in Form des Leasing ausgeführt, während für die Aufstockung von Investitions-Kapital zusätzliche Gesellschafter ins Boot geholt werden können. Noch wichtiger ist die Tatsache, dass in keinster Weise der Verkauf menschlicher Arbeitskraft eingeschränkt oder verboten ist. Dies ist jedoch der Kern des Kapitalismus.

Es gibt einen noch grundsätzlicheren Einwand: Eine Gesellschaft besteht aus mehr als der Religion (bzw. einer Variante davon) eines Teils oder Großteils ihrer Bevölkerung. In Bezug auf den Katholizismus wird auch niemand ernsthaft behaupten, dass aufgrund der Moralvorschriften des Alten Testaments eine bürgerliche Rechtsordnung heute unmöglich sei. Hier wird jedoch mitunter eingewendet, dass in „den islamischen Ländern“ die Säkularisierung (Verweltlichung bzw. Zurückdrängen der Religion) viel schwächer sei als in „den westlichen Ländern“. Davon abgesehen, dass es an konsequenter Säkularisierung mitunter auch im Westen mangelt, sind die Gründe für diesen Trend aufschlussreich.

Der größte Teil der islamischen Welt wurde lange Zeit kolonial ausgebeutet. Diese Abhängigkeit wuchs seit Entstehung des Imperialismus im Rahmen der „Neuaufteilung“ der Welt und des Kapitalexports im 20. Jahrhundert, v.a. angetrieben durch Erdöl, andere Rohstoffe und die strategische Lage. Das stellte von Beginn an eine Barriere für industriellen Fortschritt und die Entwicklung der Gesellschaften dar. Trotz Einbindung in den kapitalistischen Weltmarkt blieben vielerorts mittelalterliche Strukturen bestehen.

Die religiösen Führer gingen entweder in völlige Opposition zum Imperialismus (nicht aber zum Kapitalismus) und nutzten den Islam, um Massenbewegungen für ihre Interessen zu mobilisieren (Beispiel: Mullahs im Iran), oder es kam zu einem Arrangement mit ihm, was jedoch keinesfalls eine bürgerlich-demokratische Entwicklung sicherstellte. Vielmehr festigten sich halb-feudale Diktaturen als Bündnispartner des Westens (z.B. auf der Arabischen Halbinsel).

Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg war von Aufständen und Revolutionen in den kolonialen Ländern geprägt. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges und der Existenz des Stalinismus orientierte sich eine Reihe von Bewegungen an Moskau. Gleichzeitig spielten religiös geprägte Organisationen und Parteien eine gewisse Rolle. Sie dominierten jedoch erst, nachdem die linken und stalinistischen Parteien durch ihre nicht-revolutionäre Politik große Chancen vergaben. Sie hielten die Überwindung des Kapitalismus für „verfrüht“ und paktierten entweder mit Teilen der bürgerlichen Eliten oder mit religiösen Führern. Dadurch konnte jedoch weder die Demokratisierung abgesichert noch der Großgrundbesitz aufgehoben oder die Abhängigkeit vom Imperialismus beendet werden.

Die Balance verschob sich – gleichsam als Strafe für diese Fehler – hin zum Fundamentalismus. Dessen Wachstum wurde von imperialistischen Regierungen teils sogar gefördert – als Gegengewicht zu linken oder unberechenbaren nationalistischen Kräften. Mit den aktivsten und reaktionärsten Fundis kämpften US-Truppen auch schon mal Hand in Hand, um den Einfluss der UdSSR zurückzudrängen (Afghanistan 1980er Jahre). Doch ab 1990 änderte sich alles. Die militärischen Aktivitäten des Westens seit dem Irakkrieg ließen die Dämme brechen. Der islamische Fundamentalismus ist jedoch nicht das Ende der Geschichte.

Die aktuelle Lage in Ägypten zeigt, dass neben den Moslembrüdern, diversen bürgerlichen Kräften und der Anhängerschaft des alten Regimes auch die Chancen auf das Wachstum einer eigenständigen ArbeiterInnen-Bewegung vorhanden sind. Auch im Islam bestehen soziale Klassen und somit entgegengesetzte Interessen. Durch Religion kann dies zeitweilig überdeckt werden. Doch das funktioniert nicht dauerhaft. Ein politischer Grundsatz der gegenwärtig und künftig entstehenden ArbeiterInnen-Bewegungen könnte lauten: Die Rückschrittlichkeit der Gesellschaften einschließlich Fundamentalismus und die Instabilität des Kapitalismus sind zwei Seiten derselben Medaille.

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